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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 2/1997

Psycho-Physische Atemtherapie nach Middendorf

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Violeta Mikic

r9702_atDer Atem ist eine große Kraft in uns, und gemäß seiner Bedeutung haben wir lange Zeit gebraucht, uns und unseren Körper so weit zu entwickeln, daß wir heute des Atmens innewerden und seine endlosen Möglichkeiten zu erkennen vermögen. Ich spreche hier für das Abendland, denn in der östlichen Welt war der Atem schon vor vier Jahrtausenden ein Lebenselixier und im alten Ägypten wurden die Pharaonen durch Atem geheilt.

Die Menschen Europas begannen sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts für den Körper zu interessieren. Sie turnten, trieben Gymnastik und Sport, tanzten und erfuhren mehr und mehr, wie wichtig es war sich körperlich zu bewegen, dadurch ihr Leben gesünder zu gestalten und sich außerdem ganzheitlich besser zu entwickeln. Auch die Naturwissenschaft erforschte den menschlichen Körper intensiv. Die bewunderungswürdige Wissenschaft jedoch betrachtet, schaut an, mißt und beobachtet – während nur dasjenige für unser Leben bewirkend wird, was der Mensch auch durch weitere Komponenten seines Daseins erlebt und erfährt. So finden wir heute gemäß dem menschlichen So-Sein viele verschiedene Wege mit Körper, Seele und Geist gleichermaßen wachsam und achtsam umzugehen. Das wachsende Bewußtsein richtet sich insbesondere auf das Körperliche. Über Jahrtausende, die vom männlichen Geist geprägt wurden, erschien uns der Körper als Gegenstand, der uns in jeder Hinsicht zu dienen hatte. Er blieb uns weitgehend unbewußt (leider noch bis in unsere Zeit hinein – daran konnte auch die naturwissenschaftliche Forschung nichts ändern). Und erst seit einigen Jahrzehnten entdecken und erfahren wir, daß Körper, Seele und Geist einander bedingen und durchdringen, daß sie zum Gleichgewicht wachsen müssen und damit zu einer Einheit. Hier wandelt sich der Begriff Körper zum Ausdruck „Leib”.

Unser Leib beginnt sich seiner selbst bewußt zu werden – ein wesentlicher, bedeutender Abschnitt im Werdegang des menschlichen Lebens. Wir erfahren die hohe Intelligenz, die von jeder Zelle repräsentiert wird. Wir erfahren die „Stimme” des Leibes, die mit unserer Verstandestätigkeit nichts zu tun hat. Sie wurzelt im Ursprung des Lebens und ergänzt die eingefahrenen Gleise des Denkens. Wir erfahren den Leib, und zwar über die Empfindungsfähigkeit. Spüren und Empfinden, das gehört zu einem unserer Sinne, der uns im Alltag wenig bewußt wird: der Tastsinn. Durch das sensible Nervensystem körperlich verankert, ist er ungeheuer vielfältig und ebenso umfangreich wie die anderen vier Sinne: Sehen, Hören, Schmecken und Riechen. Wollen wir intensiv spüren und empfinden, kommt eine weitere, nunmehr seelische Komponente hinzu, das ist die Sammlung. Sammeln zu sich selbst – einmal ganz bei sich selbst sein, heißt: erfahren, was innen ist, Gefühle, Gedanken, Probleme, aber auch Ruhe, Frieden und Vertrauen. Sammeln wir uns zum eigenen Leib, wird unser Spürsinn, unsere Empfindungsfähigkeit bewußter. Gleichzeitig sind wir mit Seele und Geist verbunden. Diese Art von Sammlung bedeutet anwesend sein – mein Wesen ist gesammelt in Seele, Geist und Leib.

Wir sammeln uns also und empfinden gleichzeitig und erfahren dadurch, daß wir bewegt werden – vom Atem. Atem dringt in uns ein und bewegt uns dort, wohin wir gesammelt sind. Sind wir im gesamten Körper gesammelt und empfinden, bewegt uns unser Atem ganzheitlich. Sind wir nur in einer Gegend unseres Leibes gesammelt, so bewegt uns der Atem dort dominant. So erfahren wir unseren Atem: In Hingabe empfangen wir ihn, in Achtsamkeit entlassen wir ihn, um in Ruhe abzuwarten, bis er neu eindringt. Wir führen unseren Atem nicht. Wir lassen ihn kommen, wir lassen ihn gehen und warten, bis er von selbst wiederkommt. Er bringt mir das mit, was ich bin und werde. Mein Eigenwille ist nicht gefragt. Ich ordne mich seiner Eigenart unter und nehme dankbar entgegen, was er mir bringt. Ich kann meine unbewußten Kräfte zulassen und spüre bald den schöpferischen Grund des Ursprungs. Das Ursprüngliche, das heilt und jene Kräfte bringt, die meinem Willen nicht zugänglich sind. So empfangen, umfaßt der erfahrbare Atem jedoch auch das Bewußte unseres Daseins. Hier können wir heiter werden und froh, wenn wir durch unseren zugelassenen Atem durchlässig geworden sind und wir wohlgespannt unseren Alltag erleben können.

An dieser Stelle möchte ich zwei andere Atemweisen beleuchten, denen wir immer begegnen. So werde ich oft gefragt, wieso geben Sie Atemunterricht? Atmet nicht jeder Mensch von Natur aus? „Gewiß”, sage ich dann, „Wir alle atmen von Natur aus”. Gemeint ist die unbewußte Atemfunktion, die jeden von uns am Leben erhält. Auch jetzt in dieser Minute atmet jeder in einer Weise, die er braucht, um seine Lebensfunktionen aufrecht zu erhalten. Die unbewußte Atemfunktion nährt, heilt und hilft uns immer – aber unbewußt. Sie ist – wie unser ganzheitliches Dasein – allen Einflüssen von innen und außen ausgesetzt. Sind wir zum Beispiel traurig und bekümmert, fühlen wir uns eingeengt und „können kaum noch atmen”. Unser Rhythmus, unser Atem-Rhythmus ist dann gestört und unsere Lebenskräfte sind geschwächt. Da die Atemfunktion unbewußt ist, können wir sie nicht zu unserer Hilfe einsetzen. Läßt sich die Störung nicht beheben und währt über Jahre hinweg, verliert der unbewußte Atem seine Wandlungsfähigkeit und verfestigt sich zu Fehlformen, die vielfältigen Krankheiten den Weg bereiten.

Und nun die dritte Atemweise. Sie wird vom Willen regiert und ist zielgerichtet. Wir sind dabei wach und aufmerksam aus der Instanz des betrachtenden Denkens. Hier üben wir nach festgelegten Regeln und versuchen auf diese Weise unser bewußtes Dasein zu bereichern. Alle festgeformten Atemübungen suchen ein Ziel und einen Zweck. Sei es zum Aufbau der Gesundheit, sei es ein vorgeschriebener Weg zu Vergeistigung. Sie entstammen dem suchenden Denken. Der übende Mensch möchte mehr aus sich machen. Das ist der Weg einer Richtung und des Werdens. Hier gibt es auch den Unterschied zwischen richtig und falsch – im Gegensatz zum erfahrbaren Atem, der immer in das So-Sein eingebettet ist. So können wir sagen, der willentliche Atem ist verstandesbewußt. Der unbewußte Atem ist lebenstragend, aber eben unbewußt. Der erfahrbare Atem umgreift unser unbewußtes und bewußtes Dasein. In Hingabe und Achtsamkeit erforschen wir seine Gesetze. Wir erfahren das Weit und Schmal der Atembewegung als Raum. Spüren wir doch deutlich, daß der eindringende Atem unsere Körperwände weit werden läßt, die im Ausatmen wieder zusammenschwingen in die Ausgangslage.

Wachsen, Werden und Entstehen des Atems

Hier möchte ich Ihnen einen kleinen Einblick in das Wachsen, Werden und Entstehen dieses Empfindungsbewußtseins – des erfahrbaren Atems – geben. Wir sprechen zum Beispiel gern vom Atemraum – was ist damit gemeint?

Unsere Muskulatur dehnt sich, wenn wir einatmen und schwingt in die Ausgangslage zurück, wenn wir ausatmen. Diesen Vorgang nennen wir gern der Kürze halber „weit” und „schmal”. Es ist Urbewegung, die uns lehrt, unseren Leib raumhaft zu empfinden, und diese Urbewegung ist der Atem. Atem ist ja die Grundbewegung des Lebens – Atem ist die zentrale Bewegung jedes lebendigen Organismus, ob klein oder groß, einfach oder komplex gebaut. Diese Grunderfahrung geht so weit, daß wir sogar nicht lebenden Strukturen spontan Lebendigkeit unterstellen, wenn sie eine Art von Pulsation zeigen, – so tief ist die Erfahrung von Leben mit der Atembewegung verknüpft.

Entwicklungsgeschichtlich gehört Atem und Bewegung untrennbar zusammen. Ein ständiges Durchströmtwerden mit dem frischen, sauerstoffhaltigen Medium war die Grundlage dafür, daß auch große und sehr komplexe mehrzellige Lebewesen entstehen konnten. Jede Zelle, auch die zutiefst innen gelegene, muß genauso gut und gleichmäßig versorgt werden wie eine äußere, dem lebensspendenden Medium näher liegende. So wurde die eigenständige Bewegung des Organismus – also eben die Atembewegung – zur Grundlage seiner Entwicklung.

Wie kommt es nun zu dieser Atembewegung?

Es gibt nur sehr wenige unabhängige und eigenständige Impulsgeber im Organismus. Einer davon ist der Sinusknoten des Herzens, – der andere ist das Atemzentrum in der Tiefe des Hirnstamms. Dieses Zentrum, das eigentlich aus mehreren, komplex vernetzten Zentren besteht, ist selbst eingebettet in eine große Nervenzellgruppe des Stammhirns, die zum zentralen Teil des ganzen Zentralnervensystems gehört: die Formatio Reticularis, ein dicht gewebter netzartiger Verbund von Nervenzellen, in den von allen Seiten praktisch alle Informationen einströmen, die irgendwo im Körper oder im Gehirn entstehen, sowohl aus den Sinnesorganen als auch aus allen Empfindungsbereichen und ebenfalls aus allen höheren Gehirnregionen.

Hier im Stammhirn werden alle diese so verschiedenen Informationen miteinander verknüpft und regulierend aufeinander bezogen und abgeglichen, – und von hier aus entsteht aus der Gesamtheit dieser Vernetzung eine Kaskade von Impulsen, die sich nach allen Seiten über den Organismus ergießt und auf den verschiedensten Ebenen den Grundtonus des Organismus herstellt und aufrechterhält.

Hier ist das Atemzentrum als ein anatomisch ununterscheidbarer Teil der Formatio Reticularis eingewoben und verknüpft damit den Atem auf das Innigste mit der vegetativen Regulation, mit der Motorik, mit unseren Empfindungen und unserer Bewußtseinslage.

Jeder kleine Reiz von außen oder von innen, Berührungen, Temperaturänderungen (bei jeder morgendlichen Dusche läßt sich das nachprüfen!), Blutdruckschwankungen, Hormonausschüttungen, alles verändert die Art und Weise zu atmen und macht damit den Atem zu einem der empfindlichsten Seismographen, über den der Organismus verfügt.

Im Atem findet sich alles wieder und wird in einen großen organischen Zusammenhang eingebunden, und vom Atem geht eine organisierende Kraft aus, die das Leben zu einer Einheit synchronisiert.

Nach diesem kurzen Blick in die Physiologie – zurück in die Erfahrungsweisen unseres Atmens:

Die fünf Atem-Räume

Im ewigen Weit und Schmal der Atembewegung entstehen die Atemräume wie erwähnt. Wir unterscheiden fünf Räume:

Da gibt es den unteren Raum. Er umfaßt Becken und Beine. Und seine Kraft aus dem Atem erweist sich als tragend, antreibend und vital. Symbolisch gesehen ist er wie die Erde – die Erde für uns. Wir gewinnen viel tragende Kraft aus ihm. Wenn wir im Alltag um uns blicken, sehen wir Menschen, die ihre Lasten, die inneren und die äußeren, mit dem Brustkorb und den Schultern tragen. Sie wirken hochgezogen und ihre Beine wirken leblos und unbewußt. Sie können sich nicht mehr einlassen auf diese untere Kraft, die ihnen eigentlich blutvolles Leben, Wärme und die Vitalität schenkt, die nicht entbehrt werden kann, wenn wir uns zur Person entfalten. Wir können uns ruhig, sicher und im Dasein verwurzelt fühlen, wenn unsere Atembewegung den unteren Raum mit Kraft füllt, die im Ausatem nach oben steigt und die oberen Leibräume trägt. Sie bietet ein fundiertes Gewicht gegen allzu hektisches Tun. Im unteren Raum können wir uns aufgehoben fühlen. Denn wir spüren, daß uns die Erde trägt und wir uns auf ihr niederlassen können.

So bildet der untere Raum die Basis für den mittleren Raum. Er entsteht etwa zwischen Nabelhöhe und 6. Rippenring und sein wichtigster leiblicher Bestandteil ist das Zwerchfell. Zwerch ist ein Ausdruck aus dem Mittelhochdeutschen und meint „zwischen”. Das Zwerchfell ist ein schwingendes Segel zwischen dem unteren und dem oberen Leibbereich. Wie umfangreich ist seine Bedeutung – wie wichtig, daß es wirklich zu einem schwingenden Segel wird! Wie wichtig auch, daß wir seine Tätigkeit kennen und pflegen, um uns gesund und entwicklungsfähig aufzubauen. Symbolisch gesehen erscheint hier der Mensch in seinem persönlichen Werden. Die Kraft, die die Atembewegung im mittleren Raum weckt, unterscheidet sich stark von der Kraft des unteren Raumes. Sie bewegt sich horizontal in die Außenwelt und verdichtet sich im Zurückschwingen zu einem Zentrum zwischen Nabel und Brustbein, das wir Mitte nennen.

Über dem mittleren Raum und der Mitte entfaltet sich der obere Raum. Er gleicht dem Wipfel eines Baumes, der von Wurzel und Stamm getragen wird. So kann zum Ausdruck kommen, was der atmende Mensch in sich bewegt hat. Das Schöpferische, das aus der Tiefe quillt, wird hier gestaltet. Liegen doch hier unsere fünf Sinne und die kompakte Intelligenz des Gehirns. Der obere Raum umfaßt den Schultergürtel, Arme, Hals und Kopf und damit ist noch einmal gesagt, wie wichtig es ist, Schultern und Arme von unten her tragen zu lassen. Die bewegende Kraft des Atems meint hier das Seelische und Geistige, das sich in jeder Äußerung darlegt.

Gewiß trennen wir diese drei genannten Räume nicht, sondern wir unterscheiden sie nur, wenn sie ihre Kräfte ausdrücken. Sie bilden zusammen unseren Innenraum, den wir atmend spüren können. Hier sei auch der Außenraum erwähnt, der uns allseitig umgibt und nicht weniger Einfluß auf unser Dasein hat als der Innenraum.

Diese fünf Räume können wir atmend erfahren. Dabei steht das Dehnen an erster Stelle. Wir dehnen die Gliedmaßen und alle Körperwände und erhalten dabei immer den Einatem. Natürlich achten wir dabei auch auf das Ausatmen, aber wenn wir entdecken, daß, wenn wir uns dehnen, sich immer der Einatem einstellt, haben wir ein natürliches Gesetz des Atmens entdeckt.

Hände dehnen…

Immer wieder bekommen wir einen intensiven Einatem. Wir können ihn auch durch eine andere Maßnahme erfahren: die Druckpunktarbeit.

(Praktisch: Fersen, Zehen, ganzer Fuß, Fingerkuppen)

(Und nun die Arbeit mit Vokalatemräumen: – Praktisch)

So wird der Leib atmend durchlässig, bis sich in den Bewegungen aus dem Atem Seele, Geist und Leib als Ganzes ausdrücken können. Der Übende wird vom Atem gleichsam in die Bewegung getragen – es kommt alles von selbst und wirkt wie eine eigene Sprache. Alle Zustände des Lebens drücken sich darin aus, antworten auf dringliche Fragen, lassen Neues erkennen: kurz, sie sind schöpferisch. Wir sind angeschlossen an unseren unbewußten und bewußten Daseinsgrund. Die Bewegungen aus dem Atem sind das Eigentliche des erfahrbaren Atems, und wenn sie allmählich in die verfestigten Gewohnheiten des Alltags eindringen, beginnen Freiheit und Freude.

Das steht dem „alten Denken” entgegen, das in unserem Leib und allen Erscheinungsformen nur das Gegenständliche sieht. Gegenstände kann man willentlich benutzen, darüber verfügen, sie verändern – wir suchen im Gegenstand nicht mehr das Lebendige, vergessen es – vielleicht stört es uns sogar? Wir sind der Materie verhaftet – durch unseren zielgerichteten Verstand. Durch ihn haben wir die verbindenden Kräfte, die Gleichgewicht schaffen, verloren. Der Verstand kontrolliert und handelt aus dem Willen. Er ist der direkte Zugriff aus unserem Ego, das, wenn es nicht verbunden ist mit dem Wesentlichen, von den lebendigen Wurzeln der Erfahrung isoliert ist. Dadurch entstehen Vordergründigkeit, Oberfläche und Leere im Seelisch-Geistigen. Wir brauchen uns nur umzusehen in unserer heutigen Welt, die so viel Not und Ausweglosigkeit zeigt, um dessen gewahr zu werden. Notwendend ist allein unsere lebendige Innenkraft, die aus dem Urgrund unseres Seins wirkt. Wenn wir vom Gleichgewicht sprechen, tritt uns auch unsere Welt der Gegensätze entgegen. Wir sind darin eingespannt – eine Lebensspannung, auf die wir nicht verzichten können, die unser Leben ausmacht.

Zum Beispiel: Wir kennen den Tag – wir kennen die Nacht. Das Harte und das Weiche, das Helle und das Dunkle, das Männliche und das Weibliche. Den letzten Gegensatz möchte ich herausgreifen. Unsere männlich betonte Welt hat Großartiges hervorgebracht. Jetzt aber ist notwendig geworden, daß das Weibliche erscheint, daß es gesehen und gefördert wird, sozial ebenso wie aus dem schöpferischen Innern. Das Weibliche ist hohe Intelligenz. Es äußert sich als inhaltsreiche Kraft, als Substanz. Wir können das auch in einer bestimmten Weise zu atmen erleben. Das bisherige wird dadurch reicher gemacht – nicht zerstört. Über „Substanz” möchte ich später mehr sagen.

Haben wir unseren Leib und unsere drei Atemräume kennengelernt und wahrgenommen, spüren wir, daß sich unsere Haltung verändert hat. Haltung ist nicht allein die Sache des Skeletts und der Muskulatur. Sie tritt am meisten in Erscheinung, wenn sie lebendig ist. Damit ist gemeint, daß die schwingende Kraft der Atembewegung den wesentlichen Teil der Aufrichtung mitbewirkt. Wenn es mir gelingt, mich für die Atembewegung durchlässig zu machen, entsteht eine Kraft – Atemkraft -, die uns jeden Augenblick aufrecht erhält. Sie richtet uns auf und belebt uns neu. „Haltung” umschließt ja auch das seelische Leben, die geistigen Einflüsse und eben unseren Leib, den sie immer wieder ins neue Gleichgewicht bringt. Haben wir eine gute Haltung, erscheinen wir als einer, der steht oder einer, der sitzt oder einer, der geht.

Wir erscheinen in unserem Leib. Wir haben das Instrument, auf dem unser Atem spielen kann. Unser Atem macht dieses Instrument durchlässig, das heißt, er löst die verkrampften Muskelgegenden und spannt die erschlafften neu. Wir gewinnen einen wohlgespannten (eutonischen) Leib, dessen vielfältiges kompliziertes Gefüge aller Lebensfunktionen einer stabilen Gesundheit und einer ganzheitlichen Harmonie entgegenwachsen kann. Lassen wir uns zusammensinken, gehen schlampig und stehen verbogen, sind wir unterspannt und hemmen unsere Körperfunktionen. Geschieht das jahrzehntelang, ist es einleuchtend, daß daraus vielfältige Krankheiten entstehen können. Richten wir uns jedoch auf und lassen den Atem als ganzheitliche bewegende Schwingung durch, sind wir nicht nur in kurzer Zeit „gehobener” Stimmung, sondern wir schaffen uns neue Lebenskräfte.

An dieser Stelle sei besonders unserer Wirbelsäule gedacht. Sie ist ja unser schwingender Stab, der uns im wesentlichen aufrecht erhält. Sie ist bis heute leider fast allen Menschen weitgehend unbewußt. Das führt dazu, daß sie so gut wie gar nicht beachtet wird. Überlastet, mißbraucht in jeder Weise, falsch eingesetzt und unbeachtet wird sie schließlich schmerzhaft und bringt die überaus zahlreichen Erkrankungen zutage, die oft durch verschobene Wirbel eingeleitet worden sind.

Die Basis der Wirbelsäule ist zunächst Kreuzbein und Becken, aber darüber hinaus die tiefe Gründung der Beine und der Füße am Boden. Hier schon, unter den Fußsohlen, entscheidet sich eigentlich das Schicksal der Wirbelsäule: Kann sie trotz der Lasten, die sie tragen muß, federn und schwingen, oder muß sie sich krampfhaft verfestigen, weil das Körpergewicht zu stark auf den Fersen liegt? Die 24 schwingenden oder federnden Wirbel sind ja abgepolstert durch sogenannte Zwischenwirbelscheiben, die aus Knorpel bestehen und jeweils in ihrer Mitte einen weichen Gallertkern besitzen. So kann die Wirbelsäule Stoß und Druck von oben und unten und von allen Seiten abfangen, sofern sie in das Gleichgewicht des gesamten Körpers eingebettet ist. Wir erreichen das sofort, wenn wir uns mit unserem Gewicht auf die Großzehballen begeben und dadurch die Fersen sowie alle Gelenke erleichtern. Vermögen wir dann noch zu empfinden, wie die Wirbelsäule, ja der ganze Leib zum Scheitel hin in die Höhe wachsen kann und vermögen wir daraus einen alltäglichen Zustand zu machen, so haben wir Grundlegendes für den großartigen Bau unserer Wirbelsäule getan und umgehen viele Schwierigkeiten.

Das Wunderbare ist, daß wir jederzeit mit der Pflege unserer Wirbelsäule beginnen können. Kleinere Wirbelverschiebungen, zu starke Wölbungen der Brustwirbelsäule oder zu starke Höhlung der Lendenwirbelsäule, wie auch Rückenschwächen jeder Art können allein dadurch verändert werden, daß wir unser Körpergewicht naturgemäß und damit gleichgewichtig verlagern. Auch hier können wir unseren Atem hilfreich erfahren. Stehen wir nämlich wirklich auf unseren Großzehballen und bauen unser gesamtes Körpergewicht darüber auf, so durchschwingt uns unsere Atembewegung von Kopf bis Fuß in angenehmster Weise – verlagern wir jedoch unser Gewicht auf die Fersen, müssen wir die Knie festigen, damit wir nicht nach hinten umkippen, der Rücken versteift sich total, und unser Atem bleibt in den nicht kontrahierten Gegenden hängen – das sind der Brustkorb im Gebiet des Brustbeins und ein Stück der Bauchdecke.

Haltung ist Gleichgewicht zwischen Geistigem, Seelischem und Körperlichem, zwischen Skelett, Organen, Muskulatur und sämtlichen Kreisläufen. Haltung ist Gleichgewicht, das wir als Leichtigkeit und Mittenkraft erfahren.

Das gilt auch für den Rhythmus im Atem. Das Atmen als rhythmisches Geschehen erscheint in jedem Menschen individuell. Wenn wir einatmen, können wir darin eine aufschwingende Kraft erfahren, die sich im Ausatem entsprechend äußert. In der Ruhe nach dem Ausatmen können wir uns hingegeben und geborgen fühlen, bis sich der neue Einatem von selbst wie eine Wiedergeburt meldet. Das kann dann ein deutlicher Impuls sein!

Sind wir im Ein- und Aus-Atmen sowie in der Ruhe nach dem Ausatmen, die wir ja Pause nennen, ausgewogen, so entsteht allmählich eine hohe Qualität in unserem Atem. Die allzu vielfältigen Eindrücke von innen und außen aber sorgen dafür, daß dem Atmenden manches zur Ausgewogenheit fehlt. So kann ein Einatem zu flach, ein Ausatem zu lang, eine Atempause zu kurz sein. Unser Atemrhythmus zeigt sich äußerst vielfältig, da er wie gesagt individuell abläuft und entsprechend störbar ist.

Atemrhythmus ist immer Lebensrhythmus. Ein Mensch kann in einen zu schnellen oder auch in einen zu langsamen Rhythmus geraten, der sich dann in allen seinen Lebensäußerungen darstellt und sicher nicht dazu beiträgt, ihn glücklicher zu machen. Mein Atemrhythmus ist mein Lebensfundament!

Atem wirkt aber nicht nur in mir selbst, indem er mich frisch macht, heilt, mir mehr Lebenssinn gibt und meine Probleme lösen hilft. Innerhalb des Übens am Atem können wir auch mit einem oder mehreren Partnern arbeiten. Hier wandeln sich alltägliche unbewußte Seinsweisen in der atmenden Zuwendung. Wie oft sprechen Menschen während oder nach dem gemeinsamen Atmen davon, daß sie Schmerzen hatten, bedrückt, problembeladen, aufgebracht und zornig oder traurig waren.

So lautete die Aussage einer Kurs-Teilnehmerin: „Schon, als ich mich zu mir sammelte, fühlte ich mich leichter. Und als ich mich ganz auf meinen Atem einließ und mich meiner Partnerin zuwandte, kamen neue Gedanken und Einfälle. Ich war nicht mehr ängstlich und beklommen. Ich wurde sehr ruhig und sicher. Das gelingt aber nur, wenn ich mich wirklich dem Atem überlasse.”

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