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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 3/2011

Ach wie gut, dass niemand weiß …

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Verdeckte Botschaften von Märchen in der systemischen Paar- und Familientherapie

© sashpictures - Fotolia.comMärchen (insbesondere die Sammlung der Grimm‘schen Märchen) gelten als tiefgreifende und aussagefähige Geschichten mit hintergründiger Lebensweisheit. Hier gibt es Gut und Böse, Licht und Schatten, Hass und Liebe, Prinz und Bettelmann. Seit hunderten von Jahren regen diese Erzählungen die Phantasie der Leser an – egal ob Kind oder Erwachsener – und vermitteln so subjektive Botschaften. Man identifiziert sich mit dem Helden der Geschichte oder den armen, leidgeprüften Protagonisten in kummervoller, auswegloser Situation.

So wird den Märchen an sich schon immer ein psychologischer Hintergrund beigemessen. Der Ansatz, Märchen eine Bedeutung in der systemischen Therapie zu geben, vor allem in der Familienaufstellung, stammt von Bert Hellinger. Er beobachtete bei seinen Forschungen einen tiefen psychologischen Zusammenhang in Form von Lebensskripten der Klienten in Verbindung zu den einzelnen Märchen. Dies bedeutet, dass hinter einem bestimmten Märchen, das der Klient in seiner Jugend liebte oder aber auch ablehnte oder fürchtete, ein bestimmtes Lebensskript steckt. Und genau dies brachte ihn auf die Idee, die tiefenpsychologischen Bilder der Märchen in die systemische Arbeit mit einfließen zu lassen, da die Zusammenhänge zwischen den Märchen und den Lebensskripten für ihn recht deutlich wurden. Dies ist natürlich – wie alles in der systemischen Arbeit – kein Dogma, aber die Häufigkeit der beobachteten Ähnlichkeiten lässt doch einen verlässlichen Schluss in diese Richtung zu.

Von der Familienaufstellung zur Märchenaufstellung

Die Familienaufstellung nach Hellinger ist eine hervorragende Methode, um unbewusste Verstrickungen, Identifizierungen oder unbewusst übernommene Schuld in einem Familiensystem sichtbar zu machen und aufzulösen. Meist sind es die Jüngsten eines Systems, die von den Vorderen etwas unbewusst aus Liebe tragen. Jeder Mensch trägt ein inneres Bild seiner Familie im Herzen, in der jedes Familienmitglied einen bestimmten Platz einnimmt. Dieses innere Bild kann als Kraftquelle oder als Störfeld in uns wirken.

In jeder Familie gibt es also eine „Ordnung der Liebe”, in der jedes Familienmitglied den gemäßen Platz hat, der Kraft gibt. Ist diese Ordnung verletzt oder im Ungleichgewicht, kann dies zu psychischen und psychosomatischen Störungen, zu Beziehungsschwierigkeiten mit Eltern oder Partner oder zu Entwicklungsblockaden führen.

© Malena und Philipp K - Fotolia.comZu den Ordnungen der Liebe zählen:

  • das Recht auf Bindung (man darf dazugehören)
  • das Recht auf Ausgleich (Geben und Nehmen sind in einem akzeptablen Gefälle)
  • das Recht auf den gemäßen Platz (die Rangfolge)

Dazu kommen folgende Dynamiken:

  • lieber du als ich
  • ich folge dir nach
  • ich sühne für deine Schuld

und natürlich das individuelle Gewissen (was ist z.B. gut und böse nach individueller Ansicht) und das Kollektivgewissen des Systems, für das nur die Kriterien der Ordnungen der Liebe zählen.

In einer normalen Familienaufstellung stellt der Klient seine Herkunfts- oder Gegenwartsfamilie je nach Anliegen auf und es wird versucht, Verstrickungen oder ungesunden Dynamiken auf die Spur zu kommen und einen Lösungsimpuls herauszuarbeiten, der das Bild der guten Ordnung für den Klienten herstellt und so wirken kann. Dies geschieht in Form einer Gruppenaufstellung folgendermaßen: Der Klient schildert dem Therapeuten (Aufstellungsleiter) sein Anliegen und formuliert, was er gelöst haben möchte. Daraufhin wählt der Klient aus den Anwesenden, mit deren Einverständnis, jeweils Stellvertreter für sich und die für die jeweilige Aufstellung benötigten Personen – es können z.B. auch Symptome aufgestellt werden – und stellt sie in Bezug zueinander auf. Dies geschieht rein aus dem Gefühl heraus und nicht über die Ratio. Therapeutisch könnte man sagen, er stellt das Bild, das er in seiner Seele hat.

Die Stellvertreter reagieren nun auf ihren Plätzen in Bewegung und Gefühl wie die Personen, die von ihnen verkörpert werden. Ursache hierfür ist das sogenannte „morphogenetische Feld”, auch „wissendes Feld” genannt. Es ermöglicht den Zugang zum kollektiven Bewusstsein und dem Wissen um die Gefühle und Zusammenhänge der jeweiligen Familienstruktur. Dieses Phänomen ist es, was dem Familienstellen Möglichkeiten eröffnet, die über normale Gesprächstherapie hinausgehen. Allerdings wird dieses Phänomen von Kritikern auch immer wieder in Frage gestellt, da es faktisch nicht ganz wissenschaftlich erklärbar ist.

Der weitere Verlauf einer Aufstellung stellt sich folgendermaßen dar: Die Stellvertreter agieren und interagieren nun durch ihre Empfindungen zueinander, der Aufstellungsleiter interveniert und führt zielgerichtet und lösungsorientiert. So kann in vielen Fällen eine gute Lösung für den Klienten gefunden werden, die direkt auf seine Seele wirkt. Bahnt sich eine Lösung in der Aufstellung an, wird der echte Klient vom Aufstellungsleiter aus seiner bis dahin beobachtenden Position mit dem Klientstellvertreter ausgetauscht, d.h., der Klient steht fortan in der Aufstellung und wird selbst an der Lösung beteiligt, was viel nachhaltigere und tiefere Wirkung hat.

Es kommt allerdings nicht immer zu einer Lösung, wobei auch Aufstellungen, die abgebrochen werden müssen oder momentan keine greifbare Lösung zeigen, eine gute Wirkung haben und einen Prozess in Gang setzen können. Wichtig ist nach Beendigung der Aufstellung auch, dass der Klient die Stellvertreter wieder aus ihren Rollen entlässt, sozusagen „entrollt”.

Die Arbeit mit Figuren oder Bodenankern funktioniert genau nach diesem Schema, allerdings sind der Klient und der Therapeut in einem geschützten Rahmen (Praxis) allein. Als Stellvertreter dienen dann besagte Figuren. Diese Form der Arbeit wird notwendig, wenn der Klient sich nicht vor fremden Personen öffnen kann oder will.

Die Märchenaufstellung ist eine Abform dieses Stellens und kann in der Praxis in Einzelarbeit (Figuren, Scheiben) oder in der Gruppe eingesetzt werden. Folgende Möglichkeiten stehen zur Verfügung:

1. Märchen zur Information des Aufstellungsleiters

Vor einer normalen Aufstellung fragt der Aufstellungsleiter nach dem Lieblingsmärchen des Klienten – welche Protagonisten waren für ihn besonders beeindruckend, mit wem hat er sich identifiziert? Auch sind Märchen, die abgelehnt wurden, von Bedeutung. Aus diesen Informationen kann er eventuell bereits ein bestehendes Lebensskript bzw. einen Ansatz feststellen, nach dem er dann gezielt im Verlauf der Aufstellung intervenieren kann.

2. Die direkte Märchenaufstellung

Diese Methode funktioniert im Prinzip genau nach obigem Muster, allerdings stellt der Klient die wichtigen Personen des jeweiligen Märchens nach seinem Gefühl auf. Wichtig für den Aufstellungsleiter ist, welche Personen oder Tiere etc. gestellt werden, welche Position bzw. Rolle oder Person der Klient selbst für sich dabei einnimmt und wie die Bewegungen der Stellvertreter ablaufen. In der Regel ist schon bald das Lebensskript erkennbar und es kann gezielt interveniert werden.

Eine beispielhafte Auswahl

Der Froschkönig (Thematik Partnerschaft)
Ekel vor dem Partner und der Sexualität mit ihm – er wird nicht oder nur mit Ablehnung genommen. Im System gibt es eventuell einen Mann, der abgelehnt wurde.

Hänsel und Gretel (Thematik Eltern/ Kinder)
Kinder wurden aus sozialen Gründen weggegeben.

Dornröschen (Thematik frühere Partner eines Elternteiles)
Der Vater z.B. verleugnet eine frühere Partnerin oder Ehefrau (hier die 13. Fee), die dann das Kind „verzaubert”, das Kind identifiziert sich gewissermaßen mit dieser Partnerin.

Aschenputtel (Thematik Eltern/Kinder)
Schwacher Vater, dominante Mutter und Bevorzugung von Jüngeren, auch Patchwork.

Rumpelstilzchen (Thematik Eltern/Kind oder Familiengeheimnis)
Das weggegebene Kind oder ein Tabu. Etwas Grausames, das keiner wissen darf („Ach wie gut, dass niemand weiß …”), z.B. Abtreibungen, Psychosen oder auch NS-Verbrechen in der Familie – ein differenziertes, behutsames Vorgehen ist hier notwendig.

Rotkäppchen (Thematik Missbrauch, emotional oder körperlich)
Verführungsthematik zwischen einem weiblichen Enkelkind und dem Großvater väterlicherseits oder Onkel (der böse Wolf) – hier sollte besonders sensibel vorgegangen werden – keine Interpretationen!

Der Wolf und die sieben Geißlein (Thematik getrennte Eltern/Kinder)
Die Mutter grenzt den Ex-Partner in seiner Vaterrolle aus – alles von ihm ist schlecht.

Hans im Glück (Thematik Verlust)
Meist hat jemand in der Familie alles verloren.

Dies ist eine kleine Auswahl wichtiger Thematiken, die in der Praxis oft genannt werden. Ich arbeite sehr gerne mit dieser Form der Aufstellung, da sie einen tiefen Einblick in das Lebensskript des jeweiligen Klienten ermöglicht und gute Lösungsimpulse präsentiert. Ein weiterer Vorteil besteht darin, im Familienstellen unerfahrenen Klienten mithilfe des „spielerischen” Einstiegs über das Märchen die Angst bzw. Bedenken zu nehmen und trotzdem sehr tiefgreifende Anhaltspunkte für eine gute Lösung zu erhalten.

Jürgen Zeuner
Jürgen Zeuner
Heilpraktiker für Psychotherapie in eigener Praxis für systemische Paar- und Familientherapie
praxis@mensch-und-bewusstsein.de

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