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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 5/2017

Dysbalancen im kleinen Becken

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Myofasziale Ursachen und Behandlung von Erektionsstörungen, Blaseninkontinenz und schwierigen Geburten

Das myofasziale System hat nicht nur Einfluss auf unseren Bewegungsapparat, sondern auch auf unsere Organe. Beeinträchtigungen in diesem System durch Unfälle, Operationen, einseitige Dauerbelastung und psychischen Stress können zu Störungen im kleinen Becken führen. Durch genaue Anamnese und Palpation ist eine erfolgreiche Behandlung der myofaszialen Störungsursache möglich.

Faszination Faszie

Lange Zeit wurden Faszien als totes Füllmaterial übersehen und ignoriert. In den letzten Jahren haben Therapeuten und Wissenschaftler jedoch die Wichtigkeit dieses „Aschenputtels unter den Geweben“ erkannt. Faszien liegen ohne Frage im Trend, sowohl in der Forschung als auch in der Praxis. Was genau versteht man jedoch heute unter Faszien? Traditionell wurden Faszien auf das mit bloßem Auge sichtbare Bindegewebe beschränkt. Diese Definition gilt heute als überholt. Wissenschaftler, Therapeuten und Mediziner haben sich auf dem internationalen Fascia Research Congress 2012 geeinigt, den Begriff „Faszie“ auf alle faserigen, kollagenen Gewebe auszuweiten, somit auch auf Bänder, Sehnen und Gelenkkapseln. Es handelt sich bei Faszien demnach um ein Netzwerk, das den gesamten Körper durchdringt.

Ungeahnter Einfluss

Bei aller Aufmerksamkeit, die den Faszien heute gewidmet wird, darf jedoch nicht vergessen werden: Faszien arbeiten nicht allein. Zusammen mit Muskeln bilden sie das myofasziale System (myo = muskulär). Dieses wird am häufigsten mit dem Bewegungsapparat in Verbindung gebracht, sowohl von Therapie- als auch Trainingsmethoden. Weniger verbreitet ist das Wissen, dass Störungen im myofaszialen System auch innere Organe negativ beeinflussen können. Beispiele hierfür sind Organe im Bereich des Beckenbodens, wie Geschlechtsorgane und Blase. Zu Problemen, für die es myofasziale Ursachen und Behandlungswege geben kann, zählen u.a.:

Erektionsstörungen – sind ein weit verbreitetes Problem, für das man oft keine zufriedenstellende Lösung findet, wenn die Ursachen nicht richtig erkannt werden. Diese können myofaszial bedingt sein, wenn die Durchblutung im Penis durch Verklebungen und Verspannungen im myofaszialen Gewebe der Beckenregion behindert wird.

Blaseninkontinenz – die besonders Frauen betrifft und die Lebensqualität erheblich mindern kann, wird fast immer schwacher Beckenbodenmuskulatur zugeschrieben. Blaseninkontinenz kann jedoch auch entstehen, weil der unwillkürliche Schließmuskel der Blase durch Verklebungen „verzogen“ wird und so schlechter schließt.

Schwere Muttermundöffnung bei der Geburt – Bei Geburten halten es viele für normal, dass sich diese besonders beim ersten Kind lange, schmerzhaft und kräftezehrend hinauszieht. Hierfür kann es jedoch myofasziale Ursachen geben, die sich vor der Geburt behandeln lassen. Ein verspannter Beckenboden, Bauch oder verkrampfte Hüftmuskeln können dazu führen, dass sich der Muttermund nur schwer öffnet. Dies wiederum verlängert und erschwert die Geburt.

Diese drei Probleme haben eines gemeinsam: Sie können durch Störungen im myofaszialen System verursacht werden und lassen sich daher nach gleichen Prinzipien diagnostizieren und behandeln.

Detektivarbeit: Wo liegt die myofasziale Störungsursache?

Funktionsstörungen und Schmerzen werden meist dort behandelt, wo sie auftreten. Jedoch sind Ursache und Wirkung nicht immer am gleichen Ort zu finden. Faszien sind nicht nur anatomisch im gesamten Körper vernetzt; sie sind auch funktionell verknüpft. Sowohl bei Bewegungen als auch bei internen muskulären Abläufen (wie das Öffnen des Muttermundes oder das Schließen der Blase) bedarf es der Zusammenarbeit mehrerer myofaszialer Abschnitte. Für jeden beliebigen Vorgang lassen sich die zusammenwirkenden Abschnitte als Teil einer myofaszialen Funktionslinie beschreiben (Abb. 1).

Aufgrund dieses kniffligen Zusammenspiels lässt sich eine fasziale Beeinträchtigung oder Verletzung in der Regel nicht auf ein isoliertes, rein lokales Problem reduzieren. Wie bei einem kaputten Glied in einer Kette kann es bei einer Störung im Bereich A zu Auswirkungen auf B, C, D oder noch weiter entfernt kommen. Die Herausforderung für den Therapeuten ist dann, ein Symptom im Bereich D auf einen Auslöser im Bereich A zurückzuführen und dort die ursprüngliche Störung zu behandeln.

Was können Störungsursachen sein?

Häufig sind es direkte oder indirekte Verletzungen des Körpers, die zu Verspannungen und Verklebungen im myofaszialen System führen. Diese können aber auch durch längere, einseitige Belastung und psychische Überlastung entstehen.

Direkte Verletzungen
Hierzu gehören Operationen, die Narben sowohl an der Oberfläche als auch in der Tiefe hinterlassen. Typische Beispiele sind Blinddarm-, Gallen- und Prostata-Operationen, minimalinvasive Eingriffe am Bauch, Gebärmutterentfernungen (sowohl vaginal als auch über den Bauch) und Dammschnitte bei Geburten.

Indirekte Verletzungen
Hierzu gehören Stürze oder Distorsionen, bei denen Teile des myofaszialen Systems gezerrt werden.

Beispiel: Bei einer Distorsion am Fußgelenk durch Umknicken wird nicht nur der Bereich am Außenknöchel gezerrt, sondern auch die dazugehörige myofasziale Funktionslinie (FL), die ruckartig verlängert wird. Diese verläuft von der Außenseite des Unterschenkels (durch die Supination des Fußes) über die Adduktoren an der Innenseite des Oberschenkels (durch das Absinken des Beckens) und weiter über den Beckenboden entlang der Innenseite der Wirbelsäule bis zum Kopf – durch die Gegenbewegung des Körpers (Foto 1).

Beim Umknicken kommt es innerhalb dieser FL zu einer plötzlichen Verlängerung. Dabei kann es zu Zerrungen des Gewebes kommen, die sich wiederum auf das Becken auswirken. Das heißt, es besteht die Möglichkeit, z.B. eine Inkontinenz durch eine Behandlung am Außenknöchel zu verbessern (Foto 5).

Einseitige Dauerbelastung

Einseitige Haltungen über lange Zeit führen dazu, dass das Bindegewebe immer unelastischer wird und die Muskeln sich verkürzen. Die häufigste einseitige Haltung ist dabei wohl das Sitzen. Täglich acht Stunden am Schreibtisch führen unweigerlich zu Verkürzungen und Verklebungen im Bereich des Bauches und der Hüftbeuger, wenn man nicht für ausreichende Ausgleichsbewegungen sorgt.

Die so verkürzten Muskeln behindern zunächst einmal die Beweglichkeit der Wirbelsäule und Hüftgelenke. Besonders das „sich strecken und drehen“ wird bei anhaltender einseitiger Belastung immer mehr eingeschränkt. Zusätzlich erhöht sich auch der Druck im Bauchraum, wodurch die Bauchorgane weniger Bewegungsfreiheit bekommen. Diese Druckerhöhung im Bauchraum wirkt sich auch nach unten auf den Beckenboden aus, der seinerseits mit einer zunehmend stärkeren Anspannung reagiert, um diesem Druck standzuhalten. So kommt das gesamte Becken nach und nach immer mehr unter Spannung. Das schränkt nicht nur die Beweglichkeit ein, sondern auch die Durchblutung der kleinen Beckenorgane, denn Gefäß- und Nervensystem sind eingebettet im myofaszialen Gewebe.

Psychische Ursachen

Auch chronischer psychischer Stress oder traumatische Erfahrungen lösen bei vielen Menschen eine Daueranspannung des Beckenbodens und Bauches aus. Angst und Leistungsdruck führen dazu, dass man „den Schwanz einzieht“ oder „stramm steht“.

Typische Störungsursachen für Probleme im kleinen Becken

Die Organe des kleinen Beckens werden, wie wir gesehen haben, von den myofaszialen Strukturen, die auf das Becken wirken, stark beeinflusst – eben auch potenziell negativ.

Verzogener Beckenboden

Die Beckenbodenmuskeln liegen zwischen Symphyse, Scham-, Sitz- und Steißbein und verschließen die knöcherne Beckenöffnung nach unten. Die Organe des kleinen Beckens (Blase, Gebärmutter, Prostata, Rektum) liegen nicht nur direkt auf dem Beckenboden, sondern sind auch teilweise direkt über Körperausgänge mit ihm verbunden. Dabei bildet der Beckenboden auch die äußeren Schließmuskeln. Er führt bei allen Rumpfbewegungen eine Dehnung von innen nach außen durch die Drucksteigerung im Bauchraum beim Anspannen der Rumpfmuskeln, insbesondere der Bauchmuskeln, aus. Er gibt beim Einatmen nach und muss beim Husten und Niesen den Druck abfangen.

Stellen Sie sich den Beckenboden wie ein Sprungtuch bei der Feuerwehr vor. Es sollte gleichmäßig gewölbt sein. Würde man eine oder mehrere Fasern des Tuchs unter Spannung bringen und verkürzen, würden mehrere Wölbungen mit straffen Fasern dazwischen entstehen. Überträgt man dieses Bild auf den Beckenboden, kann man sich vorstellen, dass das Gefüge des knöchernen Beckens gestört wird, ebenso wie die Lage und Funktion der Beckenorgane und der Schließmuskeln. Durch Dammschnitte und vaginale Operationen wird der Beckenboden oft in dieser Weise „verzogen“.

Verklebungen im Bereich der Adduktoren

Gibt es Verklebungen im Bereich der Adduktoren, die durch Stürze, Sportunfälle oder Distorsionen entstehen können, so hat das Wirkung auf alle FL, die durch dieses Gebiet laufen. Das bindegewebige Netzwerk zieht sich durch alle Muskeln, und jede direkte oder weiter entfernte Dehnung, die Zug auf diese Verklebungen bringt, wird der Organismus vermeiden. Das führt zu erhöhter Spannung in synergistischen Muskeln, die den verletzen Bereich schützen sollen. Im Beispiel sind das meist die Hüftbeuger, der Beckenboden und die Bauchmuskeln. Dies beeinflusst die Durchblutungssituation im kleinen Becken und kann so z.B. zu Erektionsstörungen führen.

Untersuchung- und Behandlungsmöglichkeiten

Anamnese
Durch eine genaue Anamnese lässt sich ermitteln, ob myofasziale Störungsursachen vorliegen könnten. Diese können auch weit in der Vergangenheit liegen. Bei direkten Verletzungen durch Operationen ist das gesamte Narbengebiet bis in die Tiefe von Bedeutung. Bei indirekten Verletzungen ist eine genaue Beschreibung des Sturzes oder Unfallherganges wichtig. Dadurch lässt sich erkennen, welche myofaszialen FL eventuell verletzt wurden – in der Regel durch ruckartige Verlängerung. Gezielte Fragen nach Lebens- und Arbeitssituation lassen auf eventuelle einseitige Belastungen oder psychische Probleme schließen.

Palpation
Durch sorgfältige Palpation der verdächtigen myofaszialen Regionen lassen sich Verklebungen erkennen. Dabei palpiert man erst oberflächlich die Haut und die Fascia superficialis und arbeitet sich dann in tiefere Schichten vor, um festzustellen, in welcher Gewebetiefe sich die Verklebungen befinden.

Behandlung
Mit gezielter Behandlung (wie sie z.B. bei der Funktionellen Muskeltherapie nach Tamura® = fmt angewendet werden) können die aufgedeckten Verklebungen gelöst werden. Dazu verwendet der fmt-Therapeut® eine spezielle, manuelle Drucktechnik. Dabei ertastet er genau die Region der deutlichsten Verklebung und löst durch anhaltenden punktuellen Druck die Adhäsionen. Der Druck wird dabei solange konstant gehalten, bis der Patient keine Schmerzen mehr an dieser Stelle empfindet. Nach und nach werden so alle betroffenen myofaszialen Abschnitte behandelt, wodurch

  • der unwillkürliche Blasenschließmuskel wieder besser funktioniert,
  • die Erektionsfähigkeit sich verbessert,
  • die erste Geburt zügig verläuft.

Bettina TamuraBettina Tamura
Heilpraktikerin, Physiotherapeutin mit Praxen in Celle und Berlin. Sie entwickelte die Funktionelle Muskeltherapie nach Tamura® (fmt)
tamura@muskeltherapie.com

BUCH TIPP
Tamura, Bettina: Funktionelle Muskeltherapie nach Tamura. Akute und chronische Schmerzen gezielt behandeln.
Pflaum Verlag,
ISBN 978-3-79051-017-1

Fotos: © bilderzwerg / fotolia.com, Helge Sauber

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