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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 6/1999

Anaphylaxie

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Lebensgefährliche Allergie

Ein anaphylaktischer Schock kann in jeder Praxis vorkommen, in der parenteral behandelt wird, wie im vorliegenden Fall bei einer sonst eher unproblematischen Blutegelbehandlung. Der Kollege hat hier richtig und daher lebensrettend reagiert.

Der trockene Mund und der Juckreiz an den Beinen fallen Frau Koch zunächst nicht auf. Erst als auch ihre Arme und ihr Hals zu jucken beginnen, macht sie ihren Heilpraktiker Thomas Jasper darauf aufmerksam. Der plaziert gerade die letzten Blutegel auf Irene Kochs Unterschenkel.
Alarmiert fühlt Thomas Jasper den Puls seiner Patientin. Er ist nur schwach tastbar und sehr schnell. Frau Kochs Augen schwellen zu. Im ganzen Gesicht breiten sich Ödeme aus. Das Schlucken wir immer schwieriger, der Hals fühlt sich geschwollen an.
Eilig entfernt Thomas Jasper die Blutegel von Frau Kochs Beinen und ruft seine Assistentin. Die wirft nur einen kurzen Blick durch die Tür und eilt sofort los um die Notfallausrüstung zu holen und den Rettungsdienst zu alarmieren. Inzwischen bringt Thomas Jasper seine Patientin in die Schocklage und legt ihr eine Decke über. Frau Koch zittert am ganzen Körper, sie ist schweißnaß und klagt über Übelkeit und Atemnot. Die Assistentin kehrt mit dem Notfallkoffer und der Sauerstoffflasche zurück. Mit wenigen Handgriffen streift Thomas Jasper Frau Koch eine Sauerstoffmaske über und legt ihr einen peripheren venösen Zugang. Die angeschlossene Ringer-Infusionslösung läßt er im Schuss laufen. Seine Assistentin hat inzwischen eine Adrenalin-Spritze vorbereitet, die Thomas Jasper über den venösen Zugang verabreicht. Langsam bessern sich die Beschwerden. Als wenige Minuten später der Notarzt eintrifft ist Frau Koch außer Lebensgefahr.

Unsere Abwehr – Kämpfer für unsere Gesundheit

Unser Körper ist jeden Tag zahllosen Angriffen feindlicher Organismen ausgesetzt. Mit allen Tricks versuchen Bakterien, Viren oder Pilze einzudringen und sich zu vermehren. Eine zusätzliche Gefahr sind unbelebte Stoffe wie Tier- oder Pflanzengifte, die in unseren Körper gelangen. Als Eintrittspforten für diese Antigene dienen zum Beispiel die Atemwege, der Verdauungstrakt oder Verletzungen wie Insektenstiche.

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Anti-Phagozytose: Freßzellen der unspezifischen Abwehrkräfte machen Antigene unschädlich.

Nachdem der Fremdstoff in den Körper eingedrungen ist, wird er sofort von unserem Abwehrsystem untersucht, identifiziert und falls nötig bekämpft. Bereits das Neugeborene verfügt über ein erregerunspezifisches System zur Krankheitsabwehr. Phagozyten, die Fresszellen unseres Körpers, nehmen eingedrungene Antigene auf, verdauen diese und machen sie so unschädlich.

Viele Erreger umgehen oder stören das unspezifische System der Krankheitsabwehr. Um auch diese Antigene effektiv zu bekämpfen, verfügen wir über spezifische Abwehrkräfte, unser Immunsystem. Die Entwicklung des Immunsystems beginnt bei der Geburt. Zu diesem Zeitpunkt wird festgelegt, welche Stoffe künftig als körpereigen erkannt werden. Jeder Stoff, der später in den Organismus gelangt, wird als körperfremd identifiziert und angegriffen. Zu diesem Zweck entwickeln und produzieren weiße Blutkörperchen (B-Lymphozyten) speziell auf das Antigen abgestimmte Antikörper. Diese Antikörper oder Immunglobuline (lg) setzen sich auf die Oberfläche der Antigene, um sie als Angriffsziele für weitere Komponenten des Abwehrsystems zu markieren. Auf diese Weise werden die eingedrungenen Fremdstoffe schneller entdeckt und effektiver vernichtet.

Nach Zerstörung der Antigene gehen die Antikörper zugrunde. Die Information für ihren Bau bleibt in Gedächtniszellen erhalten. Bei der nächsten Infektion setzt Antikörperbildung schlagartig ein und verhindert einen Ausbruch der Erkrankung. Unser Immunsystem ist also lernfähig.

Die Allergie – Wenn das Immunsystem übereifrig ist

Wie jedes System haben auch unsere Abwehrkräfte Schwachstellen. Ein uneffektives Abwehrsystem kann uns nicht vor eindringenden Erregern schützen, manche Erreger täuschen oder schädigen es. Aber auch ein zu gut funktionierendes Immunsystem kann Probleme bereiten. Bereits 1906 beschreibt der französische Arzt Pirquet erstmalig eine übersteigerte Abwehrreaktion des Körpers auf körperfremde oder körpereigene Stoffe als Allergie. Bei der Allergie unterliegt das Abwehrsystem einer Fehlsteuerung. Von außen einwirkende Faktoren sind also nicht Ursache der Störung, sondern das Abwehrsystem selbst.
Das Immunsystem des Allergikers kann nicht mehr zwischen schädlichen und unschädlichen Stoffen unterscheiden. Gegen harmlose Stoffe wie Pollen, Staub oder Tierhaare werden Antikörper gebildet, der Körper ist sensibilisiert. Aus Antigenen werden Allergene.

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Allergie: Die Antigen-Antikörperreaktion findet bei Allergikern direkt auf der Oberfläche der Mastzellen statt. Die freigesetzen Mediatoren verursachen die Symptome der Allergie.

Normalerweise sind diese Antikörper nur kurze Zeit im Organismus vorhanden. Danach werden sie wieder abgebaut. Die Information zum Bau neuer Antikörper bleibt in den Gedächtniszellen erhalten. Beim Allergiker dagegen werden besonders Antikörper des Typs IgE gebildet, die sich mit Hilfe eines Rezeptors auf den Mastzellen der Haut und der Schleimhäute festsetzen und dort inaktiv bleiben, bis es zu einem erneuten Kontakt mit dem Allergen kommt. Die Mastzellen enthalten Wirkstoffe (Mediatoren) wie Histamin, Serotonin und Heparin von denen bei einer normalen Immunreaktion einige freigesetzt werden.
Sie verursachen eine Permeabilitätsänderung der Zellmembranen und eine Durchblutungssteigerung im betroffenen Bereich, locken die Abwehrkräfte an und rufen dadurch eine lokale Entzündungsreaktion hervor. Anders als bei der normalen Immunreaktion findet die Antigen-Antikörperreaktion beim Allergiker direkt auf der Zelloberfläche statt. Es werden übertrieben viele Mediatoren freigesetzt, die in den betroffenen Geweben die typischen Symptome einer Allergie verursachen. Je nach Eintrittsort des Allergens lassen sich die Symptome einteilen. Die Blütenpollenallergie ist häufig verantwortlich für eine starke Sekretbildung der Nasenschleimhäute und Asthma. Die Nahrungsmittelallergie erzeugt Durchfälle und Koliken, die Kontaktallergie Hautausschläge.

Überempfindlichkeitsreaktion auf physikalische Reize wie Sonne, Kälte oder mechanische Einflüsse werden oft fälschlich als Allergien bezeichnet. Da aber physikalische Reize nicht als Allergene im Körper auftreten, kommt es auch nicht zu einer Antikörperreaktion. Damit fehlen die entscheidenden Kriterien einer echten Allergie. Ihre Symptome werden ebenfalls von einer überschießenden Histaminausschüttung verursacht. Deshalb heißen diese Reaktionen Pseudo-Allergien.
Die Gründe, warum manche Menschen unter Allergien leiden und andere nicht, sind nicht endgültig geklärt. Eine ganze Reihe von Ursachen kommt dafür in Frage. Eine davon ist eine genetische Disposition, die Atopie. Statistisch gesehen haben Kinder ein höheres Risiko, ebenfalls an einer Allergie zu erkranken, wenn ihre Eltern unter einer Allergie leiden. Dazu kommen die zunehmende Belastung unserer Umwelt mit Schadstoffen, einseitige Ernährung, Zigarettenrauchexposition des Kleinkindes und häufige Infekte. Für berufsspezifische Allergien ist der übermäßige Kontakt mit bestimmten Stoffen verantwortlich. Beispiele dafür sind die Mehlallergie bei Bäckern, Kosmetikaallergien bei Friseuren oder Latexallergien bei medizinischem Personal. Medizinische Fachwörterbücher bezeichnen die Anaphylaxie als “eine durch Antikörper des Typs IgE vermittelte Überempfindlichkeitsreaktion des Soforttyps”. Was also unterscheidet die Allergie von der Anaphylaxie? In der Hauptsache sind dies die Art, Ausdehnung und Schwere der Symptome sowie die Geschwindigkeit mit der es zur Reaktion kommt.
Bei allergischen Reaktionen quälen den Betroffenen meist nur lokale Symptome. Die Anaphylaxie betrifft sofort den gesamten Organismus. Statt lokal an den Eintrittspforten des Allergens werden im ganzen Körper Mediatoren freigesetzt. Es kommt überall zu einer übersteigerten Entzündungsreaktion. Frühzeichen sind Juckreiz und Hautrötung. Verantwortlich dafür sind die Reizung von Nervenendigungen und eine vermehrte Durchblutung der Kapillaren. Gleichzeitig steigert sich die Permeabilität der Gefäßmembranen. Flüssigkeit tritt aus den Gefäßen in das Interstitium aus und verursacht eine Quaddelbildung und Schwellung der Schleimhäute. Im weiteren Verlauf führt eine Kontraktion der glatten Muskulatur zum Spasmus der Bronchien. Auf Grund des Volumenverlustes aus dem Gefäßsystem fällt der Blutdruck und löst reflektorisch einen Anstieg der Herzfrequenz aus. Der Spasmus der Bronchialmuskulatur kann schnell in einen lebensbedrohlichen Asthmaanfall überleiten. Das Herz muss deshalb gegen einen erhöhten Strömungswiderstand anpumpen, die Kreislaufsituation verschlechtert sich immer mehr. Es kommt zum anaphylaktischen Schock, der unbehandelt zum Herz-Kreislaufstillstand führt.

Sofortiges Eingreifen ist erforderlich. Jede Verzögerung gefährdet das Leben des Patienten.
Das sind die wichtigsten lebensrettenden Sofortmaßnahmen:

  • Alarmieren sie sofort den Rettungsdienst – diese Aufgabe kann ein Kollege, Angehöriger oder Ihre Praxishilfe übernehmen.
  • Entfernen Sie unverzüglich das Allergen.
  • Lagern Sie den Patienten entsprechend seines Bewusstseinszustandes und seiner Kreislaufsituation. Beim ansprechbaren Patienten mit Schocksymptomatik ist das die Schocklagerung. Dabei wird der Patient flach auf den Rücken gelegt und seine Beine auf etwa 30 Grad angehoben. Das verursacht einen Rückfluss des Blutes aus den Beinen in den Körperstamm und stabilisiert den Blutdruck.
  • Verabreichen sie Sauerstoff über eine Sauerstoffmaske.
  • Halten Sie den Patienten warm. Vergessen Sie nicht, auch unter den Patienten eine Decke zu legen.
  • Kontrollieren Sie Puls und Blutdruck, um Informationen über die Kreislaufsituation zu bekommen. Die einmal angelegte Blutdruckmanschette kann gleich an Ort und Stelle bleiben um den Blutdruck weiter überwachen zu können.
  • Gleichzeitig dient die Blutdruckmanschette als Stauung, um einen peripher venösen Zugang zu legen. Schließen Sie daran eine Vollelektrolytlösung an (z.B. Ringer-Lactat) und lassen sie möglichst schnell laufen, um den Blutdruck des Patienten weiter zu stabilisieren. Ideal ist eine Druckinfusion.
  • Verabreichen Sie über den gleichen Zugang Adrenalin. Dazu werden 1 ml Adrenalin mit 9 ml NaCl-Lösung verdünnt in einer Spritze aufgezogen. Verabreichen Sie dem Patienten 1 ml dieser Mischung, also 0,1 mg Adrenalin, über die Venenverweilkanüle. Adrenalin hemmt die Freisetzung der Mediatoren aus den Mastzellen. Außerdem besetzt es die Alpha-Rezeptoren und stellt die peripheren Gefäße eng. Wegen seiner Wirkung auf Beta-Rezeptoren steigert es die Herzkraft und stellt die Bronchialgefäße weit. Wiederholen Sie die Adrenalin-Gabe je nach Wirkung mehrmals. Kontrollieren Sie unbedingt regelmäßig die Vitalfunktionen, da Adrenalin eine Steigerung der Herzfrequenz verursacht.
  • Legen Sie bei ausgeprägter Schocksymptomatik noch einen weiteren grosslumigen Zugang und verabreichen Sie ein Glukokortikoid, zum Beispiel 250 – 500 mg Solu-Decortin H. Es stabilisiert die Zellmembranen und verhindert einen weiteren Volumenverlust ins Interstitium.

Eine genaue Anamnese steht angesichts der Bedrohlichkeit der Situation und der offensichtlichen Symptome im Hintergrund. Sie trägt aber zur Beruhigung des Patienten bei wenn dadurch wichtige Maßnahmen nicht verzögert werden.

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