Übersicht dieser Ausgabe    Alle Paracelsus Magazine

aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 1/2012

Ayurveda – Präventivmedizin im modernen Europa

Cover

“Ein Mensch wird gesund genannt, dessen Physiologie im Gleichgewicht ist, dessen Verdauung und Stoffwechsel gut arbeitet, dessen Gewebe und Ausscheidungsfunktionen normal funktionieren und dessen Seele, Geist und Sinne sich im Zustand dauerhaften, inneren Glücks befinden.“ (aus der Sushruta Samhita, einem der klassischen Ayurveda-Kompendien)

© matttilda - Fotolia.comDie ayurvedische Medizin zählt zu den ältesten Gesundheitslehren der Menschheit und widmet sich seit über 2.000 Jahren drei zentralen Zielen:

  • Erhaltung von Gesundheit,
  • Heilung von Krankheit und
  • Verlängerung der Lebensspanne.

Während für Therapeuten in der Heilbehandlung zunächst die Auflösung von Krankheit im Vordergrund steht (sanskrit „Arogya“ = frei von Krankheit), widmet sich der ayurvedische Präventivmediziner ganzheitlich der Erhaltung gesunder Körperstruktur, regelrechter Physiologien, sinnlicher Klarheit, psychisch-geistiger Gesundheit und spiritueller Verwirklichung. Eine derartig umfassende Definition von Gesundheit (sanskrit „Svastha“ = im Selbst ruhen) ist wahrlich einzigartig!

Ayurvedische Präventivmedizin und Therapie sind immer multimodal und basieren auf einer eigenen differenzierten Diagnostik. Die Gesundheitslehre des Ayurveda ist salutogenetisch orientiert und beantwortet individuell die Frage, wie wir noch gesünder werden können.

Die Basis aller Präventivmaßnahmen: unsere Konstitution.

Unter „Prakriti“ (übersetzt „Natur“) versteht der Ayurveda individuelle körperliche und geistige Anlagen von Menschen, die einerseits Stärken, Ressourcen, Begabungen und Fähigkeiten sowie andererseits Prädispositionen und Vulnerabilitäten beinhalten. In der Präventivmedizin ist das Erforschen der Konstitution ein zentrales Anliegen.

Ich möchte ausdrücklich betonen, dass Konstitutionen niemals „bestimmt“ werden, schon gar nicht durch völlig unzureichende Testbögen oder Kurzkonsultationen mit mystisch anmaßenden „Pulsdiagnosen“. Das Verständnis unserer Natur ist vergleichbar mit der vollständigen Erkenntnis unseres genetischen Codes und daher die tiefste und äußerst komplexe Ebene im Ayurveda.

Die körperliche Konstitution entsteht im Moment der Zeugung und wird durch Schwangerschaft, Geburt und postnatale erste Entwicklungsjahre noch nachhaltig geprägt. Im Laufe der Kindheit stabilisiert sich diese und begleitet uns fortan durch das Leben. Eine ausgereifte Konstitution ist unveränderlich, unsere bewusste Lebensführung kann deren Ausgleich jedoch unterstützen. Krankheiten verändern das Erscheinungsbild einer Konstitution, was im Ayurveda mit dem Begriff „Vikriti“ (übersetzt „Veränderung“) beschrieben wird.

Das Erforschen einer Konstitution beinhaltet somit eine umfassende Familienanamnese und Befragung der Entwicklungsgeschichte in den einzelnen Lebensphasen vom Säugling über die Kindheit, Adoleszenz, das Erwachsenenalter bis zum gegenwärtigen Lebensmoment. Der anatomisch-morphologische Körperstatus zählt zu den stabileren, der physiologischfunktionelle hingegen zu den variableren Konstitutionsmerkmalen, die immer von möglichen krankhaften Veränderungen abzugrenzen sind. Konstitution und aktueller Zustand sind selten völlig deckungsgleich. Die Krankheitsgeschichte und Erfassung von Prädispositionen sowie die psychologische Anamnese runden die Analyse ganzheitlich ab.

Präventive Ernährung und Lebensführung

© fotoexodo - Fotolia.comDer Ayurveda ersetzt die Begriffe „gesund“ und „ungesund“ durch die individuellere Bezeichnung „zuträglich“ und „abträglich“.

Die Zuträglichkeit unserer Lebensweise für mehr Gesundheit und Langlebigkeit hängt ayurvedisch betrachtet im Wesentlichen von folgenden Kriterien ab:

  • Lebe ich konstitutionsgerecht?
  • Passe ich mich den naturgegebenen chronobiologischen Rhythmen an?
  • Sorge ich für einen ausgeglichenen Energiehaushalt?
  • Verfolge ich ausgewogene Lebensziele?
  • Berücksichtige ich nebst meiner eigenen Identität auch mein Umfeld, Familie und lebe ich zeitlich und kräfteorientiert angemessen?

Diese Fragen möchte ich nachfolgend näher beleuchten.

Konstitutionsgerechte Lebensweise

Ein Leben in Einklang mit der eigenen Konstitution macht glücklich. Die Kenntnis unserer Anfälligkeiten ermöglicht präventive Gegensteuerung, ohne dass es jemals zum krankhaften Ausbruch kommen muss.

Folgende Punkte können konstitutionsorientiert berücksichtigt werden:

  • Ernährungskonzept mit einem persönlichen, umsetzbaren Mahlzeitensystem unter Auswahl zuträglicher Geschmacksrichtungen, Nahrungsmittelgruppen, Mengenverhältnisse, Kombinationen und Zubereitungen
  • Schlafhygiene mit individueller Ermittlung der optimalen Dauer, Zeiten und Qualität
  • Zeitgestaltung ohne Druck zur Erfüllung beruflicher Aufgaben und Befriedigung persönlicher, familiärer und sozialer Bedürfnisse
  • Partnerschaft und Freundeskreis zur gegenseitigen Inspiration und Bereicherung der Lebensqualität
  • Psychohygiene zur Konfliktlösung und Stressbewältigung
  • Persönliche Pflege und Körperkultur zur Erhaltung von Gesundheit und ästhetischem Ausdruck
  • Wechsel von Bewegung und Ruhe zur Spannungsregulation unter Einsatz individuell geeigneter übender Verfahren
  • Berufswahl gemäß Begabung und Selbstverwirklichung
  • Finanzplanung zum Aufbau einer wirtschaftlichen Unabhängigkeit
  • Urlaubsplanung zur körperlichen und mentalen Regeneration
  • Präventivkuren zur regelmäßigen Reinigung, Regulation und Kräftigung in ambulanter, stationärer oder heimischer Durchführung

Ayurvedische Chronobiologie
Der Ayurveda beschreibt circadiane (Tag-Nacht- Zyklen) und infradiane (jahreszeitliche und hormonelle Zyklen) Rhythmen sowie Lebensphasen des Menschen anhand der fünf Elemente und deren Funktionsprinzipien Vata (das kinetische Prinzip), Pitta (das thermischtransformatorische Prinzip) und Kapha (das strukturelle Prinzip).

Tag und Nacht lassen sich jeweils dritteln und beginnen mit dem Sonnenauf- bzw. -untergang mit Kapha-Dominanz, gefolgt vom mittleren Pitta-Drittel und dem letzten Vata- Drittel vor dem Übergang. Im Winter nehmen Eigenschaften von Vata und Kapha zu, der Frühling verflüssigt das Kapha, im Sommer steigt Pitta und im Herbst wieder das Vata an. Der Menses-Zyklus ist in der Follikelreifungsphase Kapha-dominiert, periovulatorisch durch Pitta- und prämenstruell durch Vata- Zunahme gekennzeichnet. Das Leben einer Frau entwickelt sich mit Kapha-Qualitäten in der Kindheit, schreitet mit Einsetzen der Pubertät in der Pitta-Phase voran und mündet nach dem Abklingen der Sexualreife mit Menopause in eine von Vata dominierte Zeit bis zum Tod. Im männlichen Geschlecht ist die Andropause nicht scharf abgrenzbar, aber dennoch als Übergang in die dritte Lebensphase anzusehen.

Die Anpassung an chronobiologische Rhythmen ist weniger kraftaufwändig als dagegenzusteuern. Neben der Kraft unserer konstitutionellen Anlagen wirkt also auch die Kraft der Naturrhythmen auf uns ein – verstehen und synchronisieren wir beide, ist Gesundheit die natürliche Folge.

Der Energiehaushalt aus ayurvedischer Sicht
Unser Energiehaushalt ist mit zwei Arten von „Batterien“ vergleichbar. Die eine wird konstitutionell von Geburt an bereitgestellt und könnte als „Lebensbatterie“ bezeichnet werden – ihre Ladung ist festgelegt, nicht regenerierbar und wird kontinuierlich über die ganze Lebensspanne verbraucht. Die andere bezeichne ich gerne als „Alltags- Akku“ – dieser wird täglich durch Nahrung, Atmung, Regeneration und Schlaf aufgeladen und steht uns zum Erbringen von Leistung zur Verfügung. Hinzu kommt das Konzept eines Lebensfeuers, welches sowohl mental als auch körperlich repräsentiert wird. Wann immer die Anforderungen von Leistungen die „Akku-Kapazität“ überschreiten, wird die Lebensbatterie angezapft.

Eine präventivmedizinische Sprechstunde achtet daher auf das konstitutionsabhängige Ladevermögen, den Ladezustand und vergleicht diese mit dem gegenwärtigen Energieverbrauch des Klienten. Ist die Energiebilanz negativ, wird das System nach Verbrauch aller Reserven nachhaltig geschwächt – ist sie positiv, können hingegen Reserven aufgebaut werden.

Die ayurvedische Bedeutung von Lebenszielen
Gesundheit ist nicht zum Selbstzweck gedacht – sie ist die Basis zur Verwirklichung von Lebenszielen. Der Ayurveda beschreibt vier Gruppen von Zielen, die wiederum aus zahlreichen Unterzielen bestehen:

  • ethisch-moralische Lebensorientierung (sanskrit „Dharma“)
  • materieller Wohlstand (sanskrit „Artha“)
  • sinnliche Erfüllung (sanskrit „Kama“)
  • spirituelle Verwirklichung (sanskrit „Moksha“)

Welche Ziele vorrangig verfolgt werden, hängt neben Glaubenssätzen von unseren persönlichen Werten und Bedürfnissen ab, die schon in der Kindheit erstmals geprägt werden und durch das Leben hindurch stetigen Veränderungen unterliegen. Vor der Motivation steht also das Verständnis der Motive, aus denen heraus wir zielgerichtet handeln.

Stehen in jüngeren Lebensphasen die Sicherung materiellen Wohlstands und Erfahrung sinnlicher Genüsse stärker im Vordergrund, so entfalten sich ethisch-spirituelle Bedürfnisse vor allem in der zweiten Lebenshälfte. Der Ayurveda legt großen Wert auf eine gesunde Verteilung der Lebensziele aller vier Gruppen, da einseitige Orientierungen zu imbalancierter Lebensweise beitragen.

In der ayurvedischen Präventivsprechstunde können Werte analysiert, Bedürfnisse vergegenwärtigt und Ziele definiert werden.

Die fünf Lebensaspekte: Identität, Umfeld, Familie, Zeit und Kraft
„Wer bin ich?“ ist wohl die komplexeste aller Lebensfragen und kann sowohl aus persönlichkeitspsychologischer als auch aus metaphysischer Perspektive betrachtet werden. Unser Umfeld ist unser Habitat, der Lebensraum und die Gesellschaft, in der wir leben und uns zu verwirklichen suchen. Die Familie stellt unsere Lebensgemeinschaft und konstitutionelle Herkunft dar. Der Faktor Zeit bezieht sich sowohl auf unser Zeitalter, eine Epoche, als auch auf unsere Lebensphase bis hin zum jahres- und tageszeitlichen Geschehen. Die körperliche und mentale Kraft beschreibt unsere Leistungsfähigkeit und schließt auch Talente mit ein.

Die individuelle Analyse unserer Lebensziele anhand der fünf Lebensaspekte und deren Gegenüberstellung zu unseren Gedanken, Worten und Handlungen stellt die Grundlage ayurvedischer Psychologie dar und wird sowohl in der Präventiv- als auch Kurativmedizin angewandt.

Moderner europäischer Ayurveda
Es gibt nur einen Ayurveda, basierend auf den Naturgesetzmäßigkeiten, die in Nordindien vor 2.000 Jahren in den klassischen Kompendien niedergelegt und damit konserviert wurden. Die Anpassung an zeitliche und örtliche Veränderungen in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten war diesem klassischen Ayurveda ein großes Anliegen.

Daher lässt sich örtlich ein indischer von einem europäischen Ayurveda und zeitlich ein traditioneller von einem modernen Ayurveda unterscheiden.

In Indien liefert der Ayurveda nach wie vor die Grundversorgung vorrangig akut und häufig infektiös erkrankter Patienten, insbesondere aus ärmeren ländlichen Gebieten. Durch eine indische Ayurveda-Praxis werden nicht selten mehr als 200 Patienten täglich geschleust. Dass hier allein zeitlich betrachtet wenige Möglichkeiten für die beschriebene ganzheitliche Präventivorientierung bestehen, versteht sich von selbst.

In Europa hingegen hat sich der Ayurveda als stabile Säule der Komplementärmedizin etabliert und versorgt überwiegend funktionelle Störungen, chronische Erkrankungen, psychosomatische Beschwerdebilder und Klienten ohne erkennbare Krankheiten mit dem Wunsch nach einem gesünderen erfüllten Leben. Das moderne Europa ist die heutige Heimat und Zukunft ayurvedischer Präventivmedizin.

Bleiben Sie gesund!

Ralph Steuernagel Ralph Steuernagel
studierte Ayurveda- Medizin in Nordindien, chinesische Medizin, europäische Humoralmedizin und Psychologie. Er arbeitet seit 13 Jahren als Therapeut (HP) in eigener Privatpraxis
privatpraxis@eurasia-med.de

Literaturhinweise:

  • Mittwede, M.: Der Ayurveda. Von den Wurzeln zur Medizin heute. Haug Verlag 1. Auflage, 1998
  • Ranade, S.: Ayurveda Basislehrbuch. Urban & Fischer Verlag 3. Auflage, 2004
  • Rhyner, H.: Das neue Ayurveda Praxishandbuch. Urania Verlag 5. Auflage, 2004
zurück zur Übersicht dieser Ausgabe
Paracelsus SchulenWir beraten Sie gerne
Hier geht's zur Paracelsus Schule Ihrer Wahl.
Menü