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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 1/2013

„Hilf mir, es selbst zu tun!”

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Maria Montessori und die Kosmische Erziehung

2013-01-Montessori1Viele Eltern sind mit unserem staatlichen Schulsystem nicht einverstanden. Vielleicht weil sie von diesem nicht überzeugt sind oder weil sie merken, dass ihr Kind dort unglücklich ist. Eine gute Alternative hierzu bieten die Montessori-Schulen, die es bundesweit in fast jeder größeren Stadt gibt.

Ich habe in Gesprächen mit Eltern, beim Hospitieren und Arbeiten in verschiedenen Schulen und beim Recherchieren im Internet allerdings feststellen müssen, dass es viele Missverständnisse bezüglich der Montessori-Pädagogik gibt. Leider schreiben sich viele private Schulen und auch Kindergärten „Montessori“ auf ihre Fahne, haben sogar vielleicht einiges an Montessori-Materialien in ihren Regalen. Aber: Nicht überall, wo Montessori draufsteht, ist auch Montessori drin!

Kosmische Erziehung

„Der Begriff Kosmische Erziehung ist in der pädagogischen Fachsprache, außer in der Montessori-Pädagogik, nicht geläufig. Was ist mit diesem Terminus gemeint? Maria Montessori entwickelte ihn seit etwa Mitte der 1930er Jahre für ein umfassendes Erziehungskonzept, in dem es ihr um die Stellung des Menschen im Kosmos und in der Gesellschaft ging, um das Verständnis des Menschen für die Interdependenzen der Phänomene der Natur und der Kultur sowie um die Verantwortung, die sich aus dieser Einsicht für jedes Individuum ergibt. Wenn Erziehung, wie Montessori es ausdrückte, ‚als Hilfe zu Leben verstanden werden solle, dann müsse sie die heranwachsenden Kinder darin unterstützen, ihren Platz in der Evolution der Erde und des Lebens wie auch in der Geschichte der menschlichen Entwicklung zu erkennen, um ihn als Erwachsene verantwortungsbewusst ausfüllen zu können‘.“(1)

2013-01-Montessori2Maria Montessoris Erziehungskonzept ist nicht einfach eine Pädagogik, die sich nur auf das Kind konzentriert. Durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war sie zusammen mit ihrem Sohn Mario gezwungen, ihren Aufenthalt in Indien um fast sieben Jahre zu verlängern. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass die Idee der Kosmischen Erziehung ausgerechnet dort entstand.

Ihr großes Bestreben bestand darin, nicht einfach nur ein Erziehungskonzept zu entwickeln, sondern das Kind von Grund auf zu verstehen und ihm die Möglichkeit zu geben, sich so zu entfalten, wie es ihm entspricht. Ein Kind, das gemäß seinem inneren „Bauplan“ zu einem Erwachsenen heranreift, kann wahrlich ein gutes und zufriedenes Leben führen. Sie war davon überzeugt, dass dies absolut notwendig ist für den positiven Fortschritt der Menschheit und für den Frieden der Welt: „Um eine Vorstellung davon zu geben, was wir unter ‚Kosmischer Erziehung’ verstehen, muss kurz der Hintergrund dieser Frage berührt werden, d.h. die ‚Kosmische Theorie’. Diese kennt in der ganzen Schöpfung einen einheitlichen Plan, von dem nicht nur die verschiedenen Formen der Lebewesen, sondern auch die Entwicklung der Erde selbst abhängt.“ (2)

Für Montessori war klar: Es ist wesentlich einfacher, ein stabiles, zufriedenes und ausgeglichenes Erwachsenenleben zu führen, wenn man als Kind die Möglichkeit hat, diese Eigenschaft in vollen Maßen kennenzulernen und zu verinnerlichen.

Ein Kind, bei dem die individuelle Entwicklung berücksichtigt und dem eine vorbereitete Umgebung zur Verfügung gestellt wird, hat alle Voraussetzungen, um ein unabhängiges verantwortliches Leben zu führen, welches ihm entspricht. Die Kosmische Erziehung ist fest verankert in diesem Konzept und zieht sich wie ein roter Faden durch alle Lebensphasen. Durch sie hat das Kind u.a. die Möglichkeit zu erkennen, welche Stellung der Mensch im Kosmos hat, welche Zusammenhänge zwischen Natur und Kultur bestehen und welche Verantwortung sich daraus ergibt.

Wenn dem Kind bewusst wird, wie die vielen Einzelheiten zusammenwirken und wie sie sich zu einem großen Ganzen vereinen, wird das Staunen in ihm auslösen und den Wunsch, darin seinen Platz einzunehmen und seine Aufgabe zu erfüllen. Für Montessori und ihre Anhänger ist diese Vorstellung absolut einleuchtend und viel schöner und erstrebenswerter, als die Kinder zu einem funktionierenden Bürger zu drillen.

Die richtige Einstellung zum Kind

Ein Kind sollte von Anfang an, also schon als Baby, als freies unabhängiges Wesen verstanden und geachtet werden. Das Kind hat einen natürlichen Drang zu lernen. Wenn man dem Kind das Material bzw. die Umgebung dafür bietet, wird es sich all das selbst erarbeiten, was es braucht, um sich gemäß seiner Persönlichkeit zu entwickeln. „Man sollte verstehen, dass sich echtes Interesse nicht erzwingen lässt. Daher sind alle Erziehungsmethoden falsch, die auf Interessenzentren basieren, die von Erwachsenen ausgewählt werden.“ (3)

Es geht dabei nicht um antiautoritäre Erziehung. Montessori war überzeugt, dass echte Freiheit ohne Disziplin undenkbar ist. Wer einmal eine (wahrhaftige) Montessori-Schule erlebt hat, stellt mit Erstaunen fest, wie diszipliniert die Kinder dort arbeiten.

Ich habe oft Klassen mit ca. 20 Kindern verschiedener Altersstufen erlebt, die an 20 verschiedenen Themen arbeiteten. Dabei muss es nicht immer ruhig zugehen. Oft bilden sich Gruppen aus Kindern von der 1. bis zur 4. Klasse. Die Kleinen lernen von den Großen und die Großen lernen, Rücksicht auf die Kleinen zu nehmen. Die Lehrerin sieht man oft bei einem oder mehreren Kindern, um eine Einführung in ein Thema zu geben.

Montessori war auch davon überzeugt, dass das Kind schon alles mitbringt, was es braucht, um sich zu einer eigenständigen Persönlichkeit zu entwickeln, und Baumeister seiner selbst ist. Damit es sich voll entfalten kann, bedarf es nur der richtigen Umgebung.

Im Kinderhaus (Kindergarten)

Im Kinderhaus gibt es z.B. die Sinnesmaterialien: Geruchsdosen, Geschmacksgläser, Farbtäfelchen usw. Mit diesem Material kann das Kind die bisherigen Erfahrungen sortieren, erweitern und klassifizieren. Auch für Linguistik, Mathematik, Geografie und Naturkunde stehen viele Materialien bereit.

Viele Kinder, die ein Montessori-Kinderhaus verlassen, um in die Schule zu gehen, können lesen und schreiben, kennen verschiedene Länder und wissen, wo sie liegen, sie können einfache Rechenaufgaben lösen und noch vieles mehr.

Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich betonen, dass es nicht darum geht, dem Kind etwas aufzuzwingen. Die Materialien und Übungen stehen bereit, und wenn das Kind in der passenden „sensiblen Phase“ ist, hat es die Möglichkeit, sich mit den Angeboten zu beschäftigen.

Wichtig ist dabei der Pädagoge, der aber mehr im Hintergrund agiert. Seine Aufgabe ist es, das Kind zu beobachten und ihm das bereitzustellen, was es für seine Interessen und geistige Entwicklung benötigt. Er gibt eine Einführung der Übungen und stellt sich sofort in den Hintergrund, sobald er merkt, dass das Kind seine Hilfe nicht mehr benötigt.

Kosmische Erziehung im Alter von 6-12 Jahren

„Die Erziehung im Alter zwischen 6 und 12 Jahren ist keine direkte Fortsetzung dessen, was vorher ablief, obwohl sie auf dessen Grundlage aufbaut. Psychologisch gesehen ist hier ein Persönlichkeitswandel erfolgt. […] Wissen kann am Besten dort vermittelt werden, wo es ein Verlangen zum Lernen gibt, und daher ist dies die Periode, in der die Saat von allem gesät werden kann, denn der Verstand des Kindes ist wie ein fruchtbares Feld, bereit das aufzunehmen, was zur Kultur keimen wird.“ (4)

Im Alter ab 6 Jahren ändern sich das Verhalten, die Bedürfnisse, der Lernstil und die Interessen des Kindes. Abstraktion, logisches Denken, soziale und moralische Sensibilität treten jetzt in den Vordergrund. Das Kind besitzt eine grenzenlose Vorstellungskraft: Montessori spricht von einer Phase der Geistesschärfe.

Wichtig ist es, die verschiedenen Aspekte des Wissens von der Welt und vom Kosmos zu verbinden. „Astronomie, Geografie, Geologie, Biologie, Physik, Chemie sind nur Details eines Ganzen. […] Der kosmische Aufbau der menschlichen Gesellschaft muss das Zentrum des Studiums der Geschichte und der Soziologie werden.“ (5)

Jetzt geht es darum, dem Kind die ganze Welt, das ganze Universum zu zeigen. Nicht jedes Detail, sondern so viele Aspekte wie möglich. Anders als in einer staatlichen Schule, in der die Lernpläne eng gefasst sind, wird in einer Montessori-Schule die ganze Bandbreite des Wissens angeboten. Ein Lehrer in einer Montessori-Schule weiß, dass es nicht nur darum geht, Wissen zu vermitteln, er muss die Zusammenhänge deutlich machen, die sich aus den unterschiedlichen Wissensgebieten ergeben. Er spürt die große Verantwortung, den Kindern die Freude am Lernen zu erhalten. Diese Freude am Lernen wird den Kindern in herkömmlichen Schulen oft gründlich ausgetrieben, dabei ist sie von essenzieller Bedeutung für die Entwicklung des Kindes.

Ich möchte zum Schluss noch ein Zitat hinzufügen, welches gut beschreibt, was mit der Kosmischen Erziehung in der Grundschule gemeint ist.

„Wir können das Ganze mit einem Tuch vergleichen, in dem jedes Detail eine Stickerei darstellt, während sich das Ganze zu einem wunderbaren Gewebe zusammenfügt. Um dem Kind von 6-12 Jahren die Vorstellung des Ganzen in der Natur zu vermitteln, […] muss man wohl schon so weit gehen, dem Kinde eine Vorstellung der gesamten Wissenschaft zu geben; nicht mit allen Einzelheiten und Genauigkeiten, sondern nur einen Eindruck davon. In dieser Epoche, in der eine Art sensible Periode der Vorstellungskraft existiert, geht es darum, den ‚Keim für die Wissenschaften‘ zu legen. Wenn man ihm einmal die Vorstellung vom Ganzen gegeben hat, muss man zeigen, dass von jedem Zweig eine Wissenschaft ausgeht. Die Mineralogie, die Biologie, die Physik, Chemie usw.“ (6)

Es wäre wünschenswert und ganz im Sinne von Maria Montessori, wenn sich endlich die Einstellung zum Kind grundlegend änderte. Die Erfahrung zeigt, dass das Schulsystem nicht für jedes Kind gut ist.

Wir brauchen echte Alternativen, damit unsere Kinder zu freien unabhängigen Erwachsenen heranwachsen können.

Jede sensible Phase verblasst irgendwann wieder – danach kann das Kind nur noch mit großer Mühe das Lernen, was es dort versäumt hat. Umso wichtiger ist es, dass wir diese sensiblen Phasen zum Wohle unserer Kinder nutzen.

Ingrid Gimber
Ingrid Gimber

Dipl. Montessori-Pädagogin und Dozentin an der Paracelsus Schule Oldenburg
i.gimber@web.de


Literaturverzeichnis

2013-01-Montessori4(1) Eckart, Ela; Montessori, Maria: Kosmische Erziehung, Vision und Konkretion, S. 18

(2) Montessori, Maria: Spannungsfeld Kind – Gesellschaft – Welt, 1979, S. 132

(3) Montessori, Maria: Vorlesung, Amsterdam 11.4.1950, „Montessori Heft ½, 1998, S. 10

(4) Eckart, Ela; Ingeborg Waldschmidt: Kosmische Erzählungen in der Montessori Pädagogik, 2007, S. 213

(5) Montessori, Maria: Kosmische Erziehung, 1988, S. 27

(6) Montessori, Maria: Von der Kindheit zur Jugend, 1941, S. 51

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