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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 5/2014

Depressionen,Würmer und das menschliche Immunsystem

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© altanaka - Fotolia.comDie Häufigkeit von depressiven Störungen ist in den letzten Jahren weltweit stark angestiegen. Obwohl die Lebenszeitprävalenz stark variiert (z.B. Japan 3% vs. USA 17%), hat sich die Rate an Personen, welche an einer Depression erkranken, in den meisten Ländern zwischen 8 bis 12% eingepegelt und damit einen neuen Höchststand erreicht (Andrade & Caraveo, 2003). Der Versuch, diesen Trend durch eine Sensibilisierung der Betroffenen und ihrer Angehörigen sowie einer niedrigeren Diagnoseschwelle zu erklären, scheiterte, daher gehen inzwischen viele Wissenschaftler von einer realen Zunahme dieser Erkrankungen aus (z.B. Hidaka, 2012; Twenge et al., 2010). In diesem Zusammenhang traten einige Theorien zur Depressionsentstehung in den Fokus der Forscher. Sie ließen sich von der Frage leiten: „Was hat sich an unserer (Um-)Welt verändert, das psychische Störungen so rasant ansteigen lässt?“ Die möglichen Antworthypothesen reichen dabei von der „Depression als Fehlanpassung an chronischen Stress“ bis zu „Depression als Ausdruck einer sozialen Gratifikationskrise“.

Die Antworten der evolutionären Psychiatrie und Psychologie

Die evolutionäre Psychologie ist ein Forschungszweig, der menschliches Erleben und Verhalten mit Erkenntnissen über die Evolution erklärt, während die evolutionäre Psychiatrie die Rolle der Evolution bei der Entstehung und Deutung von psychischen und psychosomatischen Störungsbildern untersucht. Im Rahmen dieser Paradigmen betrachtet ist die weltweite Neigung zu depressiven Verstimmungen so häufig, dass eine adaptive Funktion als wahrscheinlicher gilt, als die isolierte Bedeutung als Krankheitsgeschehen. Die Vertreter dieser Strömung vermuten also, dass die Depression einen evolutionären Nutzen hatte – oder gar immer noch hat (z.B. Stevens & Price, 2000). So wird sie einerseits als Unterordnungsreaktion nach Niederlagen interpretiert (z.B. Bhugra & Mastrogianni, 2008) und mit heute herrschenden unsicheren Lebensbedingungen und Konkurrenzerleben in Verbindung gebracht. Andererseits wird die typische Handlungshemmung der depressiven Verstimmungen als unter bestimmten Voraussetzungen funktional verstanden (z.B. Nesse, 2006). Diese evolutionspsychologischen bzw. -psychiatrischen Konzepte werden in der Fachwelt zwar verstärkt diskutiert, haben allerdings noch keinen Eingang in die Prävention und Therapie gefunden.

Depressionen und das Immunsystem

Dantzer und Kollegen (2008) führen aus, dass Entzündungen ein wichtiger biologischer Vorgang sind, welcher das Risiko für depressive Verstimmungen ähnlich erhöhen könnte, wie die eher klassischen psychosozialen Faktoren. Die Autoren führen dies auf proinfl ammatorische Zytokine zurück, welche von unseren Immunzellen als Antwort auf periphere Infektionen produziert werden und zum „sickness behavior“ führen. Dies könnte der eigentliche Grund dafür sein, warum die Depressionsrate unter körperlich kranken Personen so stark erhöht ist.

Diese Erkenntnisse und das verstärkte Auftreten von psychischen Störungen und Autoimmunkrankheiten in der westlichen Welt brachten die Forscher auf eine Idee: Das menschliche Immunsystem musste einen seiner Regulatoren verloren bzw. geschädigt haben. Diesen bedeutenden Regulator machten die Wissenschaftler unter drei Organismen, nämlich Parasiten, Pseudoparasiten und Würmern, aus. Der Mensch hatte sich über Generationen gemeinsam mit diesen Spezies entwickelt und sie somit zu einem Teil seines Immunsystems gemacht. Durch die gestiegene Hygiene in der westlichen Welt wurden einige der Organismen nicht mehr zugeführt, andere wurden durch Antibiotika und Co. aus ihrem Habitat verdrängt. Die Wissenschaftler tauften diese Theorie auf den Namen Old-Friends-Hypothese. Diese ist sowohl in der Lage, die Zunahme depressiver Störungen, den Unterschied in der Auftretenshäufigkeit psychischer Störungen zwischen Ländern der westlichen Welt und Entwicklungs- und Schwellenländern sowie zwischen dem urbanen und ländlichen Raum zu erklären.

Von Würmern und Zytokinen

Zytokine sind Proteine, welche die Differenzierung und das Wachstum von Zellen regulieren. Eine besondere Rolle spielen dabei die Interferone, welche von Lymphozyten und Fibroblasten gebildet werden. Sie haben eine immunstimulierende, vor allem antivirale und antitumorale Wirkung. Eine Subgruppe der Interferone, das Alpha-Interferon, wird aufgrund dieser Eigenschaften medikamentös zur Therapie von Hepatitisinfektionen eingesetzt. Allein die Gabe von Alpha-Interferon führte in rund 30% der Fälle zu psychischen Komplikationen, darunter bei zahlreichen Patienten, die vor der Behandlung keine weiteren Risikofaktoren zeigten (Debien, 2001). Inzwischen wird deshalb die vorbeugende Gabe von Antidepressiva während einer Behandlung mit Alpha-Interferon diskutiert (Sarkar & Schäfer, 2013).

Das menschliche Immunsystem verfügt über verschiedene Möglichkeiten, auf Angriffe zu reagieren. So zerstören T-Killerzellen die erkrankte Zelle direkt, während die sogenannten T-Helferzellen die bereits erwähnten Zytokine ausschütten und weitere Immunzellen anlocken. Die T-Helferzellen werden noch einmal in T-Helferzellen des Typs I (TH1 – zellvermittelte Immunantwort), des Typs II (TH2 – humorale Immunantwort) und des Typs 17, welcher erst kürzlich entdeckt wurde und dessen Funktion noch weitgehend unerforscht ist, unterschieden. Eine weitere Partei, die regulatorischen T-Zellen (Treg), sorgt dafür, dass die Immunantwort nicht zu stark ausfällt und verhindert somit das Auftreten von Autoimmunität gegen normale Gewebe. Dazu fangen die regulatorischen T-Zellen Antigene sowie Wachstumsund Differenzierungsfaktoren ab oder töten überschüssige T-Zellen.

Sowohl durch TH1 als auch durch TH2 regulierte Entzündungen sind mit dem Auftreten von Ängsten und Depressionen assoziiert. Infiziert sich der menschliche Körper nun aber mit den „Old Friends“, z.B. Bandwürmern, dann werden als Reaktion darauf die regulatorischen T-Zellen dauerhaft aktiviert und eine Überaktivierung der Th-1- und Th-2-Zellen wird dadurch unterbunden. Obwohl bisher keine Studien zur Behandlung von depressiven Störungen und Ängsten mit Parasiten oder Würmern vorliegen, konnten durch die Wissenschaftler große Erfolge bei anderen Krankheiten mit ähnlichen Assoziierungen mit dem Immunsystem erzielt werden. So wurden Eier des Schweinepeitschenwurms bereits effektiv zur Therapie von chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, Multipler Sklerose, Asthma und autoimmunem Diabetes eingesetzt. Weiterhin werden auch positive Effekte bei der Behandlung von Autismus erwartet. In den verschiedenen Untersuchungen konnte die Regulation der Th-1- und Th-2-Aktivität und die Verminderung proentzündlicher Zytokine nachgewiesen werden (z.B. Summers et al., 2005). Es sollte also nur eine Frage der Zeit sein, dass neben den Autoimmunkrankheiten und dem Autismus auch psychische Störungen, wie Depressionen und Angsterkrankungen, in den Fokus der Forscher geraten.

Gerade nach Publikation der erschreckenden Ergebnisse einer Untersuchung der Bertelsmann Stiftung (Melchior et al., 2014), wonach über die Hälfte der Betroffenen mit schweren Depressionen nur eine unzureichende und fast ein Fünftel überhaupt keine Therapie erhält, wird die Unfähigkeit der aktuellen medizinischen und psychotherapeutischen Vorgehensweise ersichtlich, dem Ausufern dieses Krankheitsbildes gerecht zu werden. Es wird angenommen, dass aktuell ca. neun Millionen Deutsche an einer behandlungsbedürftigen Depression erkrankt sind. Die Chance auf eine angemessene Therapie ist dabei stark vom Wohnort des Betroffenen abhängig (z.B. mein Heimatlandkreis Görlitz/Ostsachsen mit 15,5%). Der Mangel an psychotherapeutisch geschulten Therapeuten und Psychiatern führt leider häufig dazu, dass überforderte Allgemeinmediziner die „Behandlung“ der Depression durch die regelmäßige Gabe von Psychopharmaka übernehmen oder die Patienten ihre Beschwerden als vorübergehende Überforderungen o.Ä. aussitzen lassen. Während die zweite Option natürlich absolut indiskutabel ist, weist auch die Gabe von Psychopharmaka einige Probleme auf. Zuerst einmal muss festgestellt werden, dass Psychopharmaka effektiv sind – nach 12 Monaten kann etwa die Hälfte der behandelten Patienten über mindestens halbierte Beschwerden berichten. Allerdings sind diese Effekte oft nicht anhaltend und etwa zwei Drittel der Betroffenen erleidet einen Rückfall (zum Vergleich: nur 27% bei Psychotherapie). Übelkeit, Gewichtszunahme, gastrointestinale Beschwerden, sexuelle Dysfunktion und Auswirkungen auf das Herz- Kreislauf-System sind einige der häufigsten Nebenwirkungen. Von diesen zeugen auch die relativ hohen Abbruchraten der pharmakologischen Therapie – etwa jeder dritte Patient bricht die Behandlung mit einem trizyklischen Antidepressivum ab. Die Medikamente ändern auch nichts an den zugrundeliegenden Ursachen der Depression und nehmen weder auf kritische psychosoziale, noch auf biologische Faktoren Einfluss.

Aufgrund dieses dargestellten Sachverhaltes scheint es notwendig, dass sich die Fachwelt neben den bekannten Risikofaktoren auch anderen Mechanismen bei der Entstehung von psychischen Störungen widmet, um einen möglichst großen Einfluss auf die zugrunde liegende Pathophysiologie zu erhalten und dadurch weitere Therapieoptionen zu generieren. Diese sollten effektiv, breit verfügbar, kostengünstig und nebenwirkungsarm sein. Es ist interessant, dass wir einen vielleicht ganz einfachen, in uns seit Jahrtausenden verwurzelten Mechanismus übersehen. Der moderne Mensch scheint nicht fähig, die Zweischneidigkeit vieler Errungenschaften unserer Zivilisation zu erkennen. Unter Umständen müssen wir, was Ernährung, Hygiene, Bewegung und weitere Faktoren anbelangt, auch einmal wieder einige Schritte rückwärts gehen und nicht ausschließlich in Superlativen denken. Die bahnbrechenden Ergebnisse bei der Beeinflussung des aktiven Morbus Crohn über die Gabe von lebensfähigen Eiern des Schweinepeitschenwurms mit Responderraten von bis zu 80% (Summers et al., 2005) sprechen für die Verifizierung dieser Theorie jedenfalls Bände.

Thomas Struppe Thomas Struppe
BSc und stud. MSc Psychologie, Sportphysiotherapeut

th.struppe@t-online.de

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