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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 4/2010

Das Geheimnis des Pferdeflüsterns

Cover

24. September 1998: Kinostart des Filmklassikers „Der Pferdeflüsterer“. In den Hauptrollen: Robert Redford und das Pferd „Pilgrim“.

Die Geschichte: Ein tragischer Reit-/ LKW-Unfall verwandelt das ehemals vertrauensvolle Pferd Pilgrim in ein unberechenbares Geschöpf. Nur durch die Fähigkeiten des „Pferdeflüsterers“ Tom Booker erfährt Pilgrim seine seelische Heilung.

Millionen Menschen hat dieser Film berührt. Das „Flüstern mit Pferden“, diese einzigartige Kommunikation und vertrauensvolle Partnerschaft zwischen Pferd und Mensch – gibt es sie wirklich? Was ist das Geheimnis des Pferdeflüsterns? Oder handelt es sich lediglich um eine Hollywood-inszenierte Fiktion? Pferde-Expertin Saskia Westphal liefert die Antworten.

2010-04-Pferde1Die klassischen Horsemanship- Lehren (Reitkunst) sind bereits vormittelalterlichen Ursprungs. Die Geschichte erzählt von Helden, Königen und Anführern, deren Erfolge der Nachwelt übermittelt wurden, indem sie mit ihren Pferden in Bronze gegossen, in Öl gemalt oder in Stein gemeißelt verewigt wurden.

Eine der bekanntesten Mensch-/ Pferd-Partnerschaften der Geschichte ist die von Alexander dem Großen und seinem Pferd Bukephalos. Alexander war 15 Jahre alt, als seinem Vater, König Phillipp von Makedonien, der schwarze Hengst Bukephalos von einem Pferdehändler vorgestellt wurde. Ein beeindruckendes, aber scheinbar unbändiges Tier, das selbst von drei Knechten nicht unter Kontrolle zu bringen war. König Philipp, der als Pferdeliebhaber bekannt war, lehnte ab. Alexander jedoch bestand darauf, diesen Hengst in Besitz zu nehmen. Er erkannte die Potenziale des Pferdes und hatte beobachtet, dass der Hengst lediglich in ungünstiger Position zur Sonne vorgestellt wurde: er scheute vor seinem eigenen Schatten.

Damit nähern wir uns auch schon der Frage nach dem Geheimnis des Pferdeflüsterns. Der Einblick in die Geschichte von Alexander und Bukephalos verrät: Ein Geheimnis ist es nicht, Pferdeflüstern kann man lernen! Auch Alexander hatte schon damals die Schriften und Lehren des Xenophon über „Reitkunst“ studiert. Mit seinem Wissen über Pferde, seiner Beobachtungsgabe und mit viel Feingefühl hatte er Bukephalos als treuen und starken Partner für sich gewonnen.

In den ursprünglichen Horsemanship-Lehren der Vorzeit finden sich viele Parallelen zu dem, was heute als „Natural Horsemanship“ verstanden und praktiziert wird: ein für beide Seiten stressfreier Umgang miteinander, mit dem Ziel einer natürlichen und harmonischen Partnerschaft zwischen Mensch und Pferd.

Dem Menschen kommt hierbei eine besondere Verantwortung zu. Das klingt selbstverständlicher, als es ist. Nicht allzu selten sind Äußerungen zu vernehmen wie „Mein Pferd versteht mich einfach nicht“ oder „Der ist stur wie ein Esel“. Schwerwiegender wird es, wenn sich Unverständnis in Form von Aggressionen und Wutausbrüchen gegen Pferde richtet oder es zu Verletzungen auf einer oder beiden Seiten kommt. Alldem liegt der Tenor zugrunde: „Das Pferd ist schuld“.

Pferde leben nach den Gesetzen der Natur. Sie folgen ihrer Ideologie, ihren Wertevorstellungen und ihrem Verständnis von Leben, Hierarchie und sozialer Kompetenz. Pferde denken anders als Menschen und sprechen ihre eigene Sprache. Es ist also die Aufgabe des Menschen, sich in die Welt der Pferde hineinzuversetzen, um ein gemeinsames Verständnis zu erlangen.

Diese Sichtweise ist es, die einen Horseman (Pferdeflüsterer) auszeichnet. Er nimmt die Perspektive des Pferdes ein. Ein Horseman denkt wie ein Pferd und versteht den Standpunkt des Pferdes. Ein Horseman weiß, wie eine besondere Beziehung zu Pferden aufgebaut wird, basierend auf Liebe, Sprache und Führungsqualität.

Wie sieht denn nun die Welt aus der Perspektive eines Pferdes aus?

Der amerikanische Horseman Pat Parelli formuliert hierzu folgendes Experiment:

Versetze dich in die Lage eines Pferdes. Du bist ein Fluchttier. Dein ganzes Leben dreht sich darum, nicht als Mittagessen auf irgendeinem Teller zu enden. Deine Augen liegen seitlich am Kopf, sodass du ein Blickfeld von fast 360 Grad hast.

Du kannst potenzielle Raubtiere (dazu gehört für dich auch der Mensch) aus fast jeder Richtung kommen sehen und du hältst immer nach ihnen Ausschau. Du hast einen scharfen Gehörsinn. Jedes Knistern oder unbekannte Geräusch könnte das Annähern eines Raubtieres bedeuten. Für ein Beutetier wie dich kann eine Sekunde des Zögerns den Tod bedeuten.

Du, das Pferd, bist ein überragender Athlet. Dein oberster Überlebensmechanismus ist die sofortige Flucht. Du achtest darauf, dich niemals in begrenzte oder enge Bereiche zu begeben, aus denen der Fluchtweg blockiert sein könnte. Deine Schnelligkeit ist alles, was du hast. Solltest du aber in die Enge getrieben werden, hast du noch eine andere Möglichkeit: um dein Leben kämpfen. Du hast blitzschnelle Reflexe, kannst in einer einzigen Bewegung steigen, herumwirbeln und treten. Normalerweise bist du nicht aggressiv und ziehst die Flucht dem Kampf vor. Wenn du aber keine andere Wahl hast, wirst du alles tun, um dich zu verteidigen.

Fühlst du dich hingegen sicher, suchst du Komfort. Empfindest du Sicherheit und Komfort, möchtest du spielen, denn du bist extrem verspielt und sozial. Futter ist dir am wenigsten wichtig und steht damit am Ende der Liste deiner Überlebensregeln.

Du lebst deshalb in einer Herde. Du folgst vertrauensvoll dem Alpha-Tier deiner Herde, der Leitstute, denn sie verkörpert alles, was einen charismatischen Leader auszeichnet: endlose Geduld, Bestimmtheit, weniger Aggressivität, Beharrlichkeit, emotionale Stabilität, Klarheit, Besonnenheit, Verlässlichkeit, Gerechtigkeit etc. und sie trägt die Verantwortung für Anweisungen und Entscheidungen.

2010-04-Pferde2Diese Geschichte vermittelt schon einen kleinen Eindruck von dem, was Pferde bewegt. Die Einordnung des Menschen als „Raubtier“ und des Pferdes als „Flucht- bzw. Beutetier“ ist ein wesentlicher Punkt. Es ist also kaum verwunderlich, dass ein Pferd als „geborener Angsthase“ der Begegnung mit Menschen zunächst skeptisch gegenübersteht und sich lieber auf seinen eigenen Instinkt oder die Signale seiner Artgenossen verlässt.

Mit den für ein Pferd gefühlten Raubtiereigenschaften des Menschen hängen viele Verhaltensweisen zusammen, mit denen Pferden begegnet wird. Typische Eigenschaften von Raubtieren sind zum Beispiel das auf gerader Linie direkte Zusteuern auf ein Ziel, oder das Krallen ihrer Beute. Im übertragenen Sinne denke man hier an das Einfangen des Pferdes auf der Weide, an das Aufgreifen der Hufe, an den Griff ins Halfter oder in die Zügel. Pferde verzeichnen für dieses – aus ihrer Sicht – bedrohliche Verhalten umgehend Minuspunkte auf ihrer Vertrauensskala gegenüber dem Menschen.

Tatsächlich führen Pferde eine Art Punktekonto, nicht nur gegenüber Menschen, auch untereinander. Jeder Pluspunkt ihres Gegenübers bedeutet ein Stückchen mehr Respekt und ein Stückchen mehr Vertrauen. Ein sehr sensibles Konto, das sehr schnell ins Wanken geraten kann.

Vertrauen und Respekt sind zentrale Themen einer Mensch-/Pferd-Partnerschaft. Sie stehen in direkter Wechselwirkung zueinander. Ohne eine Vertrauensbasis wird sich kein Respekt einstellen. Umgekehrt stellt Respektlosigkeit keine Grundlage für Vertrauen dar. Die Aufgabe lautet also, Vertrauen und Respekt zwischen dem „Beutetier Pferd“ und dem „Raubtier Mensch“ zu entwickeln und zu erhalten. Die richtige Einstellung, Wissen und emotionale Fitness tragen wesentlich zur Lösung dieser Aufgabe bei.

Was bedeutet „richtige Einstellung“? Die Einstellung, die im Umgang mit Pferden funktioniert, ist positiv, natürlich und fortschrittlich. Sie erwartet also grundsätzlich positive Endergebnisse, auch wenn nicht immer gleich alles reibungslos funktioniert. Sie respektiert die Natur des Pferdes und beinhaltet die Bereitschaft zu persönlicher Veränderung, getreu dem Sprichwort: „Damit sich Dinge ändern, muss zuerst ich mich verändern“.

2010-04-Pferde3Die Grundlage für Veränderung ist das Einnehmen einer neuen Sichtweise. Die Aneignung neuen Wissens ist hierzu unerlässlich. Wie zuvor schon erwähnt, nimmt ein Horseman die Perspektive des Pferdes ein. Er entwickelt ein tiefes Verständnis für die Gedankengänge, Lebensphilosophie, Kommunikationsweisen und die Psychologie der Pferde. Unterstützt von pferdegerechten Kommunikationstechniken und Hilfsmitteln wird dieses Wissen auf natürliche Weise in die Mensch/Pferd-Partnerschaft eingebracht.

Durch die Kombination aus richtiger Einstellung, umfangreichem Wissen, Einfühlungsvermögen, Geduld und Kreativität nähert sich ein Horseman mehr und mehr dem „Selbst-Pferd Sein“. Auf diese Weise erhält er zunehmend das Vertrauen und den Respekt der Pferde, bis hin zur Anerkennung als „Leittier“. Das sind die Momente, in denen diese faszinierende Art der Beziehung zwischen Mensch und Pferd entsteht.

Die Devise lautet: „Der Weg ist das Ziel“. Ein Horseman wird man nicht von heute auf morgen. Vielmehr ist es ein Prozess, der Lernbereitschaft, Selbstreflexion und Zeit braucht. Es ist ein herausfordernder und lohnender Weg, denn er führt neben der Freude an der Partnerschaft mit Pferden automatisch zur Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit.

In einer Filmkritik zum „Pferdeflüsterer“ heißt es: „… ein niveauvolles Drama mit moralischem Anspruch und voller emotionaler Reife. Als Darsteller in seiner Rolle des modernen Cowboys führt Robert Redford vor, dass er trotz fortgeschrittenen Alters noch jede Menge Charisma vorzuweisen hat …“.

Sie war ihm anzusehen – diese ausgeprägte Persönlichkeit des Tom Booker. Das Ergebnis eines Prozesses mentaler, emotionaler und physischer Entwicklung. Darin also liegt „das Geheimnis des Pferdeflüsterns“.

Saskia WestphalSaskia Westphal
Psychologische Beraterin, Kinesiologin, Kommunikationswirtin, Expertin für Pferde-Psychologie
postmaster@beratung-kinesiologie.de

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