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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 5/2012

Traumabehandlung mit Psychosomatischer Kinesiologie®

Cover

Bei jeder Traumabehandlung gehen wir prinzipiell von einem Phasenmodell aus, das einen sicheren Rahmen schafft und Retraumatisierungen verhindert. Die wesentlichen Schritte sollten dabei sein – durchaus auch in dieser Reihenfolge:

  • © elavuk81 - Fotolia.comVertrauen aufbauen und Sicherheit vermitteln
  • Instruktion über das geplante Vorgehen
  • Anamnese, Diagnostik und Beziehungsaufbau
  • nach Ressourcen suchen und diese verankern
  • schonend und pendelnd vorgehen (zwischen Gegenwart und Vergangenheit)
  • imaginative Arbeit kombiniert mit Stressabbau
  • Neutralisieren und Entmachten von Triggern
  • Umgang mit den Folgen des Traumas
  • Integration und Öffnung für die Zukunft

Die praktische Erfahrung hat aber gezeigt, dass sich diese Reihenfolge gar nicht immer so einhalten lässt, weil sich die Notwendigkeit traumatherapeutischer Interventionen an ganz unterschiedlichen Stellen zeigt. Anhand von vier durchaus typischen Fallbeispielen aus meiner Praxis möchte ich das anschaulich machen. Dabei gehe ich von dem in Tabelle 1 dargestellten Schema aus, das vier verschiedene Möglichkeiten zeigt, inwieweit unseren Klienten ihre traumatischen Erfahrungen überhaupt schon bekannt sind und von ihnen als Belastung oder Einschränkung ihrer gegenwärtigen Lebensqualität empfunden werden. Die vier Fallbeispiele spiegeln jeweils eine der Möglichkeiten wieder.

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Silke – Trauma bekannt und bewusst

Silke ist 41 Jahre alt und kommt zu mir mit dem Wunsch, über ein traumatisches Erlebnis hinwegkommen zu können und die chronisch schleichende Angst vor einer Wiederholung loszuwerden. Was war passiert? Vor knapp einem Jahr war sie mit ihrem Mann zum Tanzen ausgegangen. Beide waren vergnügt und genossen die Musik und die Atmosphäre, die Lichtblitze und die Spiegelwände im Tanzsaal. Plötzlich brach Silke zusammen – Herzstillstand. Der Notarzt wurde gerufen und war auch schnell da, um Silke wiederzubeleben. Im Koma liegend wurde sie in die Klinik gebracht und dort intensivmedizinisch behandelt. Ihr Mann stand unter Schock und begleitete sie zunächst, fuhr dann zu den beiden halbwüchsigen Kindern nach Hause. Silke blieb zwei Tage bewusstlos und wurde in dieser Zeit operiert, damit ihr ein Herzschrittmacher eingesetzt werden konnte. Als sie wach wurde, erinnerte sie sich zunächst an nichts; nach und nach kamen aber alle Funktionen wieder – trotzdem war sie nicht mehr die Alte! Sie denkt seitdem viel über sich und ihr Leben nach – darüber, wie es zu diesem Zwischenfall hat kommen können, über den selbstmörderischen Motorradunfall ihres Bruders vor acht Jahren, über ihre Verantwortung als Mutter und darüber, wie sie künftig leben will. In der Aufarbeitung haben wir es mit einer ganzen Kette von Traumata zu tun: dem Moment des Herzstillstandes, einem Moment im Rettungswagen, dem Moment des Aufwachens in der Klinik mit völliger Orientierungslosigkeit, dem Schrecken darüber, was mit ihr passiert war, der Angst darüber, was sie ungewollt mit all dem ihrem Mann und ihren Kindern angetan hat, der Angst, dass sie den Defibrillator tatsächlich braucht …

Heike – „Schein“-Probleme

Heike ist 26 Jahre alt, verheiratet und lebt in einem Dorf. Vor gut einem Jahr wurde sie stolze Mutter eines Sohnes. Die Entbindung verlief normal, ein Dammschnitt wurde gemacht, ansonsten gab es keine Komplikationen. Trotzdem entwickelte sie zunehmend das Gefühl, irgendetwas stimme mit ihrem Körper nicht. Sie beobachtet sich und verschiedene wechselnde Symptome ganz genau. Dabei spielt der Unterleib eine herausragende Rolle: Sie war schon zigmal beim Frauenarzt und wollte Gewissheit haben, dass „alles in Ordnung“ sei. Mittlerweile lehnt der Arzt weitere Untersuchungen ab. Heike ist erfinderisch und geht mal in die Frauenklinik, mal zu einer anderen Frauenärztin, mal zu einem Internisten, dann wieder zu einem Hautarzt usw. Bald hat sie sich ein System von Therapeuten um sich herum geschaffen, die sie reihum im Abstand von ein paar Tagen aufsucht. Nach der jeweiligen Bestätigung, dass sie ganz gesund sei, ist sie für einige Zeit beruhigt; dann aber dringen die Ängste wieder an die Oberfläche und rauben ihr den Schlaf und die Lebensfreude. Auch mich bezieht sie – anfangs nichts ahnend – in dieses System mit ein, das ich erst nach und nach durchschaue. In der gemeinsamen Arbeit stellt sich dann heraus: Mit 13 Jahren wurde Heike von einem Sportwart sexuell missbraucht, hat sich aber nicht getraut, das Zuhause zu erzählen. Damals fing sie an, sich ängstlich zu beobachten, ob ihr irgendetwas anzumerken wäre. Nach und nach trat dieses Erlebnis in den Hintergrund, irgendwann schien sie es ganz vergessen zu haben. Das Geburtserlebnis reaktivierte das alte Trauma und damit zusammen auch die hypochondrische Selbstbeobachtung, die ihr aber aufgrund der wechselnden Symptome völlig normal erschien.

Tanja – Ahnungen und der Wunsch nach Gewissheit

Tanja, eine junge Frau von 28 Jahren, meldete sich in meiner Praxis, nachdem sie an einem Tantra-Wochenende teilgenommen hatte. Sie wollte ihre sexuelle Erlebnisfähigkeit verbessern und hatte auch überlegt, eventuell eine Tantra-Ausbildung zu machen. Sie fand es spannend, viel Neues kennenzulernen, hatte aber während verschiedener Übungen an diesem Wochenende und auch danach noch merkwürdige Empfindungen. Diese ließen sich schwer beschreiben, sodass sie noch einmal mit den Seminarleitern und anschließend mit ihrer älteren Schwester sprach. Dabei stieg der Verdacht in ihr auf, sie könnte sexuell von ihrem Großvater missbraucht worden sein, obwohl sie keine bewusste Erinnerung daran hatte. Nun wollte sie von mir wissen, ob das mit der Tantra-Ausbildung überhaupt das Richtige für sie sei. Und außerdem, ob man den Körper nicht über den Muskeltest einfach fragen könne, ob an der Geschichte mit dem Opa irgendetwas dran sei. Wenn der Buchtitel „Der Körper lügt nicht“ stimme, müsse das doch schnell zu ermitteln sein …

Joachim – ganz anderer Beratungsanlass

Joachim ist Mitte 40 und arbeitet schon viele Jahre als Betreuer in einer Wohngruppe der Lebenshilfe. Die Arbeit ist anstrengend wegen des Schichtdienstes und mancher Querelen unter den Mitarbeitern, aber auch befriedigend im Hinblick auf die behinderten Bewohner. Privat ist er liiert; mit seiner Freundin wohnt er aber nicht zusammen, die beiden verabreden sich nur sporadisch. Finanzielle oder sonstige Sorgen hat er eigentlich nicht. Sein Leben könnte schön sein – aber er fühlt sich depressiv, hat viele Selbstzweifel, sieht sein Leben grau in grau, kann sich zu nichts Erfreulichem aufraffen. Beratungsauftrag: Sein Leben soll wieder bunt werden, er möchte seine Freude zurückgewinnen. Wir machen uns an die Arbeit, klären verschiedene Konflikte und mögliche Hintergründe für die depressive Entwicklung auch aus seiner Herkunftsfamilie usw. Aber nichts tut sich wirklich. Er geht zwischendurch zum Psychiater und nimmt eine Weile Antidepressiva, ohne Erfolg. Dann testen wir kinesiologisch noch einmal systematisch alle Kategorien durch, wo und wie der Organismus Stress abspeichert, und finden eine massive Belastung im Nervensystem, die etwa fünf Jahre zurückliegt. Schließlich fällt ihm ein, dass er damals die Wohnung eines Freundes tapeziert hatte. Dabei geriet er mit dem nassen Quast über eine offene Steckdose und erhielt einen sehr starken Stromschlag, sodass er weit ins Zimmer geschleudert wurde und einen Riesenschreck mit Todesangst bekam. Nachdem wir dieses Trauma bearbeitet hatten, wurde er wieder lebensfroh und unternehmungslustig.

Reaktionen von nicht-traumatisierten Menschen auf solche Geschichten

Beim Lesen dieser Fallgeschichten merken Sie vielleicht auch bei sich selbst ganz unterschiedliche Gefühle, die Sie – je nach ihren eigenen Erfahrungen – manchmal schon bis an den Rand des Erträglichen bringen können. Genauso geht es vielen Menschen, die Traumaopfern begegnen. Das heißt, die soziale Umgebung reagiert auf deren Berichte, Klagen und Symptome oft – durchaus auch wieder in zeitlicher Abfolge – so:

  1. mit Sympathie und Verständnis
  2. mit Beruhigung und Verharmlosung: „Bald wirst Du Dich besser fühlen!“ „Bald ist alles wieder wie früher!“
  3. mit Ungeduld und Irritation: „Nun hör aber auf mit Deinem Gejammer!“ „Irgendwann muss mal Schluss sein!“
  4. mit Scham-Appellen: „Du solltest Dich schämen, dass Du Dich immer noch so verhältst, nach allem, was wir für Dich getan haben!“ oder auch „ … nach allem, was Du uns angetan hast!“
  5. mit Ausgrenzung: „Mit so jemandem wollen wir nichts (mehr) zu tun haben!“
  6. mit Angriffen und Aggressionen: „Der ist ja verrückt, hysterisch, ein Simulant, asozial, kriminell …“

Die Folgen sozialer Stigmatisierung bei den Betroffenen

Die Auswirkungen solcher Reaktionen der Mitwelt können bei den Traumaopfern erfahrungsgemäß in drei Richtungen gehen:

  • Entweder setzt sich das Opfer aggressiv mit der sozialen Umwelt auseinander (Gewalt gegen sich oder andere),
  • es isoliert sich noch mehr von der sozialen Umwelt (Flucht in die Sucht)
  • oder es versucht, durch Aufrechterhaltung der Spaltungen zu funktionieren (dissoziative Persönlichkeitsstörungen).

Kategorien von Traumafolgestörungen

Mit den Reaktionen der Umwelt umzugehen, kommt also als Aufgabe auf Betroffene zusätzlich zu, obwohl sie ja eigentlich schon mit der Bewältigung der Trauma-Auswirkungen mehr als genug zu tun haben. Worum geht es dabei?

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Primär posttraumatische Symptomatik als unmittelbare Folgewirkungen

  • intrusive Symptome
  • traumaassoziierte Ängste
  • dissoziative Reaktionen
  • Übererregbarkeit
  • triggerbare körperliche Stressreaktionen

Sekundäre posttraumatische Symptomatik als traumakompensatorische Versuche

  • Vermeidungsverhalten
  • sozialer Rückzug
  • Scham und Schuld
  • Selbstwertprobleme
  • Suchtmittelkonsum
  • Zwangshandlungen

Wegen der Vielzahl spezifischer Folgestörungen müssen sich auch die therapeutischen Interventionen auf verschiedene Ebenen beziehen – so wie es Prof. Dr. Martin Sack in seinem Buch über die schonende Traumatherapie aufgeschlüsselt hat:

  • spezifische Traumafolgesymptomatik
  • komplexe PTBS
  • dissoziative Störungen
  • komorbide Krankheitsbilder
  • Angststörungen
  • depressive Störungen
  • somatoforme Störungen
  • Abhängigkeitserkrankungen

Andere therapierelevante Problembereiche

  • Suizidalität
  • selbstverletzendes Verhalten
  • Störungen der Affekt- und Selbstregulation
  • Fähigkeit, mit belastenden Affekten umzugehen
  • Kontrolle von Ärger und Wut
  • Konflikt- und Beziehungsfähigkeit

Persönliche Ressourcen

  • soziale Kontakte
  • Interessen, Hobbys
  • positive Erfahrungen im Alltag

Schlüsselfragen, um Ressourcen zu finden

Aber wie findet man gemeinsam mit den Klienten die notwendigen Ressourcen? Hier haben sich bestimmte Fragen bewährt, die man entweder zusammen in der Therapiesitzung erarbeitet oder auch als Hausaufgabe mitgeben kann, wenn die Klienten relativ stabil sind.

Hinweis

Bitte beantworten Sie all diese Fragen einmal schriftlich für sich selbst, damit Sie wissen, was Sie Ihren Klienten abfordern!

  • Was läuft bei Ihnen gut?
  • Was kann vorerst bleiben, wie es ist?
  • Wo liegen Ihre Stärken?
  • Wofür werden Sie von anderen Menschen geschätzt?
  • Welche Fähigkeiten, über die Sie bereits verfügen, könnten Ihnen helfen, die aktuelle Problematik zu lösen?
  • Wie haben Sie ähnliche Probleme in anderen Situationen schon gelöst?
  • Wer könnte Ihnen dabei helfen oder Sie unterstützen?
  • Welche Stärken haben Sie durch die traumatische Erfahrung ausgebildet, die Sie ohne diese nicht gelernt hätten – wenn Ihr Leben normal weiter gelaufen wäre?

Fortsetzung folgt!

Dr. paed. Werner Weishaupt Dr. paed. Werner Weishaupt
Dozent und Heilpraktiker für Psychotherapie und Kinesiologie, Leiter der „Praxis im Zentrum“ in Salzgitter, Präsident des VFP e.V.

kinesiologiesz@aol.com.de

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