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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 6/1997

900 Jahre Hildegard von Bingen (1098-1179)

Cover

Hildegard von Bingen, Ausschnitt aus einer Miniatur (Buchmalerei) des Codex Latinus
Hp Peter Germann

“Der Schöpfer hat die Gestirne, Wind, Luft, Erde, Feuer und Wasser um der Ehre des Menschen willen erschaffen und zu seinem Schutz.
Einen anderen Halt hat der Mensch nicht. Ehrt er den Bestand der Welt nicht, dann gerät er in die Bedrohung durch die Dämonen und wird aus dem Schutz der Engel entlassen.”

(H, De operatione Die)

Eine der bedeutendsten Frauen des christlichen Abendlandes ist Hildegard von Bingen, auch “Prophetissa teutonica” genannt. Als zehntes Kind wurde sie 1098 als Tochter des Ritters Hildebert von Bernsheim und dessen Gemahlin Mechthild bei Alzey geboren. Wie damals üblich, kam das zehnte Kind in die Obhut eines Klosters. Dies geschah auch mit Hildegard im Alter von acht Jahren; sie kam in das Benediktinerinnen-Kloster auf dem Disibodenberg unter der Leitung der Gräfin Jutta von Sponnheim. Hier erhielt sie eine klostergemäße Ausbildung. Nach dem Tod der Jutta von Sponnheim wurde Hildegard in das Amt der Äbtissin gewählt.

Von Kindheit an hatte Hildegard Visionen und Eingebungen, die sie im wachen Zustand erfuhr, ohne dabei in Ekstase zu fallen. Erst als Jugendliche wurde ihr bewußt, daß andere Menschen anscheinend diese Gabe nicht haben und so hielt sie Stillschweigen über das, was sie sah, bis zu ihrem 43. Lebensjahr. Zu diesem Zeitpunkt erhielt sie den göttlichen Auftrag, das, was sie wahrnahm, niederzuschreiben und ihr erstes Werk “Sci vias” (Wisse die Wege) entstand, gefolgt von zwei großen weiteren Visionsschriften “Liber vitae meritorium” (Das Buch der Lebensverdienste) und “Liber divinorum operum” (Das Buch der göttlichen Werke).

Noch vor Vollendung ihres ersten Werkes zog sie mit ihren Nonnen aus dem zu klein gewordenen Kloster 1147 auf eine Neugründung auf dem Rupertsberg um. Theologen, Bischöfe, Kardinäle und 1147 auch Papst Eugen III. auf einer Synode in Trier beschäftigten sich mit ihren Werken und ermunterten sie, ihre Visionen weiterhin niederzuschreiben. Doch damit ist Hildegards Schaffen bei weitem noch nicht abgeschlossen.

Die Mönche Gottfried und Theoderich berichten zu ihren Schriften: “Auch offenbarte sie in prophetischem Geist einiges über die Natur der Menschen, der Elemente und der verschiedenen Geschöpfe, und wie durch sie dem Menschen zu helfen sei…”

Dies sind die beiden medizinischen Hauptwerke Hildegards, “Causae et curae” oder “Liber compositae medicinae” (Ursachen und Behandlung der Krankheiten) und die “Physica” oder “Liber simplicis medicinae” (Heilkräfte der Natur). Nach Hildegards eigenen Angaben entstanden diese beiden Schriften zwischen 1150 und 1157.

Die “Causae et curae” ist in fünf Unterbücher eingeteilt, die sich, je nach Zuordnung, mit den Elementen, Temperamenten, der Säftelehre, Ursprung und Entstehung von Krankheiten, Zeugung und Geburt, Embryologie sowie allgemeine Ernährungs- und Gesundheitshinweise befassen. Weiterhin umfaßt sie eine umfangreiche Pathologie und Therapie- und Diagnosemaßnahmen. Die “Physica” ist in neun Bücher unterteilt und beschreibt etwa 500 Kräuter und Bäume, Tiere sowie Edelsteine und Metalle, die sich zur therapeutischen Brauchbarkeit eignen. Sie enthält weiterhin etwa 2000 Rezepturen und Verwendungshinweise.

Hildegard von Bingen stellte sechs goldene Lebensregeln auf:

  1. Lebensenergie schöpfen aus den Lebenskräften der Natur (Viriditas)
  2. Gesunde und ausgewogene Ernährung aus den Heilkräften der Lebensmittel (Subtilitäten)
  3. Gesunder Schlaf und Traumregulation zur Regeneration überstrapazierter Nerven
  4. Arbeit und Muße im harmonischen Gleichgewicht
  5. Fastentage, Aderlaß und Schwitzbad zur Entschlackung
  6. Stärkung der seelischen Abwehrkräfte durch eine optimistische Lebenseinstellung auf der Basis von 35 positiven seelischen Heilmitteln (Tugenden)

Der sechste Punkt ist sehr interessant, denn es gibt eine eigene hildegardsche Psychotherapie, in der, ähnlich wie bei Edward Bach, negativ-archetypische Verhaltensweisen beschrieben werden und deren Gegenmaßnahmen, um aus diesen Zuständen wieder herauszukommen. Ähnlich wie in der chinesischen Hellbunde ist das gesamte System in eine Elementelehre eingebunden. Bei Hildegard werden vier Elemente beschrieben: zwei “stoffliche”, nämlich Erde und Wasser und zwei “geistige”, Luft und Feuer. Erst das ausgewogene Zusammenspiel zwischen diesen vier Faktoren ergibt Gesundheit.

Auch Heilung vollzieht sich in vier Bereichen und ihre Ansätze sind im wahrsten Sinne “ganzheitlich”:

  1. Der göttliche Bereich
  2. Der kosmische Bereich
  3. Der körperliche Bereich
  4. Der seelische Bereich

Auf diese Weise werden nicht nur die sichtbaren Symptome einer Krankheit kuriert, sondern man leistet einen Beitrag zur Heilung des Menschen in seiner Gesamtheit: “In allen Geschöpfen, den Tieren, den Vögeln, den Fischen, den Kräutern und den Fruchtbäumen liegen geheimnisvolle Heilkräfte verborgen, die kein Mensch wissen kann, wenn sie ihm nicht von Gott selber offenbart werden.”(H)

Die Abtei St. Hildegard, Eibingen
Nun ist die Hildegardmedizin uralt und gleichzeitig ganz neu. Erst in den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts hat sich der österreichische Arzt Dr. Gottfried Hertzka, der im Frühjahr 1997 mit über achtzig leider verstorben ist, die Mühe gemacht, die Rezepturen und sonstigen Anweisungen nach und nach auszutesten. So entwickelte sich in den letzten vierzig Jahren langsam die Hildegardmedizin. Auch heute ist es noch eher eine Ausnahme, daß in den naturheilkundlichen Praxen diese Medizinrichtung systematisch angewendet wird, von einigen Verordnungen mal abgesehen. Doch wer begreift, daß es sich hier um ein in sich geschlossenes System abendländischer Prägung handelt und nicht um eine rein historisch zu sehende Faktensammlung des Hochmittelalters, der kann von der Vielfalt und Ganzheit dieser Richtung erheblichen Nutzen ziehen!

Sie gibt wichtige Hinweise zu aktuellen Krankheitsbildern wie Krebs oder Umweltgift-Belastungen (Klage der Elemente). Eine differenzierte Phytotherapie wird beschrieben, teilweise mit Pflanzen, die sonst nicht angewendet werden und ein ausgeklügeltes Ausleitungsverfahren mit einem eigenen Aderlaß und Phaenomenanalysen, die neben den gängigen Parametern Hinweise auf Disposition und Diathese geben. Weiterhin beinhaltet sie eine ausgeklügelte Diätetik und eigene Fastentheorien, eine eigene Edelsteintherapie und eine umfassende Psychotherapie. Die Hildegardmedizin ist mit anderen Verfahren der Naturheilkunde kombinierbar. Von 1158 bis 1171 unternahm Hildegard von Bingen vier Predigtreisen quer durch Deutschland. Da auch ihr Kloster auf dem Rupertsberg zu klein wurde, gründete sie 1165 ein neues in Eibingen. Sie selbst blieb auf dem Rupertsberg, besuchte aber bis ins hohe Alter zweimal wöchentlich ihre Nonnen im Kloster Eibingen. Hildegard von Bingen hatte Kontakt zu allen Persönlichkeiten des Hochmittelalters, über Papst Eugen, Bernhard von Clairvaux bis hin zu Kaiser Friedrich I., der massive Ermahnungen von ihr hinnehmen mußte. 1178 wird das Interdikt über ihr Kloster verhängt, weil sie einen exkommunizierten Edelmann auf ihrem Friedhof begraben hatte – auch dies mußte wieder aufgehoben werden.

Nach einem reichen und erfüllten Leben stirbt Hildegard von Bingen am 17. September 1179. Zu ihrer weiteren Hinterlassenschaft gehören Musik- und Theaterstücke, eine reichhaltige Korrespondenz und bis heute noch nicht entschlüsselte Werke in einer eigens entwickelten Geheimschrift. 1998 ist ein großes Hildegardjahr – ein Grund mehr, sich mit dieser interessanten Persönlichkeit auseinander zu setzen.

Literatur:
Hildegard von Bingen: o Causae et curae o Physica o Im Feuer der Taube – Die Briefe

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