Fallstudie aus der psychotherapeutischen Praxis: Blind für Gefühle, weder Trauer noch Freude wird empfunden - Paracelsus, die Heilpraktikerschulen
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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 2/2014

Fallstudie aus der psychotherapeutischen Praxis: Blind für Gefühle, weder Trauer noch Freude wird empfunden

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© WavebreakmediaMicro - Fotolia.comKlienten

Ehepaar Jasmine und Steven

Anamnese

Jasmine ist 35 Jahre alt, verheiratet, und kommt zuerst ohne ihren Mann zu mir in die Praxis. Sie berichtet, dass sie unbedingt eine Paartherapie machen müsste, sonst sehe sie keine Chance mehr für ihre Ehe, ihr Mann mache sie kaputt. Sie halte es mit ihm nicht mehr länger aus, sie müsse viel weinen, schlafe nachts schlecht und habe schon an eine Trennung gedacht.

Sie sind seit fünf Jahren verheiratet und am Anfang der Ehe hatte ihr Mann Steven, 38, bereits schon diffuse somatische Symptome wie Pulsrasen, Nervosität und Beschwerden im kardiovaskulären Bereich sowie Herzstolpern. Es konnten aber keine physischen Erkrankungen diagnostiziert werden.

Nach etlichen Jahren gerät Steven durch einen Zufall an einen Psychosomatiker, der bei ihm Alexithymie diagnostiziert. Dies ist keine Krankheit, sondern ein gleichmäßig in der Bevölkerung verteiltes Persönlichkeitsmerkmal. Es gibt Menschen, die mit Gefühlen gut umgehen können, und eben welche, die damit weniger gut umgehen können. Und weil sie auch die Gefühle anderer Personen nicht spüren, leben sie weitgehend außerhalb jener sozialen Sphäre, die andere Menschen miteinander teilen. Fast alle Alexithyme wurden als Kinder emotional vernachlässigt.

Jasmine erzählt, ihr Mann sei ein stiller, zuverlässiger Ehemann, dem seine Frau scheinbar völlig egal ist, er bastle am Wochenende an drei riesigen Satellitenschüsseln herum, 1000 Programme könne er damit empfangen – doch das Berechnen des Ausrichtungswinkels liege ihm mehr, als sich um sie zu kümmern, mit ihr etwas zu unternehmen, zu kuscheln und zu schmusen.

Immer wieder bettele sie regelrecht, er solle sich doch wenigstens den anderen gegenüber gefühlvoller und empathischer verhalten, aber er könne es einfach nicht. Steven spürt nicht die Gefühle anderer Personen, doch er ist in seinem Beruf als Ingenieur sehr erfolgreich.

Therapie

Das Ziel ist, Gefühle spüren zu lernen und sich auf sie einzulassen! Emotionale Kommunikation (ein sogenannter Gefühlsaustausch) ist ein Schlüsselfaktor, und wenn der Mensch Zugang zu seiner verschütteten Emotionalität bekommen hat, kann er mit allen Sinnen (VAKOG) wieder in ein gefühlsvolles Leben eintauchen.

Bei unseren Gesprächen in der Praxis berichtet Steven, dass seine Mutter an Brustkrebs starb, als er vier Jahre alt war: „Damals hat mich mein Vater nicht mal mehr ans Krankenbett gelassen, damit ich mich verabschieden kann – und auch nie mehr darüber gesprochen.“

Der Vater heiratete wenig später die Schwester der Mutter, die für die drei Kinder sorgte und noch zwei weitere bekam. Steven behandelte sie allerdings nie wie ihre eigenen Kinder. Sie schmierte ihm morgens das Schulbrot und achtete darauf, dass er saubere Klamotten trug – ein zärtliches Streicheln über den Kopf gab es aber so gut wie nie.

Steven ist nun schon seit geraumer Zeit bei mir in Therapie, es hat sich eine gute Compliance eingestellt. Er hat mittlerweile zum ersten Mal das Grab seiner Mutter besucht. Wir arbeiten mit der emotionalen Kommunikation; die verschütteten Emotionen aus der Kindheit werden nochmal durchlebt und angeschaut.

Die Arbeit mit dem inneren Kind bleibt dabei nicht aus, um seine eigenen Anteile wieder zurückzubekommen. Körperwahrnehmungsübungen (Body-Scan) helfen Steven, seine Empfindungen selbst zu erfassen: „Ich erfahre im Moment so viel über mich! Und das Wichtigste ist, dass ich jetzt selbst an mir arbeite und dran bleibe – ich möchte nämlich meine Frau nicht verlieren!“

Alexithymie ist nicht im ICD-10 oder DSM-IV klassifiziert.

Regina Koch

Regina Koch
Heilpraktikerin für Psychotherapie und Psychologische Beraterin

 
Literatur

  • Der Alltag mit Alexithymie von Jenny Brix (Kindle Edition)
  • Alexithymie: Eine Störung der Affektregulation. Konzepte, Klinik und Therapie, Hrsg. Dr. med. Michael Rufer
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