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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 4/1999

Die Rational-Emotive Therapie (RET)

Cover

Bevor ich eine psychotherapeutische Methode vorstelle, mit deren Hilfe psychische Probleme leicht und kurzer Zeit therapierbar sind, möchte ich zunächst das Umfeld, in dem sich die psychischen Probleme ereignen, kurz ausleuchten. Die Analyse des Umfeldes muß sich auf einige wesentliche Aspekte beschränken, kann nicht in die Tiefe gehen. Der interessierte Leser wird deshalb auf entsprechende Schlüsseluntersuchungen verwiesen.

Das sozio-politische Umfeld: ein pathogenes Milieu

Noch nie waren so viele Menschen unglücklich und unzufrieden wir heute. Schlimmer: die Zahl derer, die psychologische Beratung und psychiatrische Behandlung benötigen, ist ungewöhnlich hoch. Auch die Suizid-Rate bewegt sich auf relativ hohem Level.
Diese Feststellungen gelten für die Industrieländer aller Kontinente. Dabei ist in diesen Ländern ein hoher Lebensstandard anzutreffen; dem Gros der Bevölkerung geht es materiell gut. Folglich müßten – so sollte man meinen – die Menschen auch glücklich und seelisch stabil sein. Bekanntlich ist, wie bereits angedeutet, das Gegenteil der Fall. Merkwürdig: während des zweiten Weltkriegs spielten psychische Probleme keine nennenswerte Rolle.
Indes: materieller Wohlstand bzw. materielle Not hat kaum Einfluß auf die psychische Befindlichkeit der Menschen. Die Gründe für psychische Probleme liegen anderswo. Sie liegen in den sozio-politischen Verhältnissen der kapitalistischen Demokratien begründet.

Hierzu in Kürze einige Bemerkungen. Die Demokratien, gleichgültig ob mehr plebiszitären oder mehr repräsentativen Zuschnitts, sind durch das Prinzip der Freiheit konstituiert. Freiheit gilt in einer Demokratie als höchster Wert. Freiheit ermöglicht einen extremen Pluralismus der Werte, Meinungen, Dogmen, Prinzipien, Weltanschauungen und Religionen. Autoritäten, letzte Instanzen, die Vorgaben im Denken, Werten und Fühlen à la Kant machen, die Leitlinien geben, gibt es nicht. Alles ist relativ. Absolutes sucht man vergeblich. Jeder Autorität steht eine andere Autorität gegenüber; jede Instanz wird durch eine andere Instanz in ihrem Wert relativiert. Der Regierung steht eine fast ebenso starke Opposition gegenüber. Die Erziehungsrechte und Erziehungspflichten der Eltern und Lehrer werden durch die Rechte der Heranwachsenden bis zur Bedeutungslosigkeit eingeschränkt. Die Verfügungsgewalt der Kapitaleigner wird durch die Rechte und Forderungen der Arbeitnehmer, die durch starke Gewerkschaften repräsentiert werden, begrenzt. Die wirklichen und scheinbaren Vorrechte der Männer versuchen die Frauen, namentlich die Feministinnen, verbissen und radikal zu beschneiden. Genug!
Wohin man blickt: ein Bellum omnium contra omnes (Ein Kampf aller gegen alle). Nun könnte man glauben, dieser permanente Kampf aller gegen alle sei das, was Streß, und zwar Dysstreß, auslöse und daher so viele Menschen seelisch und – in Zusammenhang damit – physisch krank mache. Aber, das ist ein Fehlschluß!

Kampf als solcher macht nicht krank. Wenn Kampf mit Streß verbunden ist, dann ist es allenfalls Eustreß, d.h. guter, nicht pathologischer Streß. Das Krankmachende in den demokratisch-kapitalistisch verfaßten Industrieländern ist nicht der Streß als solcher, auch nicht die allenthalben herrschende Hektik; nicht einmal die Roheit und Brutalität im Alltag, namentlich im Beruf; auch nicht der allgemeine Trend zur Abkapselung, d.h. der Trend, sich vom Mitmenschen abzusondern. Kurz: nicht der Mangel an gegenseitiger Rücksichtnahme und der Mangel an Bereitschaft, neben dem Ego das Du zu tolerieren, sind primär das psychisch Krankmachende, sondern es ist etwas anderes.

Und zwar ist es die absolute Freiheit; die totale Freiheit nämlich, unter einer nahezu unendlichen Fülle von Denkansätzen, Ideologien, Dogmen, Religionen, Wertsystemen, Weltanschauungen, Menschenbildern und Heilsbotschaften zu wählen. Ein unüberschaubarer Pluralismus! Die wenigsten Menschen wissen in diesem Dschungel der Angebote noch, wo oben und unten, wo vorne und hinten ist. Für die Freiheit der Wahl zahlt der einzelne einen hohen Preis, nämlich eine fast totale Verhaltensunsicherheit. Und genau diese Unsicherheit, nun das Richtige für sich zu finden, löst zwangsläufig über kurz oder lang Streß, und zwar Dysstreß aus. Und dieser Dysstreß macht auf die Dauer krank.

Verstärkt wird dies negative Situation, die dem Individuum als auswegslos erscheint, noch durch eine weitere Tatsache: die traditionelle Familie, die früher Probleme der einzelnen Familienmitglieder im Sinne eines Puffers auffing, existiert nicht mehr. In der modernen Familie geht jedes Mitglied seinen eigenen Weg. Das Zusammensein beschränkt sich auf kurze Zeit am Abend. Dann nämlich, wenn Vater und Mutter von der Arbeit und die Kinder aus der Ganztagsschule zurückgekehrt sind, ist man für kurze Zeit am Abendbrottisch zusammen. Danach geht jeder in sein Zimmer, setzt sich vor das Fernsehgerät oder den PC oder verläßt für bestimmte Zeit das Haus. Zu deutsch: eine Familiengemeinschaft im klassischen Sinne gibt es de facto kaum noch.
Und auch die größte Gemeinschaft, in der sich der einzelne früher eingebettet fühlen konnte, in der ein bestimmtes Wir-Gefühl virulent war, nämlich die Gemeinschaft des Volkes, gibt es nicht mehr. Schon seit längerem sprechen nicht mehr alle die gleiche Sprache, fühlen sich nicht mehr alle der gleichen Kultur zugehörig, und auch die Abstammung ist nicht mehr bei allen die gleiche. Statt dessen: Vielsprachigkeit, Multikulturelles und Abstammungsvielfalt. Daß bei einer solchen Szenerie keine Nestwärme mehr entsteht, weder in Kleingruppen noch in Großgruppen, daß kein Geborgenheitsgefühl mehr aufkommt und daß dadurch schwere Identitätskrisen beim einzelnen geradezu vorprogrammiert sind, ist nicht verwunderlich.

Fazit: die totale Orientierungslosigkeit und Wurzellosigkeit des einzelnen in einer Zivilisation, deren konstitutives Merkmal eine unüberschaubare Vielfalt der Werte und Dogmen ist, sind – ätiologisch gesehen – der eigentliche Grund für die psychischen Probleme und die charakterlichen De -formationen ungewöhnlich vieler Individuen.
Diese Individuen, geplagt von Ratlosigkeit und Orientierungslosigkeit, suchen nun Hilfe. Der Angebote, die diese Hilfe versprechen, gibt es viele: Sekten, Gesprächszirkel, Selbsthilfegruppen bis hin zu den im Rahmen des Medizinbetriebs institutionalisierten Gruppen- und Einzeltherapien der professionellen Psychotherapeuten. Während die eine Gruppe der psychisch und psychomatisch Leidenden eins der angebotenen Hilfsangebote in Anspruch nimmt, landet die andere Gruppe in Eß-, Trink- oder Drogensucht. Die Erfolgsquote der vorgenannten Hilfsangebote? Sie sei hier nicht untersucht. Aber man geht wohl recht in der Annahme, daß die Erfolgsquote nicht umwerfend hoch ist. Und was die Flucht in die Süchte anbetrifft: sie bringt nicht nur keinen Erfolg, sondern macht natürlich alles noch schlimmer. Gibt es aus diesem Dilemma einen Ausweg? Gibt es für die Betroffenen eine echte, erfolgreiche Methode, mit deren Hilfe sie aus ihren psychischen Problemen herauskommen? Ich glaube, es gibt eine solche Methode. Im folgenden werde ich sie skizzieren.

Die Rational-Emotive Therapie (RET)

Die wichtigsten Merkmale
Die Rational-Emotive Therapie (RET) ist als psychotherapeutische Methode von dem US-amerikanischen Psychotherapeuten Dr. Albert Ellis in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt worden. Die RET basiert – vereinfachend gesagt – auf einem alten philosophischen System der Antike, nämlich der Stoa. Die RET hat gegenüber anderen psychotherapeutischen Ansätzen einige unschlagbare Vorzüge: Sie ist wegen ihrer einfachen Grundannahmen unkompliziert und daher leicht vermittelbar. Sie kommt ohne komplexe Nomenklatur aus. Sie zeigt nicht nur die Ursachen für die psychischen Störungen auf, sondern bietet eine Lebensphilosophie, die sich als Basis für ein – relativ -glückliches und zufriedenes Leben eignet. Sie ermöglicht eine Heilung bzw. eine Besserung der psychischen Probleme bei einem Minimum an Therapiesitzungen, ja sie eignet sich sogar ausgezeichnet als Hilfe zur Selbsthilfe.

Das Grundaxiom

DAS GRUNDAXIOM DER RET LAUTET:
Es sind nicht die Dinge als solche (Ereignisse, Situationen), die den Menschen beunruhigen, sondern es ist die Meinung über die Dinge, die beunruhigt.

Es ist dies eine alte, bereits vor 2000 Jahren von den Stoikern gelehrte Grundanschauung. Machen wir uns das Grundaxiom einmal an einem Beispiel klar. Nehmen wir an, ein Tag im Herbst ist regnerisch. Das ist der Sachverhalt oder, um es mit dem vorerwähnten Terminus auszudrücken, das Ding als solches. Nun gibt es – sprachtheoretisch – zwei Möglichkeiten.

Erste Möglichkeit:
Sie sagen oder denken: Was ist das für ein mieser Tag!

Zweite Möglichkeit:
Sie sagen oder denken: Heute ist es regnerisch.

Im ersten Fall haben Sie eine Ansicht, eine Meinung zum Ausdruck gebracht. Die Sprachwissenschaft spricht in diesem Zusammenhang von einem Werturteil. Im zweiten Fall haben Sie ganz sachlich ein Factum festgestellt. Die Sprachwissenschaft spricht hier von einem Sachurteil. Der regnerische Tag im Herbst ist weder mies noch sonst irgendwie negativ. Das Wetter ist, wie es ist, es ist völlig wertneutral. Wenn Sie allerdings hingehen und die Tatsache, daß es regnet, als mies bezeichnen, dann sind das Ihre negativen Gedanken, die Sie zum Ausdruck gebracht haben, dann haben Sie Ihre negative Meinung über ein Ding als solches geäußert. Und das heißt: nicht der Regen ist mies, sondern Ihre Gedanken, Ihre Meinung über den Regen lösen in Ihnen das Gefühl “mies” aus. Man sieht: negative Gedanken führen zu negativen Gefühlen (bis hin zu Verhaltensunsicherheiten und Handlungsunfähigkeit). Das aus dem angeführten Beispiel ableitbare RET-Konzept läßt sich graphisch so darstellen:

A
das Ding als solches
(Ereignis oder Situation)

B
Gedanken, Meinung
über das Ereignis oder die Situation

C
das Gefühl,
analog dem (negativen) Bewertungsmuster, das gewählt wurde

Das Alltagsmodell dagegen sieht folgendermaßen aus:

A
Ereignis oder Situation

C
Gefühl

Man erkennt: das Alltagsmodell ist kurzschlüssig; es läßt B außer acht. Es läßt außer acht, daß Wahrnehmungen von Ereignissen und Situationen, bevor sie Gefühle auslösen, durch den Filter unserer Bewertung gehen; diese Bewertung aber ist identisch mit unseren Gedanken über das Ereignis oder die Situation. (Daß die Gedanken über das Medium der Sprache ablaufen, hat für die Therapie, sowohl in der Form der Selbsthilfe als auch in der Form der Fremdhilfe, insofern Bedeutung, als über die Sprache die Analyse selbstschädigender Gedanken und auch die therapeutischen Ansätze stattfinden.)

Gängige irrationale Ideen

Was man gelernt hat, läßt sich wieder löschen und durch Neues ersetzen. Das heißt: all das in der Kindheit falsch Gelernte, all die uns vermittelten Meinungen, alle diese Werturteile könen wir durch Sachurteile, die einzig an den Tatsachen, an den Fakten, an den Dingen als solchen überprüft sind, ersetzen. Das ist durch einen Umlernprozeß machbar.

Doch nun zu einigen Meinungen, die wir gelernt haben und die letztendlich der Grund dafür sind, daß wir uns über völlig wertneutrale Dinge erregen.

1
Wir lernten, daß unser Eigenwert davon abhängt, wie sehr andere Menschen uns anerkennen und mögen
4
Wir lernten, daß wir uns minderwertig und schuldig fühlen müssen, wenn wir in den Augen der anderen etwas “Schlechtes” getan haben
7
Wir lernten, daß wir stets perfekt sein müßten und keine Fehler machen dürften
2
Wir lernten, daß man beruflichen und privaten Erfolg haben müsse, damit man angesehen ist
5
Wir lernten, uns stets mit anderen zu messen und zu vergleichen
8
Wir lernten, daß wir andere verletzen könnten, wenn wir an diese bestimmte Forderungen und Bitten herantrügen. Wir lernten mit anderen Worten, daß wir dafür verantwortlich wären, wie andere sich fühlen
3
Wir lernten, daß ein Mensch, der Fehler macht, ein Versager (auf der ganzen Linie) ist
6
Wir lernten, daß es viel wichtiger sein, was andere von uns denken, als das, was wir von uns selbst denken
9
Wir lernten, daß wir selbst wenig oder gar keinen Einfluß darauf hätten, wie wir uns fühlen
Fazit:
Wir lernten, daß unser seelisches Befinden von anderen Menschen und den Umständen abhängig wäre.

Dr. Kurt Peter Rhein Dr. Kurt Peter Rhein
Leider werden wir Zivilisationsmenschen von Kindesbeinen an mit einer unübersehbaren Fülle von Meinungen, Ansichten, Dogmen und Vorurteilen, mit deren Hilfe wir die Dinge (Ereignisse und Situationen) bewerten, vollgestopft. Wir werden somit permanent fehlprogrammiert. Was wundert, daß wir dann später im Erwachsenenalter nicht mehr die wertneutralen Dinge als solche, sondern nur noch bestimmte Meinungen über die Dinge haben. Bevor ich Ihnen einmal eine kleine Ansammlung solch falscher Meinungen vorführe, will ich vorweg noch etwas Erfreuliches sagen.

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