Übersicht dieser Ausgabe    Alle Paracelsus Magazine

aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 5/1999

Was ist Psychotherapie?

Cover

Teil 1
Die Psychotherapie ist von unseren “sachverständigen” Parlamentariern und ihren Einflüsterern aus der Lobby neu definiert worden. Dr. Werner P. Sachon ist Therapeut für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und macht sich über Sinn und Unsinn dieser gesetzgeberischen Tat Gedanken aus praktischer Sicht.

Der Kernpunkt dieses Psychotherapieverständnisses bildet die Anwendung von psychotherapeutischen Verfahren. Eine auf empirischen Methoden aufbauende positivistische Wissenschaft, für die nur gilt, was anhand objektiver Daten beschreibbar und fixierbar ist, wird zum entscheidenden Maßstab für deren Anerkennung erklärt. Andere psychotherapeutische Sicht- und Arbeitsweisen, die in dieses Raster nicht integrierbar sind, sind damit aus dem Feld der institutionellen Psychotherapie ausgegrenzt. Die Berufsbezeichnung ‘Psychotherapeut’ darf unter Strafandrohung nur führen, wer den Bedingungen und Voraussetzungen dieses Gesetzes entspricht:

Er muss wissenschaftlich-universitär und in einem ‘wissenschaftlich anerkannten psychotherapeutischen Verfahren’ (korrekter wäre: ‘in einem von bestimmten gesellschaftlichen Institutionen anerkannten Verfahren’) ausgebildet sein, d.h. in den verhaltenstherapeutischen oder psychoanalytischen Verfahren.

Wenn ich “mittels wissenschaftlich anerkannter Verfahren” an einem anderen Menschen eine “Tätigkeit vornehme” – dann wird dieser Mensch zum Gegenstand meiner Tätigkeit, zum Objekt; die Beziehung zu ihm beruht auf objektiven, auf wissenschaftlichen Grundlagen. Dies entspricht dem etablierten Behandlungs-Ansatz der Medizin, der nun auch im gesetzlichen Leitbild für die Psychotherapie verankert ist – die institutionalisierte Psychotherapie in Deutschland ist damit zu einer Sonderform der medizinischen Behandlung geworden.
Soziologisch betrachtet hat sich das Medizinsystem in Deutschland die Psychotherapie, die sich in der Nachkriegszeit als relativ eigenständige und unabhängige Disziplin entwickelt hat, in einem Jahrzehnte andauernden politischen Normierungsprozess nun umfassend einverleibt. Als ‘Abfindungsleistung” an die Psychologie sprang für diejenigen Psychologen, die die Bedingungen dieses Systems erfüllen wollen, heraus, daß sie nun auch am kassenärztlichen Status teilhaben dürfen.

PSYCHOTHERAPIE ALS MENSCHLICHE BEZIEHUNG

Die empirische Wissenschaft selbst liefert jedoch gute Argumente dagegen, diesen verfahrensorientierten “Behandlungs”- Ansatz der Medizin als Leitbild pauschal und mit dem Anspruch auf Ausschließlichkeit auch auf die Psychotherapie zu übertragen. So charakterisiert zum Beispiel der bekannte amerikanische Psychotherapieforscher Prof. Dr. Hans H. Strupp vom Zentrum für Psychotherapieforschung an der Vanderbilt University in Nashville (Tennessee) aufgrund einer Vielzahl von empirischen Untersuchungen den Kern des psychotherapeutischen Prozesses folgendermaßen:
“Meiner Meinung nach erreicht Therapie Folgendes: der Patient und der Therapeut treten in eine Beziehung zueinander ein, der Patient fasst Vertrauen zum Therapeuten, der Therapeut ist empathisch und verständnisvoll und hört zu. Unter diesen Umständen hat der Patient ein neues Erlebnis, eine neue Erfahrung von einer zwischenmenschlichen Beziehung. In diesem Kontext kann der Patient Vertrauen entwickeln, sich Problematisches anschauen und Fortschritte machen, was sich dann in seinen Beziehungen zu anderen Menschen auswirkt. Das Wesentliche ist: die Therapie ist weniger eine Behandlung als vielmehr ein Erleben.”

In seinen empirischen Psychotherapieforschungen ist Strupp zu dem Ergebnis gekommen, dass ein Therapieerfolg weniger auf ein bestimmtes Verfahren, sondern vor allem auf die Person des Therapeuten und die Qualität der Therapeut-Klient- Beziehung zurückzuführen sei. Und er stellt fest:
“Unsere Gesellschaft hat dafür wenig Verständnis, denn die logische Folgerung davon wäre, daß die Psychotherapie eben eine menschliche Beziehung ist und keine medizinische Behandlung.”

Es ist in diesem Zusammenhang auch daran zu erinnern, dass nahezu alle bedeutsamen Entwicklungen der Psychotherapie in der Nachkriegszeit außerhalb des Medizinsystems stattgefunden haben. Psychotherapie als eigenständige Disziplin speiste sich immer schon vor allem aus der psychotherapeutischen Praxis, nicht aus der wissenschaftlichen akademischen Forschung, weder der medizinischen noch der psychologischen. Psychotherapie ist seit den 50er Jahren vor allem vom Schulenspektrum der Humanistischen Psychologie in die Gesellschaft integriert worden, zuerst in den USA und später auch in Europa -Psychotherapie kennzeichnete insbesondere den humanistischen Gegenentwurf zur empirisch-positivistisch ausgerichteten Verhaltenstherapie und der materialistisch orientierten Psychoanalyse. 1962 verabschiedete die “American Association of Humanistic Psychology” eine Resolution, in der dieser Gegenentwurf deutlich zum Ausdruck kam:

“Die Humanistische Psychologie beschäftigt sich vor allem auch mit jenen menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten, die kaum einen oder keinen systematischen Ort haben, weder in der positivistischen oder behavioristischen Theorie, noch in der klassischen psychoanalytischen Theorie; z.B. Liebe, Kreativität, Wachstum, Organismus, Erfüllung grundlegender seelischer Bedürfnisse, höhere Werte, Selbstverwirklichung, Natürlichkeit, Herzenswärme, Bedeutung u.a.”

Unser seelisches Erleben ist der wohl deutlichste Ausdruck der Subjektivität unseres Daseins. Psychologie als das “Studium der Seele” (nicht: des Verhaltens) ist vor allem Studium des Subjekts, des subjektiven Erlebens des Menschen. In diesem humanistischen Verständnis ist “Psychotherapie” vor allem dem seelischen Grund des Menschen, seiner Selbstwerdung, d.h. dem Allersubjektivsten verpflichtet. Dem kann eine Fixierung auf bestimmte objektivierte Verfahren schon im Grundansatz nicht gerecht werden: “Psychotherapeuten können sich nicht auf generelle oder standardisierte Verfahren verlassen… Psychotherapie ist nicht die bloße Anwendung von Kenntnissen und Prinzipien, die von Akademikern in kontrollierten Laborversuchen entdeckt wurden. Jede psychotherapeutische Begegnung ist einmalig …” (Milton H. Erickson) C. G. Jung beschrieb den Kernpunkt seines psychotherapeutischen Arbeitens deshalb auch so:
“Für mich gibt es dem Individuum gegenüber nur das individuelle Verstehen. Für jeden Patienten braucht man eine andere Sprache. So kann man mich in einer Analyse auch adlerianisch reden hören oder in einer anderen freudianisch. Der entscheidende Punkt ist, dass ich als Mensch einem anderen Menschen gegenüberstehe …”
Therapie meint ursprünglich: Begleitung. Therapie bedeutet schon im ursprünglichen Wortsinn des griechischen therapéia (begleiten, dienen) eine spezifische Form der menschlichen Beziehung. Ein Therapeut, ein therápon, ist ein Begleiter, ein Gefährte. Psyche, d.h. Seele, kennzeichnet einen Erlebensbereich des Menschen, der weder rein mental noch rein körperlich, aber sinnlich spürbar ist: das Erleben von Sehnsucht, Verzweiflung, Zufriedenheit, Kränkung u.a. ist keine bloße Idee, sondern spürbare seelische Wirklichkeit. Und jeder von uns weiß, wie stark diese Wirklichkeit unser Handeln und unser Leben beeinflusst, im Guten wie im Bösen.

Psychotherapie in der ursprünglichen Bedeutung meint also: Begleitung von Menschen in ihrem seelischen Erleben. Ganz offensichtlich haben Menschen einer solchen Beziehung gerade auf schwierigen Wegstrecken in ihrem Leben immer schon unterstützende und heilsame Wirkungen zugeschrieben – in unzähligen Mythen und Erzählungen taucht der Archetyp des “Therapeuten”, des Begleiters, auf. Er ist eine Gestalt heilsamer menschheitlicher Erfahrung und macht uns unmissverständlich klar, dass die therapeutische Aufgabe tief in der menschlichen Natur verwurzelt ist. Die Psychotherapie hat sich in unserer Zeit des “Machens” jedoch immer einseitiger mit strategischen “Behandlungs”-Verfahren identifiziert. Viele Therapeuten wissen gar nicht mehr, was mit dem ursprünglichen “Therapieren”, dem Begleiten, überhaupt gemeint ist. Dabei müssten wir nur unser eigenes seelisches Erleben wahr- und ernstnehmen, dann würden wir uns wieder erinnern. Die meisten von uns sind schon in Beziehung mit Menschen gewesen, die uns einfach akzeptiert haben, so wie wir sind – und wir haben gespürt, wie wir uns in einer solchen Beziehung innerlich gelockert und entspannt haben und vielleicht gelassener etwas Problematisches in unserem Leben anschauen konnten. Hunter Beaumont beschreibt die spezifische Grundhaltung des Therapeuten so:
“Durch diese Art des Nicht-Tuns bleiben wir, wo wir sind, zentriert, berührt vom Anderen als dem Anderen in der dialogischen Begegnung. Die Wirkung des Berührens und Berührtwerdens wird sichtbar … Die Fähigkeit des Nicht-Handelns zu entwickeln, ist sehr anstrengend. Man muss lernen, sämtliche Absichten zu vergessen, einschließlich der zu helfen. Man muß auf einen größeren Prozess vertrauen.”

Die Erfahrung zeigt immer wieder: Vordergründig kommen die meisten Menschen wegen ihrer Probleme und Symptome zur Therapie, aber auf einer tieferen, auf einer seelischen Ebene, kommen viele von ihnen vor allem, um in der Begegnung von einem anderen Menschen gesehen zu werden, um von unserem Sehen auf der seelischen Ebene berührt zu werden und sich selbst im Spiegel der therapeutischen Beziehung erkennen und annehmen zu können. Wirkliche Therapeuten wissen, dass sie das Selbst des Klienten solange sehen und wertschätzen (“spiegeln”) müssen, bis der Klient selbst dazu in der Lage ist. Psychotherapie in diesem ursprünglichen, dialogischen Sinne ist vor allem Beziehungs- und Personorientiert: anstelle der Anwendung eines bestimmten Verfahrens tritt eher ein persönlicher Stil, die therapeutische Beziehung ist weit mehr als ein Zweckbündnis, in ihrem heilsamen Kern ist sie vor allem eine persönliche Begegnung.

 

zurück zur Übersicht dieser Ausgabe
Paracelsus SchulenWir beraten Sie gerne
Hier geht's zur Paracelsus Schule Ihrer Wahl.
Menü