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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 6/2012

Rhodiola rosea in der naturheilkundlichen Praxis

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© emer - Fotolia.comDie Liste der Pflanzen und Phytopharmaka, die für sich den Anspruch erheben, gegen Depressionen, Stress und Angst zu wirken, ist lang. Viele Erkenntnisse stammen jedoch aus empirischen Berichten, Anwendungsbeobachtungen und übermittelten, teilweise antiquierten Beschreibungen. Nicht immer können evidenzbasierte Studien die Wirkungen unterstützen.

Um das zu ändern, möchte die strenge Europäische Arzneimittelbehörde EMA Monografien erlassen, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Das HMPC-Komitee (Committee on Herbal Medicinal Products) erfasst den aktuellen Kenntnisstand zu pflanzlichen Substanzen und bereitet die Daten wissenschaftlich auf. Die Monografien repräsentieren den harmonisierten Stand der Bewertung und sind das Ergebnis eines Diskussionsprozesses, der die verschiedenen Traditionen in den Mitgliedsstaaten der EU widerspiegelt. Pflanzen zur Stärkung und psychischen Stabilisierung stehen nun im Fokus wissenschaftlicher Überprüfung (siehe Tab. 1).

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„Tatsächlich hat in den letzten Jahren die Pflanze aus der Familie der Crassulaceae, die in kalten Regionen der Erde wächst, viele Wirkungen gezeigt, die mit dem Begriff Adaptogen kompatibel sind“, so das Resümee von Priv.-Doz. Dr. Werner Knöss vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in seiner Stellungnahme zu den HMPC-Monografien. Grund genug, sich näher mit dem Thema Adaptogene und Rhodiola rosea zu beschäftigen.

Die Bezeichnung „Adaptogen“ wurde vom russischen Wissenschaftler Dr. Nicolai Lazarev bereits im Jahr 1947 geprägt. Der Pharmakologe bezeichnet damit natürliche Substanzen, die die Resistenz des Körpers gegenüber Stress erhöhen. Weltweit wurden nur fünf Pflanzen als Adaptogen klassifiziert, welche die vier Kriterien (lt. EMA 2007) für Adaptogene erfüllen:

  • Stärkung des Widerstands gegen unerwünschte physikalische, chemische und biologische Einflüsse (Stress)
  • normalisierender Einfluss unabhängig von der Richtung der vorausgegangenen pathologischen Veränderungen
  • nicht toxisch, möglichst geringe Beeinträchtigung anderer Körperfunktionen
  • die Wirkung ist umso ausgeprägter, je tief greifender die pathologischen Veränderungen im Organismus sind

Rhodiola rosea wird von der EMA (Europäische Arzneimittelagentur) als Adaptogen eingestuft.

Adrenalin und Cortisol als Übeltäter

Adaptogene greifen in den Stoffwechsel von Adrenalin und Cortisol ein und versetzen den Organismus in die Lage, sich Umweltfaktoren gegenüber besser anzupassen. Adaptogene aktivieren milde das Stresssystem und befähigen den Körper, exogenen Stress besser bewältigen zu können. Sie beeinflussen neben Adrenalin, Dopamin, Serotonin auch Cortisol, Stickstoffmonoxid und stressaktivierte Proteinkinasen. Wie komplex das Stressgeschehen ist, wird erst durch neuere Studien klar, die noch viele weitere Faktoren identifizieren, die für die neurochemische Balance wichtig sind. Stickoxid, Beta-Endorphine, molekulare Chaperone sowie stressaktivierte c-Jun N-terminale P Proteinkinasen (SAPK) sind nur einige von ihnen. Zukünftig müssen sich Adaptogene daran messen lassen, wie und in welchem Umfang sie in dieses Transmittermobile eingreifen.

Die Pflanze: Rhodiola rosea (Rosenwurz)

Die 5 bis 35 cm hohe Rhodiola rosea L. gehört zur Familie der Dickblattgewächse (Crassulaceae). Volkstümliche Bezeichnungen sind Rodia Riza, Goldwurzel, King‘s Crown, Hong Jing Tian. Sie ist ursprünglich in arktischen Regionen beheimatet, kommt besonders in Alaska, Skandinavien, Sibirien sowie in alpinen Zonen der europäischen Hochgebirge vor. Wegen des rosenartigen Geruchs gab der schwedische Botaniker Carl von Linné dieser Pflanze den Namen Rhodiola rosea. Seit mehr als 40 Jahren ist die Heilpflanze fester Bestandteil der offiziellen Medizin der Sowjetunion. In Schweden wurde Rhodiola rosea im Jahr 1985 als pflanzliches Medizinprodukt eingeführt und im Phytomedizinischen Handbuch für Pharmazeuten als Mittel gegen Müdigkeit und Abgeschlagenheit beschrieben. In der Schweiz wurde kürzlich ein Phytopharmakon mit Rosea-Extrakt zugelassen.

Die Inhaltstoffe: Rosavin & Co

Die Inhaltstoffe der Wurzeln von Pflanzen unterschiedlicher Herkunft unterscheiden sich deutlich. Insgesamt können bis zu 86 flüchtige Substanzen im Rhizom nachgewiesen werden, welche 0,5 mg/g des Trockengewichts des Rhizoms ausmachen, Phenylpropanoide, Phenylethanoide, Flavonoide, Monoterpene, Triterpene und phenolische Säuren. Die erste Generation (~1970) von Rhodiola rosea Extrakten wurde auf 0,8% Salidrosid standardisiert. Damals wurde angenommen, dass Salidrosid der Hauptwirkstoff sei.

In den späten 1980er-Jahren erkannte man, dass andere Rhodiola-Arten ebenfalls Salidrosid enthielten, aber pharmakologisch unwirksam waren. Dubichev und Kollegen identifizierten Rosavin, Rosarin und Rosin als spezifische Inhaltstoffe der Wurzel von Rhodiola rosea. Auch die oberirdischen Pflanzenteile enthalten Salidrosid, Rosavin, Rosarin und Rosin. Der Gehalt in den Blättern beträgt etwa ein Viertel von dem in der Wurzel. Die empfohlene Dosierung von Rhodiola rosea Produkten ist abhängig von der Standardisierung (Rhodiola rosea. Monograph. 2002). Für eine chronische Aufnahme von Rhodiola rosea Extrakten werden folgende Mengen pro Tag empfohlen:

  • 360 bis 600 mg Extrakt standardisiert auf 1% Rosavin
  • 180 bis 300 mg Extrakt standardisiert auf 2% Rosavin
  • 100 bis 170 mg Extrakt standardisiert auf 3,6% Rosavin

Mit der Einnahme sollte einige Wochen vor dem Stress begonnen und sie sollte während dieser Zeit fortgeführt werden.

Die Datenlage: Evidenz nimmt zu

In einer Studie von Panossian et al. (2011) wurde die Wirkung von Rhodiola rosea Extrakt auf das Neuropeptid Y (NPY) untersucht. Dabei handelt es sich um ein Hormon, das im zentralen und peripheren Nervensystem in die Stressverarbeitung eingebunden ist. Ein hoher NPY-Spiegel wurde beispielsweise bei gestressten Soldaten und Depressiven gefunden. Das Testpräparat, das auch Rhodiola enthielt, wirkte sich regulierend auf NPY und andere Faktoren im Zellversuch aus.

Rhodiola senkt Stressmarker

Eine weitere Studie von Panossian et al. zeigt, dass bei Hasen, die zwei Stunden lang erheblichem Stress ausgesetzt wurden, drei Mediatoren der Stressreaktion – phosphorylierte, stressaktivierte Proteinkinase, Stickstoffmonoxid und Cortisol – signifikant erhöht wurden (um 200 bis 300% des Ausgangslevels). Nach einer siebentägigen Behandlung mit Rhodiola rosea zeigte sich, dass der Rhodiola rosea Extrakt das weitere Ansteigen dieser biochemischen Marker nach akutem Stress verhinderte. Dieser Bericht nennt Rhodiola rosea als interessante, sehr vielversprechende „adaptogene Pflanze“. DAF-16, Cortisol, NO und HSP72 wurden im Tiermodell beeinflusst.

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Auch MAO wird beeinflusst

Eine Studie von Diermen et al. (2009) zeigte, dass Rhodiolaextrakte als Hemmstoff der Monoaminooxidase (MAO) wirkt. Diese Inhibition des abbauenden Enzyms wirkt sich günstig auf das bei Stress und Depression verstellte neurobiologische Gleichgewicht der Transmitter Noradrenalin, Acetylcholin, Serotonin und Dopamin aus. Außerdem macht es die Blut-Hirn-Schranke für Dopamin und Serotonin durchlässiger und senkt den bei Stress erhöhten Cortisolspiegel.

Fatigue wird gebessert

Olsson zeigte in einer anderen Untersuchung die Wirksamkeit des Extraktes gegen Stress und Müdigkeit. Die Phase-III-Studie wurde in Form einer randomisierten, placebokontrollierten Doppelblind- Studie mit parallelen Gruppen durchgeführt. Die Teilnehmer, Männer und Frauen zwischen 20 und 55 Jahren, wurden nach den Kriterien des schwedischen National Board of Health and Welfare für Müdigkeit ausgewählt. Es wurde festgestellt, dass die wiederholte Verabreichung von Rhodiola-rosea-Extrakt einen analeptischen Effekt ausübt und die geistige Leistungsfähigkeit, insbesondere die Fähigkeit sich zu konzentrieren, steigert. Begleitend wurde ermittelt, dass die unter Stress steigenden Cortisolspiegel sinken. Dies könnte auch eine Erklärung für den immunmodulierenden Effekt sein. Außerdem stellten die Untersucher einen Effekt bei Patienten mit Burnout- und Fatigue-Syndrom fest.

Indikation mit Zukunft: Subsyndromale Angststörung

Angst, Phobie, Panik! Dies sind nur einige Angststörungen im ICD-10 und DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders). Verhältnismäßig wenig bekannt ist die subsyndromale Angststörung. Die Erkrankung ist weit verbreitet, hat eine Lebensprävalenz von 5 bis 7% und entkräftet die betroffenen Patienten psychisch.

Carter et al. definiert die subsyndromale GAS („subthreshold generalized anxiety disorder“ [GAD]) als Sorge („worry“), die für mindestens drei Monate besteht und die mindestens zwei der folgenden DSM-IV-Kriterien erfüllen muss:

  • unkontrollierbare Sorge
  • drei oder mehr assoziierte körperliche Symptome
  • klinisch signifikante Beeinträchtigung

Der Unterschied zu einer vollständig ausgeprägten GAS besteht darin, dass beispielsweise die unkontrollierbare Sorge nicht mehr zwingend vorhanden sein muss. Es müssen nur zwei der genannten drei Punkte erfüllt sein, bei der GAS sind es alle drei. Außerdem ist die Dauer von mindestens sechs Monaten im SMD-IV auf drei Monate reduziert. Unter den betroffenen Patienten ist die Akzeptanz einer komplementären Therapie sehr groß (Kessler et al. 2001). Etwa 57% der Patienten mit Angststörungen und 54% der Patienten mit einer Depression gaben in einer Befragung von 2 055 Patienten an, auf pflanzliche und alternative Behandlungsmethoden zu vertrauen.

Bystritsky et al. erhob klinische Daten über die Wirksamkeit und Sicherheit von Rhodiola rosea in der Behandlung der generalisierten Angststörung. Nach der Rekrutierung und der Baseline-Visite begann die zehnwöchige, offene Behandlung mit Rhodiola-rosea-Extrakt. Folgende Parameter wurden signifikant gebessert: Hamilton Anxiety Rating Scale (HARS), Four Dimensional Anxiety and Depression Scale (FDADS) und die Hamilton Depression Rating Scale (HDRS).

Die Risiken: Blausäure?

Eine Arbeitsgruppe hat in der Wurzel 0,12 mg/g das Cyanoglykosid Lotaustralin nachgewiesen (Akgul et al., 2004). Aus Cyanoglykosiden entsteht durch Verletzung des Pflanzenmaterials und der damit verbundenen Freisetzung von Glykosidasen Blausäure. Dieser Prozess kann durch eine Inaktivierung der Enzyme (z. B. Hitzeinaktivierung durch Kochen) verhindert werden. „Aus den verfügbaren Humanstudien, in denen Tagesdosen von 100 bis 1 800 mg Rhodiola rosea (meist als Wurzelextrakt) untersucht wurden, lässt sich kein Gefährdungspotenzial ableiten“, so das Resümee vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) in der Expertise „Risikobewertung von Pflanzen und pflanzlichen Zubereitungen“ (2012).

Resümee

Das Projekt, evidenzbasierte Monografien für Pflanzen und Phytopharmaka zu etablieren, ist längst überfällig. Aus der Klasse der Adaptogene zeichnet sich Rhodiola rosea durch einen multifaktoriellen Angriff der biochemischen Stressorenkaskade aus. Zunehmend werden valide Arbeiten publiziert, die die Empirie untermauern.

Matthias Bastigkeit Matthias Bastigkeit
Dozent für Pharmakologie & Medizinjournalist (DJV)
Bastigkeit@aol.com

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