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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 5/1998

Rechts oder Links?

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Der “sanfte” – oft unbeabsichtigte – Eingriff ins Gehirn mit Langzeitfolgen!

Rechtshändigkeit wird auch heute noch als der”Normalzustand” empfunden. Unsere Handlungs- und Denkwelt ist auf diesen “Normalzustand” ausgerichtet. Linkshändigkeit stellt deshalb immer noch eine Ausnahme dar. Doch was ist eigentlich die Ursache für Rechts- oder Linkshändigkeit und welche Folgen entstehen, wenn daran “herumgebastelt” wird?

Ein kurzer Ausflug ins Gehirn

Die Händigkeit hat ihren Ursprung im Gehirn. Das menschliche Gehirn ist in zwei Hemisphären (rechts und links) aufgeteilt. Die beiden Hemisphären sind durch eine kabelförmige Struktur von Nervenfasern – corpus callosum oder Balken genannt – verbunden, Dabei steuert die rechte Hemisphäre überwiegend die linke Körperseite. Die linke Hemisphäre ist vorwiegend für die rechte Körperseite zuständig. Diese kontralaterale Organisation ergibt sich in der Regel durch eine Kreuzung der meisten Nerven im Bereich des oberen Rückenmarks. Differenzierter ist die Kreuzung im visuellen und auditiven System: So ist hier ein partielle Kreuzung der Sehnerven bzw. der Hörnerven zu beobachten, die sich aufgrund gekreuzter und ungekreuzter Nerven ergibt. Der Balken wiederum ist zuständig für die Übertragung von Informationen von einer Gehirnhälfte in die andere. Soweit ein Grobeinblick ins menschliche Gehirn. Die physiologischen Funktionen sind natürlich darüber hinaus weit vielschichtiger und differenzierter. Jede Gehirnhälfte hat so ihre Spezialität. Bei den beiden Hemisphären sind jeweils Schwerpunkte für verschiedene Funktionen festzustellen. Diese Schwerpunktsetzung betrifft fast alle Tätigkeitsbereiche:

  • Die Aufnahme
  • die Verarbeitung und Reaktion im emotionalen und kognitiven Bereich
  • die Geschicklichkeit
  • das manuelle Reaktionsvermögen
  • den Abruf von gespeicherten Inhalten

Bei den meisten Menschen ergibt sich ein ähnliches Muster in der Spezialisierung der Gehirnhemisphären:

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Darüberhinaus zeichnen sich bei der jeweiligen motorischen Dominanz auch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale und typische Verhaltensweisen ab.

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Fazit:
Die Händigkeit ist Ausdruck einer bestimmten Dominanz im Gehirn.

Was passiert nun bei einer Veränderung der angeborenen Händigkeit?
Eine Veränderung der angeborenen Händigkeit führt nicht automatisch zu einer Umstellung der Dominanz im Gehirn! Das bedeutet, daß bei einer Veränderung die nicht dominante Gehirnhälfte permanent mit “Aufgaben” gefordert wird, die sie letztendlich überlastet. Darüber hinaus kommt es zu Schwierigkeiten bei der Übertragung von Informationen von einer Gehirnhälfte in die andere.
In einem”Bild” könnte man es ungefähr so beschreiben:
Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Wagen mit Frontmotor und Hinterradantrieb. Was passiert nun, wenn die (Straßen-)Verhältnisse dem (Fahr-)Verhalten des Wagens etwas mehr abfordern – zum Beispiel bei Glätte? Klar: Dieser Wagen kommt in der schwierigen Situation sehr viel leichter “ins Schleudern” und bricht eher aus, als ein Wagen, bei dem die Belastung (durch den Motor) auch dort ist, wo sich der Antrieb befindet. So ähnlich sind auch die Folgen bei einer Veränderung der Händigkeit: Die Belastung (sprich: die geforderte Gehirnfunktion) kommt nicht dort an, wo auch der Antrieb (sprich: die dominante Gehirnhälfte) Iiegt. So kommt auch das Gehirn “ins Schleudern”. Dabei können eine Reihe von Primär- und Sekundärfolgen entstehen, die Dr. J. B. Sattler wie folgt beschreibt:

Zu möglichen Primärfolgen zählen:

  • Gedächtnisstörungen (insbesondere bei Abruf von Lerninhalten)
  • Konzentrationsstörungen (schnelle Erschöpfung)
  • legasthenische Probleme (Lese- und Rechtschreibschwierigkeit)
  • Raum-Lage-Labilität (links-rechts-Unsicherheit)
  • Sprachstörungen
  • feinmotorische Störungen

zu möglichen Sekundärfolgen zählen:

  • Minderwertigkeitskomplexe
  • Unsicherheit
  • Zurückgezogenheit
  • Überkompensation durch erhöhten Leistungseinsatz
  • Trotzhaltungen, Widerspruchsgeist, lmponier- und Provokationsgehabe
  • Verhaltensstörungen
  • Bettnässen und Nägelkauen
  • emotionale Probleme bis ins Erwachsenenalter mit neurotischen und/oder psychosomatischen Symptomen
  • Störungen im Persönlichkeitsbild

Selbstverständlich kennen wir die beschriebenen Primär- und Sekundärfolgen auch in anderen Zusammenhängen – ohne Veränderung der Händigkeit. Jedoch werden diese Störungen durch eine Veränderung der Händigkeit zusätzlich und unverhältnismäßig verstärkt.

Wie zeigen sich die Folgen im Alltag?
Die Veränderung der Händigkeit greift massiv in die Prozesse des Gehirns ein. Dabei ist eine Feststellung wichtig: Die Intelligenz bleibt unangetastet. Aber – und das ist genauso wichtig – die Manifestion ist gestört. Dies erleben Betroffene zum Beispiel in der Form, daß sie Probleme oder Mehraufwand haben, wenn es darum geht
– Gedanken auszudrücken,
– Lerninhalte abzurufen und verbal oder schriftlich wiederzugeben.
Sehr früh erleben Kinder immer wieder, daß sie zwar etwas richtig begreifen und denken, aber es dann nicht – oder nicht in der geeigneten Form – ausdrücken können, die Botschaft also im “gedachten Sinne” nicht ankommt. Und selbst darauf ist kein Verlaß: Einmal funktioniert es hervorragend und ein andermal kommt es zum “Aussetzer”. Solche Situationen – mit der Unsicherheit, dem”sich nicht darauf verlassen können” – hinterlassen natürlich Spuren, die sich mehr oder weniger in Sekundärstörungen zeigen.

Am Beispiel “übersteigerte Leistungs-Anstrengungen” zeigt sich die Problematik ganz deutlich:
Im Schul- und Berufsalltag werden Leistungen gefordert. Um diesen gerecht zu werden, ist der Energie-/Kräfteeinsatz bei “umgeschulter Händigkeit” um vieles höher. Nach einer”individuellen Leistungsperiode” treten dann Erschöpfungs- und Ermüdungserscheinungen auf, die sich z. B. in Konzentrationsstörungen zeigen. Daraus ergeben sich – teilweise ausgeprägte – Leistungsschwankungen, die für den Betroffenen selbst, aber auch für sein Umfeld nicht nachvollziehbar sind. Häufig werden diese Leistungsschwankungen durch das soziale Umfeld in Familie, Schule oder Beruf – für das Empfinden des Betroffenen”verletzend” – kommentiert. Die Reaktion darauf ist dann abhängig von der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur und reicht von Resignation oder noch mehr Leistungsanstrengungen über Trotzhaltung oder Aggression bis hin zu Verhaltensstörung.

“Die Veränderung der Händigkeit ist doch heutzutage keine Thema mehr! Niemand wird in der Schule gezwungen, unbedingt rechts zu schreiben!”
Wie kommt es überhaupt zur – auch unbeabsichtigten -Veränderung der Händigkeit? Meist wird heute von einer “Umschulung der Händigkeit” gesprochen. Weitere Begriffe sind Pseudo-Rechts-/Linkshändigkeit, umerzogene oder umgestellte Händigkeit. All diese Begriffe drücken nur bedingt das Geschehen und die Folgen aus. In USA hingegen trifft der – dort gängige – Begriff “brain breaking” die Sache schon deutlicher. Doch welchen Namen man dem Kind auch gibt es stellt sich in der heutigen aufgeklärteren Zeit die Frage, wie es überhaupt noch zur Veränderung der Händigkeit kommen kann. Im wesentlichen sind es drei Wege, auf denen der “Gehirneingriff’ erfolgt:

1. Der “Man-macht das-rechts- Weg”
In den meisten Kulturen gehört die Rechtshändigkeit zur Norm. Die Norm wird eben durch die Masse bestimmt und zeigt sich in unserer – auf Rechtshänder ausgelegten – Welt in all den tausend Kleinigkeiten des Tages. Sehr frühzeitig wird nun den Kindern – durchaus wohlgemeint – der Gebrauch von Gegenständen (z. B. ,,links die Gabel, rechts das Messer’) nahegebracht oder Wichtiges bei Ritualen (z. B. ,,gib die richtige Hand bei der Begrüßung”) vermittelt. Wenn das Kind zu Beginn die linke Hand dabei bevorzugt, wird es häufig als Unwissenheit des Kindes über die “richtige Hand” ausgelegt. Dabei haben Bezugspersonen aus dem familiären Umfeld und im Kindergarten sowie bei der Einschulung natürlich Schlüsselfunktionen.

In vielen Fällen wird auch bewußt – allerdings in Unkenntnis der Folgen – ein Kind umerzogen.
Die Strategien sind heute dabei sicher “humaner” als früher, aber deshalb auch nicht gerade besser. Das Motiv von Eltern, Erzieher und Lehrer ist meist in der Einstellung zu finden, daß es “Linkshänder schwerer haben” (…weil sie nicht der “Norm” entsprechen). In diesem Zusammenhang wäre es interessant einmal festzustellen, wieviele Menschen als “Linkshänder auf die Welt kommen”. Es zeigen sich Tendenzen, daß die Linkshändigkeit gar nicht so selten ist. So gibt es Schulen, in denen Linkshänder bei Einschulung einen Anteil von 20 bis 30 haben. (Hrsg. ISB, Dr. J. B. Sattler, Das linkshändige Kind in der Grundschule, Auer Verlag, Donauwörth 1997)

2. Der “Mein-Kind-ist-etwas-Besonderes-Weg”
Wahrnehmung und Interpretation von Situationen und – im wahrsten Sinne des Wortes – von Handlungen unterliegen aber auch der individuellen “Wertewelt” der Erwachsenen. So kommt es gar nicht so selten auch zur “Umstellung von rechts auf links”. Dies insbesondere, wenn die Bezugsperson mit einer Linkshändigkeit “das Besondere”, ,,das Aussergewöhnliche” verbindet. Natürliche Phasen in der Entwicklung von Kindern, in denen einfach die Händigkeit ausprobiert wird, die Händigkeit sich noch nicht ganz manifestiert hat, unterliegen hier einem besonderen Risiko der Fehlinterpretation. Betroffen ist hier vor allem der Entwicklungszeitraum zwischen dem 1. und 2. Lebensjahr.

3. Der “Nachahmungs-Weg”
Manche Kinder stellen sich auch selbst um. Gerade intelligente, aufgeschlossene und willensstarke Kinder lernen hier auf eine ganz besondere Weise am Modell. Starkes Nachahmungsverhalten kann dabei die “angeborene Händigkeit unterdrücken”. Bis zur Schulzeit haben diese Kinder, so wie alle anderen “umgestellten” Kinder, relativ wenig Probleme. Doch mit Schulbeginn werden feinmotorische Leistungen (durch das Schreiben) und Lernleistungen (Lerninhalte aufnehmen und abrufen) gefordert, die dann Probleme durch die Umstellung der Händigkeit deutlich werden lassen.

Darüber hinaus gibt es noch Situationen, in denen die Händigkeit bewußt verändert wird, weil es sonst keine Alternative gibt. Ein krankheits- oder verletzungsbedingter Ausfall der “ursprünglichen Hand” ist hier die Ursache..

Was tun, wenn der Verdacht einer Veränderung der Händigkeit auftaucht?
Hier ist die Vorgehensweise bei Kindern und bei Erwachsenen zu unterscheiden. Gerade bei Kindern ist die Beobachtung von Erziehern und Pädagogen oft der Auslöser für die Frage nach der ursprünglichen Händigkeit bzw. nach einer möglichen veränderten Händigkeit. Sogenannte “SpontanHandlungen” – die mit der jeweils anderen Hand ausgeführt werden – bringen hier oft den Impuls. Folgende Funktionsproben zur Präferenzbestimmung eignen sich besonders, da es sich hier um von Erziehung/Umwelt nicht geprägte Tätigkeiten handelt:

Hände

  • Blumen gießen
  • Würfeln
  • Zähne putzen
  • Kugelstoßen
  • Wecker aufziehen
  • Farbtopf umrühren
  • Reißverschluß öffnen
  • Buch hoch oben aus dem Regal holen
  • Waschbeckenstöpsel herausziehen
  • Streichholz anzünden

Beine

  • Schlittern
  • Hüpfen auf einem Bein
  • Ballstoßen
  • Takt klopfen
  • Ballstopp
  • langen Schritt machen
  • Reifen aufheben
  • Hindernis überschreiten
  • Aufsteigen
  • Luftballon treten

(nach Njiokiktjien, Schilling)

Weitere Tätigkeiten für eine Funktionsprobe:
Lichtschalter bedienen, Kämmen, Kreiseln, Fenster oder Türe öffnen, das”Sich melden” in Kindergarten und Schule. Ergibt sich durch Beobachtung bei Kindern der Verdacht auf eine “veränderte/umgeschulte Händigkeit”, sollte dies von kompetenter Seite geprüft werden. Die oben genannten Beispiele können nur der Orientierung dienen, sind aber alleine nicht aussagefähig.
Sollte sich nun herausstellen, daß tatsächlich eine Veränderung der ursprünglichen Händigkeit vorliegt, stellt sich die Frage nach einer”Rückschulung”. Dabei sind im Vorfeld einige Grundsätze zu beachten:

  • Eine Rückschulung wird vom familiären Umfeld und Erziehern/Pädagogen getragen und aktiv begleitet.
  • Die Bereitschaft des Kindes muß hergestellt werden können. (Das eigentlich linkshändige Kind hält sich ja für einen Rechtshänder. Daraus ergibt sich für das Kind die Frage: ,,Wieso soll ich jetzt mit der ungeübten linken Hand malen oder schreiben? Das ist jetzt ja viel anstrengender und sieht nicht so schön aus?” Daher ist es ganz wichtig, mit dem Kind eine positive Ausgangssituation zu schaffen.)
  • Die Phase der Rückschulung wird therapeutisch begleitet.

Eines muß bei der Rückschulung zusätzlich beachtet werden: Störungen, z. B. der Feinmotorik oder Legasthenie, können durch eine Rückschulung gebessert, aber nicht in jedem Fall behoben werden.

Eine Rückschulung sollte unter Beachtung der Grundsätze bis zum 9. Lebensjahr, also bis zur 3. Klasse erfolgen. Bei einer späteren Rückschulung sind Chancen und Risiken abzuwägen.

Und damit sind wir bei den Erwachsenen.
Das Problem hier: Die meisten haben sich im Laufe der Zeit voll mit ihrer veränderten Händigkeit identifiziert. So hält sich eben der “Linkshänder für einen Rechtshänder”. Die Symptome, die die Betroffenen z.B. zu einer therapeutischen Beratung/Behandlung veranlassen, werden nicht in den Zusammenhang mit einer veränderten Händigkeit gebracht. Wie auch, die Betroffenen sind sich der Veränderung/Umschulung gar nicht bewußt. Die mit der Umschulung verbundenen Erlebnisse sind häufig verdrängt. Sollten sich z. B. während einer Therapie Impulse ergeben, die für eine Veränderung der Händigkeit sprechen, gilt es sehr behutsam vorzugehen. Im wesentlichen kann im Erwachsenenalter die Erkenntnis, daß eine Umschulung in der Kindheit stattgefunden hat, “nur” als eine Ursachen-Klärung dienen. Und dennoch: Für manche Betroffenen öffnet sich damit der Weg für einen anderen Umgang mit ihren Symptomen/Problemen. Das Annehmen und die Entwicklung von Strategien im Umgang mit möglichen Primärfolgen stehen dabei häufig im Vordergrund .Ausgleichs-/Entlastungsübungen durch beidhändige Tätigkeiten (z. B. Klavierspielen, Stricken) ergänzen diesen Prozeß. Die Aufarbeitung der kindlichen Erlebnisse im Zusammenhang mit der Umschulung der Händigkeit ist ein weiteres Feld. In den meisten Fällen sind diese Erlebnisse nicht gerade in die Rubrik”angenehm” einzustufen. Als verdrängte Erlebnisse belasten sie Betroffene zusätzlich. Im Rahmen “regressiver Arbeit” können diese Erlebnisse be- und verarbeitet werden.
Wilma Hillinger, psychologische Beraterin “Aufklärung als Prophylaxe” – das ist das Ziel dieses Artikels.

Anmerkungen
In der”Beratungsstelle für Linkshänder und umgeschulte Linkshänder” werden Händigkeitstests und -beratungen durchgeführt.
Die Anschrift: Sendlingar Str. 17 in 80331 München, Telefon 089/268614.

Literaturempfehlungen
Dr. J.B. Sattler, Der umgeschulte Linkshänder oder Der Knoten im Gehirn, Verlag Auer, Donauwörth 1996
Dr. J.B. Sattler, Hrsg. ISB, Das linkshändige Kind in der Grundschule, Verlag Auer, Donauwörth 1997
Rolf W. Meyer, Linkshändig? Ein Ratgeber., Humboldt Verlag, München 1991

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