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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 3/2012

Von der Brutalität der Opfer

Cover

Ist Hilfsbereitschaft schädlich?

© gudrun - Fotolia.comDiese Frage stelle ich mir schon seit Jahren immer wieder: Was nutzt dem Menschen, was schadet ihm? Wenn jemand Hunger hat und ich gebe ihm zu essen, dann ist das eigentlich ein feiner Zug von mir. Aber uneigentlich kann es sein, dass ich ihm damit das Gefühl gebe, es sei leicht, an Essen zu kommen. Ich kann unter Umständen dadurch verhindern, dass er sich eine Arbeit sucht. Tue ich das immer und immer wieder, nehme ich ihm möglicherweise die Chance zu lernen, sich selber zu versorgen. Bin ich dann schuld daran, dass derjenige nicht lernt? Bin ich dafür verantwortlich, ob sich jemand anders versorgen kann oder nicht? Muss ich, bevor ich jemandem zu essen gebe, darüber nachdenken, ob es jetzt gut oder schlecht für den anderen ist? Das würde ja bedeuten, dass ich so oder so verantwortlich bin. Verantwortlich für das Überleben des anderen. Ihr dürft ab sofort Gott zu mir sagen!

Eine Klientin aus Hamburg erzählte mir, ihre Mutter sei aufgrund einer Psychose obdachlos geworden. So kam es, dass die Mutter mit ihren Tüten immer wieder vor ihrer Türe erschien und um Unterschlupf bat. Es fiel der Tochter schwer, aber sie schickte die Mutter immer wieder weg, mit der Erklärung, dass sie genau wisse, es würde nicht bei einer Nacht bleiben. Wie schrecklich muss sich das anfühlen, wenn eine Tochter das tun muss? Oder war die Tochter hartherzig? Müsste man sagen, na ja, die Mutter kann doch nicht anders? Wenn die Tochter die einzige Ansprechpartnerin ist, dann muss sie sich doch kümmern. Oder ist die Mutter dafür verantwortlich, dass sie die Tochter in unmenschliche Gewissenskonflikte stürzt? Hat sie je darüber nachgedacht, welch unglaubliche Belastung sie für ihre Tochter durch das eigene Versagen ist? In der Regel müssen psychotische Menschen nicht über so etwas nachdenken, denn sie sind ja krank – Gott sei Dank.

© Susanne Güttler - Fotolia.comIrgendwann starb die Mutter, irgendwo unter einer Brücke, unbemerkt. So, wie es oft geschieht mit Obdachlosen, denen niemand mehr Aufmerksamkeit schenkt. Symptome unserer hartherzigen Gesellschaft? Inwieweit wäre es die Aufgabe der Tochter gewesen, die Mutter am Leben zu halten? Die Tochter ist ja gesund. Sie ist nur unglücklich und hatte eine harte Kindheit mit einer psychotischen Mutter … Aber ein bisschen Gott könnte doch trotzdem jede Tochter für ihre Mutter sein, oder? Das Bewusstsein erweitert sich in der Regel nur, wenn es muss. In der Komfortzone schaltet es auf Stand-by, lehnt sich zurück und wartet auf bessere Zeiten. Nur wer unter Druck steht, lernt dazu. Nur, wer vor einer unlösbar erscheinenden Situation steht, findet völlig neue Lösungen und Einsichten. Intelligenz ist nur unter dem Druck der Herausforderung notwendig, ansonsten siegt die Bequemlichkeit. Aber intelligente Lösungen fordern Entscheidungen. Dabei hat der Mensch – wie im Märchen – drei Möglichkeiten:

  1. Die Entscheidung für das Versorgtwerden, also die Suche nach jemandem, „der es richtet“ (Krankheit, Psychose, Versorgung durch den Staat oder andere).
  2. Die Entscheidung für die Resignation, das Aufgeben (Tod).
  3. Die Entscheidung für eine Lösung aus eigener Kraft.

Dabei spielt eine große Rolle, inwieweit ein Individuum bereit ist, ohne die Aufmerksamkeit durch andere eine erwachsene Lösung zu finden. Es ist der schwerste und anstrengendste, aber auch lohnendste Weg. Auch wenn der Satz „Hörner runter und durch!“ hart klingt, so deutet es doch auf die Entscheidung hin, trotz erlebter Negativität weiter zu machen. Es ist die Entscheidung, Unangenehmes auszuhalten, die Entscheidung, den Widerstand gegen das Leben aufzugeben – und damit sind wir bei einem wichtigen Punkt: Den Widerstand aufgeben gegen etwas, was auf den ersten Blick unangenehm erscheint, auf den zweiten jedoch unsere Lernchance darstellt. Was ist, wenn alles Leiden nur eine hartnäckig um Aufmerksamkeit ringende Lernchance ist? Wer sagt „Ich habe doch alles getan, aber es klappt nicht!“, der ist im Widerstand. Der Widerstand ist nur solange möglich, so lange die momentane Situation angenehm genug ist. Nur wer sich zu seinem Glück zwingen kann, wird irgendwann auch glücklich werden. Unter diesen Umständen wird Zwang zu etwas Positivem.

Wie schon öfter bemerkt, ist die Armes-Ich-Situation nicht die schlechteste. Wir müssen anerkennen, dass 70% der Bevölkerung recht gut damit fährt, weil der Rest der Suppe über Moralpredigten dazu gebracht wird, Nächstenliebe zu leben. Aber wer auf sein Recht auf Versorgung pocht, zieht auf Dauer den Kürzeren. Der Mensch, der sich als Erwachsener dauerhaft versorgen lässt, wird unzufrieden, schwach und depressiv. Nur selber machen und schaffen macht glücklich, stark und zufrieden. Ist also Nächstenliebe schlecht? Nein, ist sie nicht. Wer lange aus Nächstenliebe handelt, wird eine hohe Form des Verantwortungsbewusstseins entwickeln, und dadurch stärker werden. Ja, es kann sein, dass der, der aus Nächstenliebe handelt, dem Gegenüber ermöglicht, es sich bequem zu machen und seinen Prozess zu vermeiden. Aber das bedeutet nicht, dass der, der Nächstenliebe gelebt hat, deswegen schuld ist am Versagen des Gegenübers. Für das Versagen ist immer der Betreffende selber verantwortlich, denn er hat das Versagen von Anfang an geplant. Wer sein Versagen geplant hat, hat auch geplant, andere auszunutzen.

Es gibt Menschen, die entscheiden sich für das Versagen. Es gibt Menschen, die entscheiden sich für das Nichtgewinnen, und diese Nichtgewinner und Versager aus Entscheidung ziehen immer andere mit ins Verderben. Wer sich in Selbstmitleid und Unfähigkeit begibt, nutzt automatisch die aus, die ihn oder sie lieben wollten. Ich gehe so weit zu postulieren, dass Hilfsbereitschaft das Recht hat, auf Verbesserung und Veränderung der Situation zu bestehen. Wer sich der Hilfsbereitschaft verweigert, ist lieblos und hartherzig. Tatsächlich hat jede Regression, also das Zurückfallen in die Kindhaftigkeit, auch immer etwas Aggressives an sich. Wer Hilfe von anderen bekommen hat, ist verpflichtet, an seiner Situation etwas zu verändern, denn sonst zwingt er den Hilfsbereiten, immer weiterzumachen. So zieht er/sie dem Hilfsbereiten bis zur völligen Erschöpfung die Energie in Form von Aufmerksamkeit oder materiellen Gütern ab. Die Drohung ist: „Wenn du aufhörst, für mich zu sorgen, werde ich sterben/ pleite gehen/untergehen.“ Das kann eine brutale, harte Drohung sein, denn nur Unmenschen ist es egal, ob es dem anderen schlecht geht. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, was man tun kann, wenn jemand sagt „Du, mir ist einfach das Leben zu schwierig, und ich werde jetzt sterben.“ Vielleicht sollte man dann eine neue Verhaltensweise erfinden? So wie die Aborigines: Man feiert ein Abschiedsfest, den Abschied vom Leben. Was wäre in dieser Welt anders, wenn es das gäbe? Was wäre, wenn es gesellschaftlich anerkannt wäre, dass das „Nein“ zum Leben eine akzeptierte Form der Lebensentscheidung ist?

Warum müssen denn immer alle Erfolg haben? Kann man denn nicht einfach sagen „Entscheide doch, ob du leben willst oder nicht.“ Du hast drei Möglichkeiten: sterben, dümpeln oder leben. Was willst du? Freiheit hat doch nur der, der auch sterben oder dümpeln darf. Es muss nur klar sein, dass die anderen daran absolut nichts ändern können. Aber sie sind dann auch nicht für sein oder ihr Wohlbefinden zuständig. Alleine die klare und unverrückbare Entscheidung für das Leben bewirkt Wunder. Wunder kann nur der erleben, der sich für das Leben trotz allem entschieden hat. Wer auf Wunder wartet, um davon abhängig zu machen, wie er sich entscheiden wird, hat mit Zitronen gehandelt. Erst Entscheidung, dann Wunder. Das ist der Deal und nichts anderes, denn der Geist herrscht über die Materie.

Mag sein, dass in unserer komplizierten Gesellschaft zu wenig Menschen wissen, wie man Verantwortung zu verstehen hat. Eltern haben in der Regel keine Ahnung, wie man Kindern beibringt, auf vernünftige Art und Weise Verantwortung zu tragen, und die Mehrheit unserer Lehrer ist weit davon entfernt, an diesem Dilemma etwas ändern zu können. Politiker geraten sofort ins Kreuzfeuer der Kritik, wenn sie auf Eigenverantwortung pochen, denn das Massenbewusstsein ist der Meinung, dass die, die leisten, für alle anderen mitleisten, und die Reichen den Armen geben müssen. Wer hat und nicht versorgt, ist böse. Das Massenbewusstsein will nichts von Eigenverantwortung wissen und deswegen ändert es auch nichts. Dummerweise ist dem Leben egal, was das Massenbewusstsein sagt. Das Leben verlangt vom Individuum, eigenverantwortlich zu werden. Daraus kann man schlussfolgern, das Leben sei hart. Aber man kann daraus auch schließen, dass das Leben konsequent, und versagen verboten ist. Wer das kapiert hat, kommt gut durch.

Es gibt eine Verpflichtung, das Versagen zu überwinden, denn es ist jedem möglich. Jeder kann aus seiner Situation das Beste machen. Das Internet ist voll von Information, wie das gehen kann. Es gibt Beratungen, Beispiele, Hilfestellungen noch und nöcher. Aber all das, was gut meinende Menschen zur Verfügung stellen, all die Bereitschaft, alle Fürsorge und Freundlichkeit wird scheitern, wenn nicht eine Entscheidung gegen das Opfer-Dasein getroffen wird. Niemand ist arm. Niemand ist hilflos. Niemand ist unfähig. Niemand ist zum Versagen verdammt. Jeder hat einen Willen. Jeder hat Entscheidungskraft. Jeder kann für sich sorgen, wenn er will. Jeder kann die Probleme, die sich ihm stellen, lösen. Und deswegen hat jeder die Pflicht, seine Versagenswünsche zu überwinden. Der Unterschied zwischen reich und arm, zwischen glücklich und unglücklich, zwischen gesund und krank kann erst überwunden werden, wenn sich absolut niemand mehr erlaubt zu versagen. Erst dann kann Hilfsbereitschaft fruchten. Daraus ergibt sich allerdings die logische Konsequenz, dass sich der Dauer-Hilfsbereite angewöhnen muss, auf sein Recht auf Verbesserung zu pochen.

Soll dieser Text zum grenzenlosen Leistungszwang einladen? Nein, aber er soll Leistungslust wieder erlauben und ein Plädoyer für die Eigenverantwortung sein. Er ist ein gütiges „Ja“ zur Härte des Lebens, weil eine Versöhnung mit der Härte dazu führt, dass sich eine Weisheit erschließen darf. Diese Weisheit wünscht sich eine selbstständige, eigenverantwortlich handelnde Menschheit, die gut für sich und andere sorgen kann. Gütig kann nur sein, wer mit beiden Beinen im Leben steht und etwas zu geben hat. Kinder sind bedürftig. Verantwortungsbewusste Menschen sind gerne für andere da – wenn dadurch etwas besser wird.

Tina Wiegand
Tina Wiegand
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Führungskräftecoach
tina.wiegand@soulfit.de

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