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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 3/2000

Kinästhetische Anatomie

Cover

Ein Lehr- und Lernkonzept auf neuro-sensorischer Basis

“Die Faszination des Echten”: Der visuelle Tabubruch in “Körperwelten”

Die Anatomie-Ausstellung “Körperwelten” polarisierte bereits Ende 1997/Anfang 1998 die Republik: Begeisterung auf Seiten der Besucher (95% der Besucher beurteilten die Ausstellung als “gut” oder “sehr gut”) und 24-stündige Öffnungszeiten in Mannheim, Entsetzen (“reisserische Effekthascherei”) und Boykott (“grobe Geschmacklosigkeit”) bei Kritikern jeglicher Couleur. Alle verband die Faszination des Originals, des Echten, das durch kein noch so “naturidentisches” Objekt ersetzt werden kann. Mittlerweile wirbt die aktuelle Ausstellung in Köln bereits mit der “Faszination des Echten”, im Internet werden hitzige Debatten über Moral und die Machbarkeit des Authentischen geführt. Ein Leserbriefschreiber drückte 1998 aus, was viele empfanden: “Wann sonst hat man Gelegenheit, Haut, Muskeln, Sehnen, Skelett, Gefäße, Nerven, Gehirn, innere Organe und Gedärme mit eigenen Augen kennen zu lernen und auf diese Weise ein besseres Bewusstsein vom eigenen Leib zu gewinnen?”

Was ist geschehen? Es ging (und geht) um einen Tabubruch: Der menschliche Körper, seine Gestalt, die Gesamtheit seiner Funktionalität wird ausgestellt und dem Laien zugänglich gemacht. Jeder kann mit eigenen Augen und selbst (Autopsie = selbst sehen) aus allernächster Nähe betrachten, was ihm am Nächsten ist. “Bisher war die Körperschau alleiniges Privileg der Ärzte”, gab Angelina Whalley, Veranstalterin der Mannheimer “Körperwelten” knapp zu Protokoll. Dieses kurze Statement beinhaltet alle Verlustängste der Mediziner: Fällt das “Körperschau-Privileg” wie das Bestattungsmonopol der Kirche, so ist einer Demokratisierung der Medizin Tür und Tor geöffnet. Vielleicht eine Chance, sich nicht nur mit dem toten, sondern mit dem eigenen, lebendigen Körper zu beschäftigen!

Die Geschichte der Anatomie

Jede Zeitepoche, jede Kultur hat ihre Erklärungsmodelle von Krankheit und Gesundheit. Grundlage hierfür waren schon ca. 300 Jahre vor Chr. anatomische Studien, die zunächst durch Sektionen von Tieren vorgenommen wurden. Die Werke des bedeutenden Mediziners und Anatoms Galen stellten in der Spätantike eine Anatomie-Enzyklopädie dar, die auf der Tieranatomie beruhten. Viele falsche Erkenntnisse schlichen sich so durch das Sezierverbot am Menschen in die 32 bekannten Werke “Über die anatomische Untersuchung” und “Über den Nutzen der Körperteile” ein. Bis in die Neuzeit beeinflusste Galens “Humoralpathologie” (Gesundheit ist das Projekt eines harmonischen Zusammenspiels der damals bekannten vier Körpersäfte Blut, schwarze Galle, helle Galle und Schleim) die Medizin. Große Seuchen, wie die Pest, wurden noch im vierzehnten Jahrhundert über die Humoralpathologie erklärt: Die planetare Konstellation von Saturn, Jupiter und Mars am 20. März 1345 habe von der Erde und vom Wasser üble Dämpfe aufsteigen lassen, die die Luft verdorben hätten. Diese verdorbene Luft – das Miasma – gelange durch die Poren der Haut und durch die Atmung in den Körper, wo sie dann das Blut faulen lasse. Erst im 13. Jahrhundert setzte sich die Sektion an menschlichen Leichen durch und an vier medizinischen Zentren wurde Anatomie gelehrt: in Salerno, Bologna Montpellier und Paris.

Mit dieser Revolution, anatomische Studien an menschlichen Leichen durchzuführen, korrigierten sich die Fehler, die sich aus der Unterschiedlichkeit des menschlichen vom tierischen Körper ergaben. So wie diese fundamentalen Differenzierungsfehler empirisch korrigiert werden konnten, könnten heute die Fehler korrigiert werden, die sich durch das Studium des toten Körpers ergeben haben, wenn wir das Studium am lebenden Körper ergänzen. Wir als Menschen sind lebende Wesen und daher nur umfassend “erklärbar” und “begreifbar”, wenn das Lebendige mit einbezogen wird.
Die Kinästhetische Anatomie bietet hier einen Weg an, dem funktionalen, materiellen Körper Leben einzuhauchen, indem das Empfinden der anatomischen Strukturen als dritte Dimension in das klassische Studium der Anatomie integriert wird. Das kinästhetische Anatomiestudium ist geprägt von den Fragen: Wo liegt was? Wie fühlt es sich an? Wie drückt sich das Wesen des Lebendigen in den einzelnen anatomischen Strukturen aus? Wie verbindet sich das Seelisch- Empfindende mit dem Körperlichen? Oder ist etwa das Körperliche “nur” Trägersubstanz des Seelischen? Die Antworten auf alle diese Fragen liegen in unserem lebendigen Körper selbst. Was wir lernen können ist, auf ihn zu hören, ihm zuzuhören und seine Sprache, die sich in Empfindungen ausdrückt, zu verstehen.

Die traditionelle Anatomie ist visuell orientiert. Dies hat entsprechende Konsequenzen für die medizinische Praxis.

In der modernen Anatomie geht es hauptsächlich um eine visuelle Darstellung des menschlichen Körpers und dessen Strukturen. Aus dem bereits benannten Hauptinteresse an der Frage: “Wo liegt was und wie sieht es aus?” resultiert die Konsequenz: “Wie sieht der Körper aus, wenn er krank ist und wie, wenn er gesund ist?” Auf dieser Basis ruht das Gebäude der westlichen Medizin – visuell und analytisch dominiert, akzeptiert und als “objektiv” diagnostiziert. Geschätzte 80% der Diagnoseverfahren sind visuelle Verfahren und Darstellungen. Oft werden dabei große gesundheitliche Risiken in Kauf genommen, um ein entsprechendes Bild, eine Aufzeichnung, ein Foto des Krankheitsherdes zu erhalten. Hier seien die gängigsten Verfahren, wie Röntgen, Kernspintomographie, Ultraschall, Knochenszintigramm, Herzkatheter angeführt. Kein Arzt der westlichen Hemisphäre könnte es sich heute aus rechtlichen Gründen mehr erlauben, sich ausschließlich auf Palpationsbefunde zu beschränken, gelten sie doch als zu subjektiv und dadurch ungenau.

Insgesamt ein circulus vitiosus: Die Anatomie erforscht visuelle Strukturen. Damit liefert sie eine visuelle Definition der Begrifflichkeiten “gesund” und “krank”. Somit kann auch die Diagnose nur eine visuelle sein, die dann wiederum eine visuelle Therapie zur Folge hat. Was nicht ins (Ideal-)Bild passt, muss passend gemacht werden. Was nicht mehr einzupassen ist, wird entfernt (operiert). So haben sich hochdifferenzierte Krankheitsbilder entwickelt, die detailliert beschreiben, was alles nicht ins Idealbild passt, welche Folgen “unpassendes” Verhalten hat und mit welchen Konsequenzen der Patient zu rechnen hat, der sich gegen die gängige “Passform” zur Wehr setzt.

Dieser Mechanismus, gepaart mit der sich selbst erfüllenden Prophezeiung, hat eine nicht zu unterschätzende Suggestivkraft für denjenigen, der sich in einer geschwächten (kranken) Lage befindet und fachliche Hilfe in Anspruch nimmt.

Wo bleibt unser tagtäglicher Sprachgebrauch? Wir artikulieren doch, dass wir uns krank oder gesund fühlen! Das heißt Gesundheit und Krankheit sind in erster Linie Gefühlzustände. Was nutzt uns jede offensichtliche Gesundheit, in der das Idealbild wiederhergestellt ist, wenn wir uns aber dennoch nicht gesund fühlen?

Hier setzt die kinästhetische Anatomie an. Sie versucht das Alphabet der Empfindungen zunächst erfahrbar und bewusst zu machen. Die Facetten reichen hier von Empfindungslosigkeit bis zu starken Schmerzzuständen.
Diese Empfindungszustände sind Signale oder Informationen der Seele und des Geistes, die sich auf körperlicher Ebene ausdrücken. Sich diesen Prozess bewusst zu machen, diesen Prozess zu entschlüsseln, kann zum Selbstfindungsprozess auf allen Ebenen Körper, Seele und Geist werden.

Kinästhetische Anatomie: Erfahrung durch Berührung & Bewegung
Oder Forschen durch Sehen – Empfinden – Benennen

“Ich hätte so gerne alles angefasst” sagte eine begeisterte “Körperwelten”-Besucherin in einer Talkshow. Das könnte der (Bernhard)-Kern-Satz sein! Kinästhetische Anatomie ergänzt die traditionell visuell bzw. auditiv orientierte Didaktik um den (jenseits der kognitiven, intellektuell geprägten Aufnahme liegenden) Aspekt des Selber-Fühlens.

Die Kinästhetische Anatomie geht von zwei wesentlichen Fragen aus: Wo liegt was? Und wie fühlt es sich an? Das sind erste Schritte auf dem Weg zu einer neuen Erfahrung: Wir sind Anatomie. Die einfühlende, mitfühlende Beschäftigung mit unserer Anatomie eröffnet uns eine neue Dimension, unser Sein körperlich zu erkennen. Die Kinästhetische Anatomie ist das anatomische Studium am lebendigen Körper. Die topografische und funktionale Anatomie wird um den Aspekt des Fühlens und Empfindens ergänzt.
Kinästhetische Anatomie weckt, fördert und schult die subjektive Wahrnehmung: Durch Ertasten und Bewegen der anatomischen Strukturen wird das kinästhetische Bewusstsein geweckt, erweitert und stabilisiert. Kinästhetische Anatomie vermittelt den Weg von der Oberflächenstruktur zur Tiefenstruktur: Visuelle und funktionale Ebenen erfahren ihre Ergänzung um eine unmittelbar “greifbare” und bewegende Sinneserfahrung.

Beim anatomischen Lernen spielen 3 Wahrnehmungsebenen eine wichtige Rolle:

1. Die visuelle Wahrnehmung.

Bei ihr geht es darum, das anatomische Bild in uns aufzunehmen.
Dieser Lernprozess ist vollständig, wenn wir ein vollständiges Abbild der anatomischen Struktur in unserem Langzeitgedächtnis gespeichert haben.

2. Die auditive Wahrnehmung.

Sie ergänzt die visuelle Wahrnehmung durch eine verbale Ebene. Dieser Lernprozess ist ein offener Prozess, bei dem immer differenzierter bezeichnet werden kann.

3. Die sensorische Wahrnehmung.

Auch wenn es “Körperwelten” gelingt, der Anatomie ihren unangenehmen Geruch zu nehmen, sie gar zur Kunst zu erheben, bleibt die Frage, wie sich die Beschäftigung mit dem eigenen Körper intensivieren lässt, wie fühlbar wird, was der Mensch in seiner Ganzheit ist. Kinästhetische Anatomie berührt (im wahrsten Sinne des Wortes) die Empfindungsebene jedes Einzelnen: Jede anatomische Struktur fühlt sich anders an. Dies zu erfahren und zu erforschen, ist Anliegen des Kinästhetischen Anatomiekonzeptes, ein Lehr -und Lernkonzept auf neuro – sensorischer Basis. Dies wird erreicht durch Visualisierung, Ertasten und Bewegen der Strukturen. Die selektive Wahrnehmung ist stiller Beobachter des Veränderungsprozesses. Verändern wird sich durch diese Arbeit unser Körperbewusstsein, indem dieses von der Oberflächenstruktur der Wahrnehmung zur Tiefenstruktur des Fühlens geleitet wird. Was am eigenen Leib erlebt und erfühlt wird, ist im Langzeitgedächtnis des Körpers gespeichert und lässt sich jederzeit wieder abrufen: Kinästhetische Anatomie ist eine Erfahrung für das eigene Leben und ein unbestechlicher Zugang zum Patienten.

Bernhard Kern:

Er ist Begründer der kinästhetischen Anatomie und des Migränekonzeptes Kinästhetik Touch. Seine berufliche Laufbahn und sein erster Kontakt mit Körpertherapien begann er mit Shiatsu Anfang 1980 bei Ohasi in Berlin. Nach Erforschung vieler Körpertherapien und Ausbildung zum Masseur ist er seit 7 Jahren in eigener Praxis tätig und leitet seit 1999 das Institut für kinästhetische Anatomie.

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