Ganzheitliche (Tier-)Medizin ist “in”, aber der Begriff wird oft gebraucht, ohne genauer definiert zu werden. Was ist genau damit gemeint, und unterscheidet sie sich von der Schulmedizin? Anläßlich des 2. Internationalen Kongresses für Ganzheitliche Tiermedizin sprach DER HUND mit Dr. Heidi Kübler, der 1. Vorsitzenden der Gesellschaft für Ganzheitliche Tiermedizin e.V., Obersulm-Willsbach.

DER HUND: Wie definieren Sie den Begriff “Ganzheitliche Tiermedizin”?

DR. KÜBLER: “Ganzheitliche Tiermedizin” umfaßt alle beim Tier angewandten Diagnose- und Therapieverfahren – sowohl schul- als auch regulationsmedizinische. Zum Begriff “Regulationsmedizin” später mehr.
“Ganzheitliche Tiermedizin” ist nicht beschränkt auf die “Regulationsmedizin”. Sie sieht sich als Gesamtschau aller in der Tiermedizin angewandten Diagnose- und Therapieverfahren. Ziel der “Ganzheitlichen Tiermedizin” ist es, die für das einzelne erkrankte Tier optimale Therapie zu finden. Dabei spielt es keine Rolle, ob ein Verfahren der Schul- oder der Regulationsmedizin zur Anwendung kommt.
So macht es wenig Sinn, z.B. ein gebrochenes Bein mit homöopathischen Mitteln behandeln zu wollen, bevor die Bruchenden nicht wieder in ihre normalen Stellung gebracht worden sind. Das geschieht oft operativ durch Nagelung oder Plattung. Zur Nachbehandlung und Wundheilung können dann sehr gut homöopathische Medikamente eingesetzt werden.

DER HUND: Wenn Sie für das, was Sie tun, den Begriff “ganzheitlich” in Anspruch nehmen, wie würden Sie dann die Arbeit anderer Tierärzte bezeichnen, die dieses Attribut nicht in ihrem Praxisschild führen?

DR. KÜBLER: Das ist eine schwierige Frage. Tierärzten ist nicht erlaubt, den Begriff “ganzheitlich” auf ihrem Praxisschild zu fahren. Es gibt keine Fachtierarztbezeichnung, keine Zusatzbezeichnung, d. h., es gibt keine Ausbildung in “ganzheitlicher Tiermedizin”.
Tierärzte können nach dem Studium der Tiermedizin und nach einer mehrjährigen Zusatzausbildung eine Zusatzbezeichnung in Akupunktur, Biologischer Tiermedizin oder Homöopathie erwerben. Die Akademie für tierärztliche Fortbildung der Bundestierärztekammer bietet hierfür Kurse und Seminare an.
Die Anforderungen zum Erwerb einer Zusatzbezeichnung sind durch die Weiterbildungsordnungen für Tierärzte geregelt. Neben der Zusatzausbildung wird in der Regel der Nachweis der Anwendung des entsprechenden Verfahrens in der Praxis verlangt sowie eine mündliche

DER HUND: Verdienen Ihrer Ansicht nach nur Naturheilverfahren die Bezeichnung “ganzheitlich”?

DR. KÜBLER: Nein, auch ein Schulmediziner kann “ganzheitlich” arbeiten. Unter “ganzheitlichem” Arbeiten verstehe ich, Symptome eines kranken Tieres im Zusammenhang mit der Krankheit einzuordnen. So kann Durchfall als Symptom einer unkomplizierten Darmentzündung auftreten, es kann aber z. B. auch im Zusammenhang mit einer ernsthaften Bauchspeicheldrüsenerkrankung vorkommen.
Ein ganzheitlich arbeitender Tierarzt wird nicht nur die Symptome behandeln, sondern abklären, woher diese Symptome kommen. Ob dies durch schul- oder regulationsmedizinische Verfahren geschieht, spielt primär keine Rolle.

DER HUND: Welche Naturheilverfahren empfiehlt lhre Vereinigung?

DR. KÜBLER: Die GGTM möchte zunächst einmal den Begriff “Naturheilverfahren” durch den Begriff “Regulationsmedizin” ersetzt wissen. Denn die klassischen Naturheilverfahren sind definiert als die Verfahren der Hydro-, Bewegungs-, Phyto-, Ernährungs- und Ordnungstherapie, die auf Sebastian Kneipp zurückgehen. Akupunktur und Homöopathie würden demnach nicht zu den Naturheilverfahren gehören. Unter dem Dach der “Regulationsmedizin” können alle Therapieformen von der Akupunktur über die Anthroposophie, Bach-Blütentherapie, Homotoxikologie, Homöopathie, Laser-/Magnetfeld-, Neural-, Ozon-/Sauerstoff-, Phyto- bis hin zur Zytoplasmatischen Therapie vereint werden.
Kennzeichnend für Verfahren der Regulationsmedizin ist, daß sie regulierend eingreifen, daß sie die körpereigene Selbstregulation unterstützen. d.h., Regulationsmedizin hilft dem Organismus, sich selbst zu heilen.

DER HUND: Gelten diese als wissenschaftlich belegt?

DR. KÜBLER: Es gibt inzwischen sehr viele wissenschaftliche Untersuchungen zum Nachweis der Wirksamkeit regulationsmedizinischer Verfahren. Viele Untersuchungen wurden über Akupunktur und Homöopathie durchgeführt. Nicht zuletzt deshalb wird die Akupunktur von der WHO (World Health Organisation) als Schmerztherapie empfohlen. Leider sind diese Untersuchungen in der Schulmedizin oft unbekannt oder werden von ihr nicht anerkannt. Vorurteilsfreie Forschungen zur Regulationsmedizin wurden und werden bisher an den tiermedizinischen Universitäten nur in ganz geringem Umfang durchgeführt.

DER HUND: Inwieweit gilt die Homöopathie als Naturheilverfahren?

DR. KÜBLER: Homöopathie gilt nicht als Naturheilverfahren. Die Homöopathie ist eine eigenständige Therapieform mit entsprechenden theoretischen Grundlagen. Um mit Homöopathie kompetent arbeiten zu können, bedarf es einer langjährigen Ausbildung, da es sehr viele unterschiedliche homöopathische Mittel gibt.

DER HUND: Mit welchen Verfahren prüfen Sie den therapeutischen Erfolg oder Mißerfolg?

DR. KÜBLER: Für mich ist eine regulationsmedizinische Therapie dann erfolgreich, wenn es dem Tier langfristig subjektiv besser geht als vor der Behandlung. Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob sich Laborwerte oder im Röntgenbild sichtbare Veränderungen verbessern. Den Erfolg einer regulationsmedizinischen Therapie ermittle ich – neben Methoden der Schulmedizin; wie z.B. Laboruntersuchungen – durch Befragen der Besitzer. Ein Tier mit degenerativen Veränderungen am Bewegungsapparat sollte wieder schmerzfrei laufen, ein leberkrankes Tier wieder mit Appetit fressen, ohne Erbrechen oder Durchfall. Auch die normalen täglichen Aktivitäten werden von mir abgefragt. Allerdings sind dies alles Dinge, die man nicht “messen” kann, sie sind subjektiv.

Gerade bei chronisch kranken Tieren, bei denen bewährte Therapieverfahren nicht zur Besserung führen oder bei denen bereits Organstrukturen irreversibel geschädigt sind, geht es nicht in erster Linie darum, das Tier zu heilen. Es geht vielmehr darum, dem Tier und seinem Besitzer mit vertretbarem Aufwand ein lebenswertes Leben zu ermöglichen.
Mißerfolge gibt es auch bei regulationsmedizinischer Behandlung. Die Kriterien zur Beurteilung können ebenfalls objektiv (meßbar – Laborwerte) und/oder subjektiv sein: Dem Tier geht es trotz Behandlung schlechter, es kann nicht mehr laufen, es will nicht mehr fressen. In diesem Bereich besteht noch sehr viel Forschungsbedarf.

DER HUND: Sie haben zur Pressekonferenz anläßlich des Kongresses unter dem Slogan eingeladen “Tierärzte können mehr” – mehr als wer?

DR. KÜBLER: Der Slogan sollte in erster Linie ausdrucken, daß Tierärzte das ganze Spektrum der schul- und regulationsmedizinischen Diagnose- und Therapieverfahren anbieten. Sie sind deshalb meiner Meinung nach am besten in der Lage, abzuschätzen, ob und wann eine regulations-medizinische und ob und wann eine schulmedizinische Behandlung bei einem kranken Tier angezeigt ist. Wenn Sie die gängigen Printmedien sichten, werden Sie feststellen, daß die meisten Artikel zu regulationsmedizinischen Therapieverfahren von Tierheilpraktikern verfaßt werden, so daß Tierhalter oft der Meinung sind, nur Tierheilpraktiker wurden diese Therapieverfahren anbieten.
Leider ist Tierheilpraktiker kein definiertes Berufsbild, so daß jeder, der das möchte, sich so nennen kann. Die Qualität der angebotenen Ausbildungen ist sehr unterschiedlich. Doch das weiß der Tierbesitzer in der Regel nicht. Deshalb der Slogan “Tierarzte können mehr” – mehr als nur Schulmedizin und mehr als in der Öffentlichkeit allgemein bekannt ist.

DER HUND: Sind die von Ihnen genannten Naturheilverfahren eine Alternative zu den von der sogenannten Schulmedizin angewandten Prophylaxe- und Therapiemethoden?

DR. KÜBLER: Als Alternative im Sinne eines Entweder/Oder ist die Regulationsmedizin nicht zu verstehen. Vielmehr bieten regulationsmedizinische Verfahren zusätzliche Prophylaxe- und Therapiemöglichkeiten. Sie machen Prophylaxe- und Therapiemethoden der Schulmedizin nicht überflüssig. Im Sinne einer ganzheitlichen Behandlung ist es meiner Meinung nach sinnvoll, schul- und regulationsmedizinische Vorgehensweisen miteinander zu verknüpfen.

Lassen Sie mich dies an einem Beispiel erläutern: Wurmbefall bei Hund oder Katze. Da in der Regulationsmedizin auch Parasiten ihre Daseinsberechtigung haben, ist es nicht möglich, ein Tier damit völlig wurmfrei zu bekommen. Das Darmmilieu kann aber so beeinflußt werden, daß die Parasiten nicht überhand nehmen und ihrem Wirt nicht schaden. Im übrigen ist bei Wildtieren regelmäßig ein Parasitenbefall festzustellen.
Da die Menschen mit ihren Haustieren oft sehr eng zusammenleben und Würmer potentiell gefährlich sind (wandernde Spulwurmlarven beispielsweise können den Menschen schädigen), mochte kein Tierbesitzer ein verwurmtes Tier haben. Statt einer regelmäßigen schulmedizinischen Entwurmung ist es sinnvoll, alle drei bis vier Monate eine Kotprobe (Kot von drei bis vier Tagen) mikroskopisch auf Wurmeier zu untersuchen. Sind Wurmeier vorhanden, wird das Tier mit einem entsprechenden schulmedizinischen Präparat entwurmt, sind keine Wurmeier festzustellen, ist keine Entwurmung notwendig. Neigt ein Tier zu wiederholtem Wurmbefall, schließt sich an die Entwurmung eine regulations-medizinische Therapie zur Verbesserung des Darmmilieus an. Stellt der Besitzer zwischen den Kotuntersuchungen Würmer oder Wurmteile im Kot fest (bei mäusefressenden Katzen können sich alle vier bis sechs Wochen Bandwurmglieder im Kot oder am After finden lassen), wird mit einem entsprechenden Präparat entwurmt. So sieht für mich dann ganzheitliche Prophylaxe und Therapie aus.

Erschienen in: Der Hund – 09/2002