Unten ohne

Das Schreiben war kurz. “Wir haben eine Firma für Reitzubehör”, so der Absender, “schicken Sie bitte Katalog und Preisliste.” Der Brief kam aus Quebec, machte eine Reise um die halbe Welt nach Herbrechtingen-Bolheim, ins tiefste Schwabenland.

Empfänger: Helmut Marquis. Der Tierarzt, Gründer und Geschäftsführer der Marquis Tiermedizintechnik, hat einen Hufschuh für Pferde entwickelt, “die Alternative zum Hufeisen”. Denn das brauchen heute nur wenige Pferde. Wurden sie früher täglich in der Landwirtschaft oder beim Militär strapaziert, sind sie heute meist Sport- und Freizeitpartner. Stehen auf weichen Koppeln oder im Stall, werden nur selten belastet. “Klassischer Hufschutz”, so Marquis, “macht da nur wenig Sinn.”

Seine Antwort auf das Hufeisen ist komplett aus Kunststoff, sieht aus wie ein Miniskischuh in modernem Design (“Reiter sind eitel”), ist in sechs Größen vorrätig, wird dem Pferd erst vor dem Ausritt angezogen und über ein Luftkammersystem mit einer Minipumpe exakt angepasst damit er nicht beim Galopp oder in schwerem Gelände verloren geht. Die Sohle lässt sich separat wechseln, für schlurfende Pferde gibt es eine extra Zehenkappe, für zarte Hufe eine zusätzliche Einlage, für wenig trittfeste diverse Stollen zum Anschrauben. Fazit des Fachmagazins “Freizeit im Sattel”: “Für den täglichen Gebrauch sind die Schuhe sehr gut geeignet, die Handhabung ist denkbar einfach.”

Und die Kosten vergleichsweise gering: Ein Paar kostet rund 400 Mark (rund 205 Euro) und hält etwa zwei Jahre, ein Hufschmied verlangt für ein Jahr Hufpflege rund 900 Mark (460 Euro). Hinzu kommt: Hufkrankheiten werden oft durch Eisenbeschlag verursacht die Folge: das Pferd lahmt. Die Alternative: Gnadenbrot oder Metzger. “Es lohnt sich”, so Marquis, “in Hufgesundheit zu investieren.” Argumente, die immer mehr Reiter überzeugen. 600000 Pferde brauchen Hufschutz, allein in Deutschland. Mehrere tausend Paar hat Marquis schon verkauft, nach Mittel- und Nordeuropa, Australien, Neuseeland zuletzt an die Reiterstaffel der Polizei von Oman. Das Vorbild des schwäbischen Tierarzts: “Wir wollen Nike für Pferde werden das schaffen wir.”

Dass er sich nicht so schnell unterkriegen lässt, hat der 44-Jährige immer wieder bewiesen. Von Kindesbeinen an durch den Hof des Großvaters mit Pferden vertraut, nach der Mittleren Reife 1973 von den Eltern “reingeschubst” in eine Ausbildung zum Sozialversicherungsfachangestellten bei der AOK, macht Marquis mit knapp 20 eine Lehre als landwirtschaftlicher Gehilfe, Schwerpunkt Pferdezucht und -pflege. Zwei Jahre später ein Job als Pferdepfleger auf einem Reiterhof im Nördlinger Ries, parallel Abendgymnasium in Ulm. Also nach acht Stunden harter körperlicher Arbeit im Stall noch bis 22 Uhr büffeln fürs Abitur. Und am Wochenende wieder zu den Pferden. Kein Urlaub, vier Jahre. “Hat Spaß gemacht”, sagt er, “ich wusste, wofür ich es tat.” Sein Ziel: Die Uni. Nach einem Praktikum für Landmaschinentechnik beginnt er ein Maschinenbaustudium an der TU München.

Weil er sich das “ganz anders vorgestellt” hatte, kehrt er nach vier Semestern in die schäbische Heimat zurück, macht wieder eine Lehre in der Firma seines Bruders, als Energieanlagenelektroniker. Schaltkästen und Automaten konstruierte Marquis dennoch nicht lange: Als er eine kleine Erbschaft macht, erfüllt er sich seinen Traum: Tiermedizin studieren mit 33 Jahren.

Spezialisiert sich auf die Erforschung der Bewegungsabläufe bei Pferden. Und entwickelt eine Maschine, die Daten über den Bewegungsablauf von Pferden lieferte und auswertete. Der von Marquis entwickelte Hufschuh, an dem er die Messeinrichtungen befestigte, reichte nicht nur für die Doktorarbeit (“da haben mir meine Eltern alles verziehen”) sondern auch für die heutige Geschäftsidee. Durchbruch für den Hufschuh: 1999 auf der Equitana, der weltgrößten Pferdemesse in Essen.

Für dieses Jahr plant Marquis, der den Hufschuh fast komplett selbst produziert, mit zehn Mitarbeitern rund zwei Millionen Mark (eine Million Euro) Umsatz. 2002 will er profitabel sein, 2003 mit 20 Mitarbeitern fünf Millionen Mark (2,6 Millionen Euro) umsetzen. Das Ziel: “Marktführer werden.” Für Marquis heißt das nicht nur Stress. “Ich bin gern bei Kunden”, sagt er. “Privat komm ich ja kaum mehr zum Reiten.”

MEN

Aus der WirtschaftsWoche NR. 41 VOM 04.10.2001