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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 3/1998

Immobilität im Alter

Cover

Alternativmedizinische Betrachtungen unter besonderer Berücksichtigung der Therapie nach Thomas Hanna

Der Mythos vom Altern

“Wen die Götter lieben, der stirbt jung” heißt es in der Antike. Hat der Mensch aber das Pech, von den Göttern nicht geliebt zu werden, dann wird er also alt. Die Frage ist nur: ab wann wird er alt und wie wird er alt? Für das “Wann” haben die Mediziner – wie so oft – bestimmte Parameter festgelegt: das Senium bestimmt die Position der Schulmedizin!
Für die Mediziner hat Altern, wie man sieht, eine pathologische Signifikanz. Kommt ein älterer Mensch in die Sprechstunde mit Beschwerden, die nicht eindeutig diagnostiziert werden können, muß das Alter als Erklärung herhalten.
Dieser Mythos vom Alter wird von älter werdenden Menschen bereitwillig übernommen. Bietet er doch ein bequemes Alibi für Inaktivität und Immobilität. Dies aber hat böse Folgen: die Beschwerden verstärken sich zusehends, und es kommen weitere hinzu.

Die mit fatalistischer Ergebenheit bekundete Bereitschaft älterer Menschen, sich zu schonen, hat nicht nur keinerlei therapeutischen Effekt, sondern kann sogar gefährlich, wenn nicht tödlich sein. Denn Kraftpotentiale, die nicht aktiviert werden, verkümmern mit all den sich daraus für den Gesamtorganismus ergebenden Konsequenzen: ein Kräfteverfall ist unausweichlich. Knochen, die nicht belastet werden, verlieren ihre Festigkeit. Muskeln, die nicht bewegt werden, atrophieren. Lungen, die nicht durchlüftet werden, führen dem Körper nicht genug Sauerstoff zu. Gehirnzellen, die nicht regelmäßig gefordert werden, verkümmern.

Körperliche Inaktivität und ihre Folgen

Statt die diversen körperlichen Funktionen, die wir von der Naturgeschenkt bekommen – oder die wir als Kinder erworben haben, kräftig zu trainieren, lassen wir sie verkümmern – “ein Musterbeispiel für geplantes Veraltern”, wie Thomas Hanna (1) so schön sagt. Während Kinder eine Treppe hochstürmen, fahren wir Erwachsene mit dem Fahrstuhl; während Kinder über einen Zaun springen, gehen wir, sogar einen Umweg in Kauf nehmend, darum herum; während Kinder auf dem Kopf stehen, sitzen wir auf dem Hosenboden in Sesseln; während Kinder herzhaft lachen, verziehen wir mal gerade ein paar Gesichtsmuskeln.

r9803_ia1 Richtig wäre es, alle Funktionen, die wir einmal gelernt haben, weiter auszuüben. Denn Funktionen, die nicht ausgeübt werden, gehen verloren. In dem Zusammenhang ist sicherlich eine Langzeitstudie (Dauer: 10 Jahre) an 268 Personen im Alter von über 60 Jahren interessant. Danach waren die Inaktiven mit zweieinhalb Mal höherer Wahrscheinlichkeit im Jahr bettlägerig krank als die Aktiven. Die Studie erbrachte, daß Erkrankungshäufigkeit und körperliche Inaktivität in einem wesentlich direkteren Zusammenhang stehen als Erkrankung und die vielzitierten Zivilisationskrankheiten (Rauchen, Fettleibigkeit).

Die Folge der Immobilität und der Inaktivität ist das, was wir üblicherweise als altersbedingte Krankheiten bezeichnen. Die verschiedenen Spielarten sind uns vertraut: der am Stock gehende Mann; das vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzende Mütterchen; der nach vorne gebeugte Mittfünfziger, der geht, als trüge er eine zentnerschwere Last; der noch nicht mal sechzigjährige, der, nachdem er fünf Treppenstufen hochgestiegen ist, völlig außer Atem ist; die fünfzigjährige Frau, die ständig über Müdigkeit und Erschöpfung klagt.
Alle diese Menschen haben die Probleme nicht, weil sie alt sind, sondern weil sie, wie gesagt, zu wenig Bewegung in ihrem mehr oder weniger langen Leben hatten.

Daß der moderne Zivilisationsmensch einen ungewöhnlich hohen Prozentsatz seines Lebens in geschlossenen Räumen, auf Stühlen, auf Sofas und in Sesseln sitzend, zubringt, ist allgemein bekannt und wird von einigen Medizinern, vor allem aber von Heilpraktikern und Sporttherapeuten, beklagt. Daß eine durch mangelnde Bewegung gekennzeichnete Lebensform zu den unterschiedlichsten orthopädisch angegangenen Problemen führt, derentwegen sich die Betroffenen dann in Behandlung begeben, ist notorisch. Man schaue sich nur einmal die Krankheiten des rheumatischen Formenkreises im Wartezimmer eines Orthopäden an.

Der schulmedizinische Deutungssatz

Diagnostisches Lieblingsmittel der Orthopäden, vor allem wenn es um Rückenbeschwerden geht, ist das Röntgengerät. Mit seiner Hilfe werden Verschiebungen der Wirbel oder Abnutzungen der Bandscheiben festgestellt. Gängige Schlußfolgerung des Arztes: die genannten Affektionen sind die Ursache für die Schmerzen. Was aber, wenn das Röntgenbild keinerlei signifikante Befunde der vorgenannten Art erbringt und – der Patient dennoch über große Schmerzen klagt? In dem Fall werden irgendwelche Entzündungsprozesse oder Einbildung bzw. Hypochondrie des Patienten oder psychisch oder genetisch bedingte Ursachen verantwortlich gemacht.

Da viele Menschen sich angewöhnt haben, das für wahr zu halten, was andere Menschen, vor allem wenn es sich um sog. Experten handelt, ihnen sagen, bemerkt kaum jemand den Irrtum, der sich z.B. hinter der Behauptung, der aufrechte Gang sei der Grund des Übels, verbirgt. Als ob die Natur auf ihrem langen evolutionären Weg sich eine Fehlkonstruktion geleistet hätte!

Auch ist bisher noch keine Erklärung von medizinischer Seite erbracht worden für die Tatsache, daß bei Naturvölkern Rückenschmerzen so gut wie unbekannt sind. Gerade bei Naturmenschen müßten Wirbelsäulenprobleme doch geradezu vorprogrammiert sein. Vorausgesetzt, man glaubt der landläufigen schulmedizinischen Deutung, derzufolge Probleme des menschlichen Bewegungsapparats die Folge von Degeneration und Verschleiß sei.

Fassen wir kurz zusammen: die Ursache für die überwiegende Zahl der von Orthopäden behandelten Affektionen ist weder der aufrechte Gang des Menschen noch sind es irgendwelche den Bewegungsapparat betreffende obskure Anomalien oder degenerative Prozesse.

Der alternative Deutungssatz

Der Grund für die Schmerzen im Nacken, im Kreuz und an den Gelenken, für die Spannungskopfschmerzen, für Wirbelsäulenverkrümmungen (z.B. Lordose, Xyphose) und für Schiefhaltungen der verschiedensten Ausprägung sind fast ausschließlich die Muskeln. Und zwar sind die Muskeln, wie man vermuten könnte, nicht zu schlaff, sondern sie sind im Gegenteil verspannt, verkrampft und fühlen sich bretthart an. Der Arzt merkt das natürlich nicht, weil er seine Patienten ja nicht mehr anfaßt, sondern sich auf die Befunde stützt, die er mittels Apparaturen gewinnt. Geräte können selbstverständlich nicht die Beschaffenheit des Muskels anzeigen. Das heißt: die Schulmedizin untersucht nicht das richtige Gewebe.

Ein gesunder Muskel ist entgegen einer weitverbreiteten Meinung nicht hart, sondern weich. Auch der durchtrainierte Muskel eines Sportlers ist im Erschlaffungszustand weich; der Muskel ist nur dann hart, wenn er kontrahiert ist.

Eine harte Bauchmuskulatur verursacht vielfältige Probleme. Bei tief im Gelenk empfundenen Schmerzen erweisen sich die am Gelenk ansetzenden Muskeln als hart und druckdolent. Und auch der im Kopf empfundene Spannungsschmerz hat seine Ursache in den verspannten Nacken-, Hals- und Kopfmuskeln.

Die dauerverspannten Muskeln ziehen die Wirbelsäule schief, so daß es im Laufe der Zeit zu Veränderungen (Abnutzung, Verschiebung der Bandscheiben) führen kann.

An den Gelenken führt die Dauerkontraktion der Muskeln dazu, daß der Knorpel geschädigt wird. Die Schädigung kann im weiteren Verlauf so stark sein, daß die Knochen in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Folge: Arthritis und schließlich gar Arthrosen. Übrigens ist die Erosion des Gelenkknorpels, die bei der Arthrose eine Rolle spielt, nicht das, was schmerzt. Der Knorpel kann mangels Schmerzrezeptoren gar keinen Schmerz hervorrufen. Der Schmerz rührt, wie gesagt, von den dauerverspannten Muskeln her.

Je nach Lokalisation können dauerverspannte Muskeln direkt Nerven abklemmen. Es kommt zu nervalen Beschwerden (Kribbeln, Taubheitsgefühl, Schmerz). So kann z.B. eine Dauerkontraktion des Musculus piriformis den Ischiasnerv so irritieren, daß es zu den gefürchteten Ischiasbeschwerden kommt. In den seltensten Fällen sind verrutschte Bandscheiben, die eine Nervenwurzel der Lendenwirbelsäule einquetschen, dafür verantwortlich. Diese von den Orthopäden häufig gestellte Erklärung ist in dem Fall eine Fehldiagnose.

Weder die Bandscheiben noch die Knochen sind in den meisten Fällen die Schmerzverursacher (allenfalls bei malignen Prozessen schmerzt der Knochen selbst).

In der Schulmedizin ist es üblich, Patienten mit Rückenschmerzen zu röntgen. Häufig zeigen die Röntgenbilder der Untersuchten Bandscheibenschäden. Aus diesem Sachverhalt wird dann ärztlicherseits geschlossen, daß diese Schäden die Ursache für die Schmerzen seien. Das Merkwürdige: auch Menschen ohne akute Schmerzzustände haben, wie deren Röntgenbilderzeigen, deformierte Bandscheiben. Und was noch merkwürdiger ist: es gibt Patienten, deren Wirbelsäule auf dem Röntgenbild verheerend aussieht, die aber keine Schmerzen haben.

Lösung dieser Merkwürdigkeit: nicht die Wirbel und nicht die Bandscheiben sind die Schmerzauslöser, sondern die dauerkontrahierten Rückenmuskeln. Denn die pressen die Bandscheiben zusammen und bringen die Wirbel in eine Fehlstellung. Und auch nach einer Operation an der Wirbelsäule ändert sich nichts an der Tatsache, daß die Rückenmuskulatur nach wie vor verspannt ist; und eben deshalb hat der Operierte weiter Schmerzen.
Wie ist die Verspannung zu lösen?

Die alternative Therapie

Diese Therapie ist von dem bereits anfangs erwähnten Thomas Hanna entwickelt worden. Er hat die Ansätze von Moshé Feldenkrais (2) weitergeführt.

Grundsätzlich lassen sich Bewegungen des Skeletts, z.B. der Arme oder der Beine, nur mit Hilfe von Muskeln ausführen. Wenn wir eine Tasse zum Munde führen, bedarf es dabei des Zusammenspiels zweier Muskeln: der eine, der Agonist, wird kontrahiert (wird kürzer und hart),der andere Muskel, der Antagonist, wird entspannt (wird länger und weich).Solche Bewegungen laufen teils willkürlich, teils unwillkürlich. Die willkürlich ablaufenden Bewegungen werden vom sensomotorischen Cortex gesteuert. Das fortlaufende Zusammenspiel von sensorischer Information (= das Aufnehmen von Sinnesreizen durch das Zentralnervensystem) und motorischer Steuerung (= das Ausführen von Bewegungen auf Veranlassung des Zentralnervensystems) wird in der Neurophysiologie als Feedbacksystem (Rückkoppelungssystem) bezeichnet; dieses System arbeitet in sich geschlossenen Regelkreisen.

Für die automatischen oder halbautomatischen Bewegungen sind tieferliegende Hirnschichten verantwortlich; hier sind Gewohnheiten und Reflexe gespeichert, die sich unserem Bewußtsein entziehen. Unter anderem werden in diesen tiefen Hirnarealen auch (Bewegungs-) Muster gespeichert, die von Gefühlen (der Freude oder der Angst) ausgelöst werden. Die Gefühle versetzen bestimmte Muskeln in eine bestimmte Spannung. Mit Hilfe hochempfindlicher Elektroden wurde die elektrische Aktivität der Muskelkontraktion gemessen. Das Ergebnis solcher Elektromyogramme (EMG) erbrachte, daß die EMG-Spannung stieg, wenn der Proband mit einer anspruchsvollen Aufgabe beschäftigt war, bei der Angst vor dem Versagen im Spiel war. War die Aufgabe erledigt, fiel die EMG-Spannung wieder auf das normale Niveau ab. Gefühl und Muskelspannung stehen in einem festen Korrelat.

Ein anderes Experiment zeigt ein bedeutsames Phänomen. Dem Probanden wurde eine spannende Geschichte vorgelesen; dabei wurde die EMG-Spannung der Stirnmuskeln gemessen. Mit fortlaufendem Vorlesen stieg die Muskelspannung weiter an. Als die Geschichte ihren Höhepunkt erreicht hatte und ihrem versöhnlichen Ende zustrebte, löste sich die Muskelspannung, die sich kontinuierlich aufgebaut hatte, abrupt auf und kehrte auf Normalwerte zurück. Eine kleine Variante des Experiments erbrachte indes etwas Überraschendes: wurde die Geschichte in der Mitte abgebrochen war bei der betreffenden Versuchsperson noch Stunden danach die aufgestaute Muskelanspannung vorhanden. Die Versuche zeigen das enge Korrelat zwischen Gefühlen und Muskelspannung.

In den heutigen hochentwickelten Industriegesellschaften ist Dysstreß ein essentieller Bestandteil des Lebens. “Ängste sind die ureigenste Währungseinheit einer Industriegesellschaft.” (3) Jeder lebt in Angst und Sorge. Des Zivilisationsmenschen Leben wird zu einem Integral spannungsgeladener Geschichten, die kein versöhnliches Ende finden. Ein ständig steigendes, geradezu interferierendes Maß an zur Gewohnheit gewordener Muskelanspannung im Bereich des Kiefers, der Augen, der Brauen, des Nackens, der Schultern, der Arme, der Brust, des Bauchs und der Beine ist die Folge. Ein übriges tut die sitzende Lebensweise des Zivilisationsmenschen. Jahrzehnte verbringt er mit nach vorne gebeugtem Kopf am Schreibtisch oder hockt über Jahre in unnatürlicher Haltung vor einem Computer. Die Anspannung zahlreicher Muskelpartien habitualisiert sich, eine Entspannung findet schließlich nicht mehr statt. Eine verkrampfte Haltung wird zur Gewohnheit, die schließlich nicht mehr bewußt wahrgenommen wird.
Dieser Sachverhalt ist im Hinblick auf den Energieeinsatz von besonderer Bedeutung. Eine Muskelkontraktion tritt ein, wenn der Muskel ein elektrochemisches Signal vom Zentralnervensystem erhält. Bricht das Signal ab, endet auch die Kontraktion, der Muskel entspannt sich zu seiner vorherigen Länge. Um einen Muskel zu entspannen, bedarf es keine Energie; in einem entspannten Muskel gibt es keine elektrische Aktivität. Nur die Kontraktion erfordert ein bestimmtes Energiepotential.

Viele Menschen sind aufgrund negativer Gefühle oder Dysstreß oder einer habitualisierten verkrampften Haltung nicht mehr in der Lage, die betroffenen Muskeln zu entspannen, es bleibt vielmehr eine Dauerkontraktion bestehen. Und das bedeutet: da die Muskeln dauerkontrahiert sind, geht der Energieverbrauch nicht auf Null zurück, wie das bei einem entspannten Muskel der Fall ist, sondern die Muskeln der Betroffenen arbeiten permanentweiter und verbrennen Energie. Der Muskeltonus, der bei einem entspannten Muskel bei Null liegt, kann bei einem chronisch angespannten Muskel um 10 bis 40 Prozent ansteigen. Die Folge: die Muskeln der Betroffenen fühlen sich müde und fest an und sind gegebenenfalls schmerzempfindlich.
Die Schmerzempfindlichkeit hat ihren Grund in der Tatsache, daß das für die Muskelarbeit gespeicherte Glykogen fortwährend verbrannt wird. Das Glykogen wird anschließend in Milchsäure umgewandelt. Die fortlaufende Erhöhung des Milchsäurespiegels kann durch den Blutfluß nicht kompensiert werden; es kommt durch die Säure zu einer Reizung der Schmerzrezeptoren.

Das Leben des modernen Zivilisationsmenschen bietet eine ungewöhnlich große Fülle an Dysstreßsituationen und an belastenden traumatischen Erfahrungen. Auf solche Stimuli reagiert der Körper, wie wir sahen, mit Muskelverspannungen, die sich in der Folge zu Dauerkontraktionen entwickeln. Die Menschen leiden unter ihren Muskelbeschwerden, sind müde und abgespannt und zeigen eine gestörte Körperhaltung. Besonders unglücklich sind diejenigen, die morgens aufwachen und glauben, ihre Muskeln hätten sich in der Nacht entspannt, dann aber feststellen müssen, daß ihre Muskeln bereits kurz nach dem Aufstehen nicht nur nicht entspannt sind, sondern bereits wieder zu schmerzen beginnen.

Das aus all den Muskelbeschwerden resultierende Gesamterscheinungsbild wird als Folge des Alters mißgedeutet. Da man alt ist, so der Mythos, habe man alle diese Beschwerden (Fehlhaltung, Schwäche, Müdigkeit, Bewegungseinschränkung, Schmerz) in Kauf zu nehmen. Aber, wie die bisherigen Darlegungen zeigen, ist dem nicht so.
Die Lösung des Problems wird im folgenden in ihren Grundansätzen kurz skizziert.

Zentralnervensystem und Muskelschmerzen

Bei den Beschwerden handelt es sich um funktionell – nicht strukturell – bedingte Störungen, bei denen das Zentralnervensystem eine entscheidende Rolle spielt. Die chronischen Verspannungen der Muskeln sind den Betroffenen nicht bewußt; was die Leidenden registrieren, ist der Schmerz bzw. die Immobilität. Das Zentralnervensystem “weiß” nicht mehr, wie die verspannten Muskeln sich im entspannten Zustand anfühlen. Thomas Hanna spricht in dem Zusammenhang von “sensomotorischer Amnesie”. (4) Das sensomotorische Erinnern umgekehrt hebt die Muskelblockaden auf. Dieses Erinnern wird aber vom Patienten selbst vollbracht, ist ein Lernprozeß, ist “eine innere somatische Leistung, die aus dem Innern das Gehirns zum Muskelsystem führt”. (5) Massagen und Krankengymnastik dagegen sind Einwirkungen eines Behandlers auf einen weitgehend passiven Patienten. Diese Einwirkungen gehen von der Überlegung aus, daß man mit einem bewußten Bewegungsprogramm die unbewußte Daueranspannungshaltung lösen könne. Der Unterschied zwischen dem traditionellen therapeutischen Ansatz und dem Thomas Hannas ist folgender: während die traditionelle Methode rein physiomechanische Aktionen, deren Bedeutung dem Patienten meist nicht einmal klar ist, an einem Objekt durchführt, werden bei der Hanna-Methode dem Patienten die schmerzenden Muskeln gezeigt, fühlbar gemacht. Nach Hanna wird der Probant angeleitet, den verspannten Muskel noch stärker zu spannen und diesen dann allmählich zu entspannen. Dadurch fühlt der Betreffende-vielleicht nach langer Zeit zum ersten Mal -, wie sich ein entspannter Muskel anfühlt. Er nimmt wahr, daß sich in seinem Körper etwas tut, etwas verändert. Dieses Wahrnehmen ist identisch mit einem Wiedererlernen der bewußten Steuerung der Muskulatur. Das Gehirn, das darauf programmiert war, den dauerkontrahierten Muskel als “normal” anzusehen, beginnt nun, umzulernen. Es registriert, wie sich ein entspannter Muskel anfühlt. Das Gefühl hierfür hatte es vergessen (Amnesie). Das durch Gewöhnung verfestigte falsche Programm wird – kybernetisch betrachtet – gelöscht und durch ein neues, nämlich das richtige, ersetzt.
Ein verspannter Muskel behindert nicht nur sich selbst, sondern auch die Durchblutung und Durchlymphung. Wird die Muskelblockade gelöst, verbessern sich automatisch Durchblutung und Durchlymphung. Ein komplementärer therapeutischer Effekt: der Muskel wird von Schlacken befreit und fühlt sich nun weicher, weiter und wärmer an.

Ausblick

Ich habe den therapeutischen Ansatz Thomas Hannas in seinen grundlegenden Umrissen kurz skizziert. Auf die Darstellung darüber, wie eine Therapie en detail auf der Basis der Hanna-Somatics aussieht, wurde bewußt verzichtet. Eines kann aber resümierend gesagt werden: mit der Hannaschen Therapie ist ohne apparative Hilfsmittel und ohne Chemie Schmerz des Bewegungsapparats in jedem Alter heilbar. Der Patient erlangt wieder Beweglichkeit und Lebensfreude.

Literaturangaben:
(1) Thomas Hanna: Beweglich sein – ein Leben lang, 4. Auflage München 1997, S.56.
(2) Moshé Feldenkrais: Bewußtheit durch Bewegung, Frankfurt am Main/Leipzig 1995
(3) Thomas Hanna: a.a.O., S.72
(4) T. Hanna: a.a.O., S. 13 und passim
(5) T. Hanna: a.a.O., S. 52

r9803_ia2 Dr. Kurt-Peter Rhein
Pfarrer-Dr.-Kurthen-Str. 5
53881 Euskirchen

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