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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 5/1999

Die vergessene Dimension

Cover

r9905_vd1Können Religiosität und Ethik im beginnenden 3. Jahrtausend noch Orientierungsmaßstäbe für die geistig und körperlich gesunde Lebensführung sein?

1. DIE EGOISMUSFALLE

Viele sind in dieser Falle gefangen; sie sind Gefangene ihrer selbst; sie sehen (allein) sich selbst, sie reagieren total selbstbezogen. Alles andere ist ihnen gleichgültig. Gemeinschaft kann nicht entstehen. In der Folge sind soziale Kontakte gestört. Interesselosigkeit für das Nicht-Ich mach sich breit. Angst um sich selbst ist die Ursache dafür. Sie zeigt sich in dem Motto: Es soll mir gut gehen. Ich will nicht zu kurz kommen. Alles andere ist relativ; der andere ist mir gleichgültig; es sei denn, er nützt mir etwas.
Diese Geistlosigkeit führt in die Depression, wenigstens in die existentielle Frustration (V.E. Frankl). Das Leben wird nicht mehr in der ganzen Breite gesehen. Es wird immer enger. Die Gefahr, sich selbst zu verabsolutieren, wird immer größer. Die Maßlosigkeit nimmt zu. Die eigenen Bedürfnisse sind die wichtigsten; man geht über Leichen; eigenes Wohlergehen ist das Ziel. Alles andere ist untergeordnet; man spielt nur mit den anderen Menschen. Die Kultur des Todes macht sich breit.
Die Geistlosigkeit führt in ein unmenschliches Leben. Der Egoist ist nicht zufrieden. Gestörtes Leben ist die Folge: die anderen bekommen die Schuld dafür zugeschoben. Aggression entsteht gegen jene, die sie stören; den anderen wird ein schlechtes Gewissen gemacht; man ist verschlossen gegenüber anderen Menschen (oder Situationen), die etwas von einem erwarten, was wehtut … Beziehungsstörungen – Ehekrisen und andere Kommunikationskrisen zeigen sich.
In dieser geistlosen Hinsicht ist Leben nichts anderes als ein Platz, der der eigenen Befriedigung zu dienen hat: Ziel ist ein angenehmer Seelenzustand und psychische Spannungen abbauen; den Trieben nachgeben; die Lust zum obersten Prinzip machen; Unlust abbauen und Unlustsituationen in der Realität ausweichen; sich jederzeit Luft machen (gelegen/ungelegen).
Dieses absolut ich-bezogene Leben ist nichts anderes, als sich in die Sklaverei des leibseelischen Unterbaus des Menschen zu begeben; man tut nur das, was einem in den Kram passt:

  • sich treiben lassen vom Bedürfnis nach Essen und Trinken (man gibt nichts ab),
  • nach sexueller Lustbefriedigung (man fühlt sich in den anderen Menschen nicht ein),
  • nach Besitz, Geltung und Macht (man setzt sich rigoros in Pose); D.h.: Alles andere ist gleichgültig; Priorität hat das Egozentrische; alles andere ist nichts. Eine egozentrische Wertskala fällt auf.

2. DIE GEISTLOSIGKEIT SCHAFFT SICH IHRE EIGENE WELT

Die Lebensorganisation ist so, dass man sich selbst zum Maßstab dafür macht, was sein darf und was nicht sein darf. Dadurch entsteht Lebensbehinderung: man lässt sich nicht auf das konkrete Leben ein; das Schicksalhafte wird nicht angenommen; man geht dagegen an, obwohl es sich nicht verändern lässt. Man verbraucht Energie für das Sinnlose.

Dabei gibt es vielfältige Reaktionen:

  • man macht etwa ein unüberwindbares Drama daraus, wenn ein Mitarbeiter einem eine höher dotierte Stelle vor der Nase weggeschnappt hat (man produziert etwa psychosomatische Beschwerden).
  • man lässt den Verlust eines geliebten Menschen nicht los, den der Tod weggerissen hat.
  • man verzeiht sich etwas Falsches nie;
  • Kränkungen lässt man nicht los.
  • man bemitleidet sich ….

Die Sinnlosigkeit dieser Lebensweise zeigt sich in dem Motto: was ich nicht will, soll auch nicht sein. Dadurch wird das Leben eng. Man lebt in dauernder Abwehr. Das lockere Miteinander ist gestört. Es entsteht ein gereiztes – aggressives – hartes – unsensibles Leben, von dem niemand mehr viel erwarten kann. Das Leben wird kalt. Man friert seelisch. Diese Lebenshaltung ist für das Menschsein unproduktiv. Sie ist geprägt von der Abhängigkeit in das Psychische, vom Wohlsein und von der Verschlossenheit für das Geistige: es geht nicht mehr um das Wahre / Gute / Schöne / Heilige, auf das hin der Mensch angelegt ist, sondern um die Eigensucht.

3. DIE GEISTLOSIGKEIT SCHAFFT UNWOHLSEIN

Die Geistlosigkeit führt in die Sinnlosigkeit, in die Frage: Was soll mein Leben eigentlich? Wofür bin ich gut? Die Geistlosigkeit führt in einen unterschwelligen Lebensekel. Der Mensch wird unglücklich; weil er nicht über sich hinaus kommt, wird er existenztiell frustriert. Es fehlt ihm die Selbsttransparenz (Frankl). In schweren Fällen tritt Verzweiflung auf.
Soll das das Leben sein, wird unbewusst gefragt. Es entsteht eine Lähmung, die sich in einer Nihilierung des Sinnvollen äußern kann. Diese wiederum zeigt sich in der Entwertung dessen, was wahr, gut, schön und heilig ist. So werden etwa gelungene dauerhafte eheliche Beziehungen oder auch der Einsatz für andere reduktionistisch interpretiert, so etwa als ob diese Lebensverwirklichungen nichts anderes als der Ausdruck dafür sind, dass man den anderen braucht und man nicht frei ist, und die Hilfe für andere zu nichts anderem als der Selbstbestätigung dient. Die Entwertung echter menschlicher Lebensverwirklichungen macht das Leben fad und trist. Dieses geistlose Leben macht den Menschen krank und vergiftet Beziehungen. Es entsteht eine vitale Baisse (Frankl). Eine gedrückte Stimmungslage ist die Folge. Unterschwelliger Neid auf andere kann entstehen, der entweder depressiv oder aggressiv abreagiert wird. Es werden kompensatorische Befriedigungen gesucht. Aber sie bringen keine Ruhe. Der Mensch muss sich immer wieder befriedigen (Sucht): Er geht so am Leben vorbei; er lebt seine Existenz nicht voll; er ist zu “mehr” fähig, aber bleibt lieber hinter dem zurück. Er lebt defizitär. Er erlebt die Wahrheit des Bibelwortes: Was nützt es, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber an der Seele Schaden leidet. Dieses Leben bietet keine optimistische Perspektive. Es macht depressiv.

4. WAS HEILT DIESES GEISTLOSE LEBEN?

Antwort: Das Leben der geistigen Dimension. Ein Leben weg von der Selbstsucht: sich nicht treiben lassen, sondern sich entscheiden für das, was “im Jetzt”, und “auf Zukunft hin” das Leben lebenswerter macht und Rost und Motten nicht verzehren:

  • Sich orientieren an dem, was das Leben im Fülle bietet.
  • Weggehen von der untauglichen Lebensweise.
  • Umkehr und Buße, eine Neueinstellung auf das Bleibende und Erfüllende.
  • Sich wertvoll machen für jemanden oder im Dienst an einer Sache (für etwas).
  • Sich herausfordern lassen durch das sittlich Wertvolle.
  • Sich die Freiheit nehmen, die eigene Lebensorganisation umzustellen. Mit der Frage: wie werde ich zu einem produktiven menschlichen Glied der Menschheitsfamilie?
  • Im Wissen: Es ist nicht gleichgültig, wie und ob ich lebe; wertvoll werde ich aber, wenn ich meine individuellen Möglichkeiten ausschöpfe.
  • Absolutes maßloses Streben nach Essen und Trinken, nach Sexualität, nach Besitz, Geltung und Macht überprüfen. Es dient zu nichts.

Alle Bedürfnisse bereichern das menschliche Leben nur dann, wenn auch höhere Werte beachtet werden: Anteil geben am eigenen Leben und Anteil nehmen am Leben anderer. Das Interesse füreinander. Das Denken im Miteinander und Füreinander, in Solidarität und Subsidiarität. Das Leben in Dankbarkeit für … Heilung geschieht durch das Wegkommen vom oberflächlichen Leben, in dem man das Leben teilt.

5. DAS LEBEN AUS DEM GEIST NIMMT SICH DIE FREIHEIT ZUM “TROTZDEM”.

Es ist nicht Sklave der unbefriedigten Bedürfnisse (tritt dem Teufel auf den Kopf). Es läßt sich nicht von der psychogenen Angst leiten. Es läßt sich herausfordern von Gründen, die die Kultur des Todes überwinden. Während das geistlose Leben das Individuum verschließt und alles kompensatorisch bewertet, also als Ersatz für unbefriedigte Sucht; während es sich selber sucht, weil es sich als armes bemitleidenswertes Wesen sieht, (und nichts anderes darüber hinaus), und es Kränkungen abreagiert durch Egoismen, relativiert das Leben aus dem Geist diese Kränkungen und Missstimmungen.
Der betreffende Mensch (als Individuum) macht sich trotzdem offen für das, was der Augenblick oder die Zukunft von ihm als Individuum (mit seinen Begabungen und Fähigkeiten) erwartet:

  • Der Vater wird an seinem Sohn nicht seine eigene pubertäre Problematik abreagieren und ihn nicht unnötig eingrenzen …
  • Die Mutter wird die Tochter nicht insofern missbrauchen, als sie von ihr die Liebe sucht, die der Ehemann ihr nicht gibt …
  • Der Politiker wird nicht deswegen gegen die Reichen sein, weil seine Eltern (und seine Kindheit) arm waren..
  • Der Begüterte wird nicht deswegen gegen den Bedürftigen abweisend sein, weil er auf einen reingefallen ist, der nicht bedürftig war …
  • Der Arme wird nicht deswegen generell gegen die Wohlhabenden sein, weil ihn manche Wohlhabenden missachten …
  • Der Alltagsmensch wird nicht deswegen dem Professor den Titel streitig machen wollen, nur weil er keinen solchen hat …

Das Leben aus dem Geist beruhigt das Zusammenleben der Menschen, weil es hinlenkt auf das Gesollte; d.h. auf jene Lebensverwirklichungen also, die, weil sie möglich sind, das Leben bereichern und erfüllen. So führt das Leben aus dem Geist heraus aus der eigenen Verschlossenheit, die dadurch entsteht, dass das Individuum nur an sich denkt, wie auch immer dieser Zustand ursächlich zustande gekommen ist. Das Leben aus dem Geist führt in die Sinnerfüllung: Auf dass was Rost und Motten nicht verzehren.

6. OFFEN FÜR DIE STIMME DES ABSOLUTEN

Der geistig begründet lebende Mensch orientiert sich nicht zuerst an dem, was angenehme Gefühle erzeugt, sondern an dem, was ihm vom Gewissen als Sinnorgan (Frankl) eingegeben wird. Er weiß, daß er als personale Existenz durchströmt wird vom absoluten Geist, der in der religiösen Sprache Gott genannt wird. Im biblischen Sinn versteht er sich als Abbild Gottes, in dem sich im Gewissen widerspiegelt, was Gott wichtig ist; das Wahre, das Gute, das Schöne, das Heilige.
Er macht sich nicht taub für die Stimme des Absoluten in ihm, sondern hält sich offen für das, was ihm in seinem Inneren als Richtung auf ein menschliches Leben angegeben wird. Er lebt im Hören auf die Gewissensstimme, die ihn auf das hin orientiert, was lebendig macht und hält, und ihn so vor Ideen bewahrt, die das Leben einschränken oder gar zugrunde richten und zu Lebensekel führen: zu Resignation und Pessimismus.
Er lebt in der Verantwortung vor dem Gewissen, das ihm letztlich die Prioritäten des absoluten Geistes angibt, das ihm sagt: überschreite deine narzisstischen Gefühle im Einsatz für etwas oder für jemanden, denk nicht nur an dich, sondern lass dich auch von anderen und anderem berühren. Der geistig begründet lebende Mensch versteht sich nicht im Sinne der Homöostase mechanisch, sondern noetisch. Das Glück sucht er nicht in einem “Stoffwechselzustand mit der geringsten Spannung” (A. Görres), sondern in der Bezogenheit auf den absoluten Sinn, den er, durch sein Gewissen vermittelt, erfahren kann. Der geistig begründet lebende Mensch sieht also nicht einfach nur in diese Welt hineingeworfen (ohne irgendeinen Kompass, der ihm die Richtung anzeigt, wohin es gehen soll), sondern vom absoluten Geist (von dem er selbst seinen Geist hat) begleitet und orientiert. Im Hören auf dieses Gewissen fühlt er sich nicht wohl, wenn er hinter den Gewissensorientierungen zurückbleibt, obwohl er ihnen entsprechen könnte.
Um menschlich gesund und erfüllt zu leben, gehört also unverzichtbar die Rückbindung an das Gewissen und die Wahrnehmung des Zurückbleibens hinter dem, was das Gewissen als Lebensverwirklichung – im Jetzt und Heute – angibt, obwohl es realisierbar wäre. Dieses Zurückbleiben wird als Schuld erfahren, die nichts zu tun hat mit einem Schuldkomplex, der dadurch entsteht, dass man übernommene zeitbedingte Wertvorstellungen der Eltern oder anderer Bezugspersonen hinterfragt, zu leben versucht, aber sie zu leben nicht oder nicht ganz schafft.
Religiöse Menschen erkennen das Gesollte, das ihnen das Gewissen andeutet, darüber hinaus in der Offenbarung Gottes in diese Welt hinein. Die Christen erkennen die Grundzüge eines Lebens, das menschlich ist, in der Offenbarung Jesu, der am Kreuz gestorben ist. Seine Worte, sein Geist garantieren ihnen ein menschenfreundliches, also echtes menschliches Leben. Sie verifizieren diese Worte als wahr, indem sie sie als kongruent mit der Stimme des Gewissens erkennen. Dieses Erkennen ist ein intuitiver Vorgang. Kraft der Intuition merken sie: sie ist nicht rationaler Art, sondern “irrationaler” Art (C.G. Jung), wenn freilich diese Wahrheit auch angemessen rational theologisch oder philosophisch erklärt werden kann. Das Erschließen der Wirklichkeit allein durch die fünf Sinne oder durch Experimente im Labor kann von geistiger Blindheit zeugen.

7. DAS LEBEN AUS DEM GEWISSEN FÜHRT IN DIE LIEBE

Durch das Überschreiten der Selbstsucht wird die Kultur des Todes abgebaut. Das Leben der Menschen wird menschlicher. Das Ungesunde geht zurück. Ein gesundes Miteinander wird möglich, das grundsätzlich entspannt ist. Zukunftsangst und Pessimismus haben weniger oder gar keinen Nährboden. Fortschritt wird möglich, denn man traut sich und den anderen (etwas) Positives und Menschenwürdiges zu. Weil man sich vom absolut Notwendigen, ja Heilbringenden leiten lässt, wird auch die Ehe unter den Gesichtspunkten gesehen, die ihr dienen. Vertrauen wächst, Beziehungen gelingen. Die Kinder und die Heranwachsenden profitieren davon. Depressionen, die noogener Art sind, kommen nicht auf, oder gehen zurück, so wie die entsprechenden psychosomatischen Probleme und Krankheiten. Dem Menschen geht es besser. Das Leben wird schöner. Der Geist der Liebe (also), der sich auch in den biblischen Wegweisungen niederschlägt, ist es, der die Menschen zu Wohlwollen heilt und Angst und Pessimismus lindert. Aus diesem Geist gelebtes religiöses Leben bewahrt den Menschen vor existenziellen Frustrationen und noogenen Neurosen (Frankl).
Im Sinne der menschlichen Gesundheit ist es wichtig, diesen Geist zu leben, um ein menschenfreundliches Leben zu ermöglichen:

  • Sich nicht abhängig machen vom Verhalten der anderen (wie du mir so ich dir) …
  • Das eigene Leben im Sinne der Sinnerfüllung prägen …
  • Einen Lebensstil entwickeln, der das Wertvolle zur Sprache bringt …
  • Frustrationen ertragen und die nötigen Verzichte aushalten; diese machen nicht krank ..
  • Das geistig/geistlich Begründete öffentlich zu machen.
  • Das geistig mehr unbewusste im Sinne der Psychohygiene bewusst werden lassen, so daß es Macht gewinnt gegen das triebhaft Unbewusste und sich durchsetzt.
  • Die Erziehung der Kinder auf diese geistig begründeten Werte hin …; sie mit der Fähigkeit, über sich hinauszuwachsen, bekannt machen.
  • Ein Gefühl dafür vermitteln, dass es echte Schuldgefühle gibt, wenn man hinter dem erkannten wertvoll Gesollten zurückbleibt.

Zusammenfassende Schlußbemerkung: Grund für die Möglichkeit eines Lebens aus dem Geist ist unsere menschliche Verfasstheit als leibliche/seelische und geistige Einheit. Kraft der geistig noetischen Komponente ist der Mensch verbunden mit dem absoluten Geist (Gottes). Durch die Verbindung ergibt sich eine geistige Schau auf das geistlich Begründete.

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PATER VINZENZ GANTER

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