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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 4/2017

Zappelphilipp durch Winkelfehlsichtigkeit?

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© Kadmy I Fotolia.comADHS oder Assoziierte Heterophorie?

Wenn Schüler schlechte Noten schreiben, Probleme mit der Rechtschreibung oder dem Rechnen haben, wenn sie Verhaltensauffälligkeiten zeigen, Zappelphilipp, Klassenkasper, Randalierer oder Träumerchen sind, dann werden ganz schnell Legasthenie, Dyskalkulie oder ADS/ADHS ins Spiel gebracht.

So verbringen zahlreiche Kinder und Jugendliche viele, viele Stunden mit diversen Therapien oder werden mit Medikamenten vollgestopft, deren Nebenwirkungen bislang noch unbekannt oder, wenn man sie kennt, erschreckend sind. Doch es wird leider nicht immer genau hingeschaut, ob es nicht noch andere Ursachen für die o.g. Probleme gibt.

Das Institut zur Fo(e)rderung besonderer Begabungen in Witten hat vor einigen Jahren herausgefunden, dass es einen Zusammenhang zwischen extrem niedrigen Werten in ein bis zwei Bereichen des Intelligenztests AID (Adaptives Intelligenzdiagnostikum) und einer vorhandenen Wahrnehmungsstörung gibt. Es handelt sich dabei – neben anderen Ursachen – meist um eine Assoziierte Heterophorie, besser bekannt unter dem bei Augenärzten unbeliebteren Begriff „Winkelfehlsichtigkeit“. Laut neuesten Erkenntnissen sind rund 75% aller Menschen davon betroffen, wobei die meisten dies gar nicht bemerken.

Unter einer Winkelfehlsichtigkeit versteht man das Abweichen vom korrekten beidäugigen Sehen. Eine genaue Ausrichtung beider Augen auf das anzuschauende Objekt ist dann nicht gegeben.

Das Vorhandensein einer Winkelfehlsichtigkeit wird von vielen Augenärzten in Deutschland nicht akzeptiert, da es sich um keine Krankheit, sondern um eine Beeinträchtigung im Sinne einer Wahrnehmungsstörung handelt, die in der Regel von anderen therapeutischen Praxen behandelt wird. Die Erfolge durch eine Prismenbrille sind jedoch belegt. Die Nachtestungen betroffener Kinder ergaben nach Verordnung einer solchen Brille deutlich verbesserte Werte im AID.

Der Grad der Winkelfehlsichtigkeit und die optimale Korrekturmöglichkeit sind jedoch nur durch einen Augenarzt (Es gibt durchaus Augenärzte, die dies nicht ausschließen) oder Augenoptiker, der die Mess- und Korrektionsmethodik nach H.-J. Haase (MKH) richtig anwenden kann, feststellbar. Ohne diese Facheinschätzung ist die richtige Prismenbrille nicht möglich.

Die optimale Vorgehensweise ist somit zunächst die Durchführung des aktuellen AID3, durch den man das wichtige Stärken-Schwächen-Profil für das Kind erhält und bereits erste Schlussfolgerungen zur Problemstellung ziehen kann.

Der zweite Schritt, bei Feststellung einer vermuteten Winkelfehlsichtigkeit, wäre dann der Gang zum Augenoptiker oder einem mit diesem Thema vertrauten Augenarzt. Dieser ermittelt dann mit der MKH die anstrengungsärmste Augenstellung.

Die folgenden zwei Beispiele sollen verdeutlichen, wie sich diese Störung z.B. im aktuellen AID3 bemerkbar macht.

Beispiel 1 Max, 6 Jahre, bekommt die erste Aufgabe des Subtests 8 vorgelegt. Er schaut kurz auf die Teile und sagt freudig: „Das wird ein Bär.“ Und innerhalb weniger Sekunden sind die Teile korrekt zusammengefügt.

Nun kommt der Tannenbaum. Max schaut kurz, legt die beiden großen Teile zusammen und experimentiert ein bisschen, bevor er den Stamm an die richtige Stelle legt. Auch das ging sehr rasch, zwei Punkte. Ebenso verfährt er mit dem Schaukelpferd. Volle Punktzahl.

Beispiel 2 Tim, 6 Jahre, bekommt die erste Aufgabe des Subtests 8 vorgelegt. Er schaut sich die Teile an und zögert ein wenig. Er nimmt das Bein in die Hand und versucht es an die Stelle zu legen, an die eigentlich der Kopf kommt. Es gefällt ihm nicht so recht und er legt das Teil beiseite. Er nimmt nun den Kopf und versucht diesen an die Stelle des Beins zu legen. Auch das scheint ihm nicht zu gefallen und er probiert weiter. Mehr durch Zufall legt er den Kopf dann an die richtige Stelle. Nun begibt er sich wieder an die Beine. Er probiert noch ein bisschen, die Zeit ist mittlerweile um. Es gibt aber auch Kinder, die den Bären in den letzten Sekunden doch noch richtig legen können, sodass es zumindest noch einen Punkt dafür geben kann.

Als nächste Aufgabe kommt der Tannenbaum. Tim nimmt den Stamm und schiebt ihn zwischen die beiden großen Teile. Es gefällt ihm nicht. Er versucht nun den Stamm zwischen die Äste zu schieben, auch das funktioniert nicht. Nun schiebt er die beiden großen Teile zusammen. Aber den richtigen Platz für den Stamm findet er nicht. Wieder null Punkte.

Überspringen wir das Schaukelpferd, das gar nicht funktionierte, und wenden uns der Birne zu. Diese ist ruckzuck fertiggestellt, denn sie besteht nur aus zwei Teilen. Nun kommt das Haus an die Reihe (drei Teile). Tim nimmt das große Rechteck in die Hand und weiß nicht so recht wohin damit. Er legt es senkrecht unter das Dach (waagerecht ist richtig). Er überlegt kurz und lässt es dort liegen. Dann nimmt er den Schornstein. Es dauert über die erlaubte Zeit hinaus, bis er die richtige Lücke findet.

Gerade bei Kindern, die in anderen Subtests in der Norm oder weit darüber liegen, die am Ende des Tests eine überdurchschnittliche Begabung oder sogar eine Hochbegabung bescheinigt bekommen, ist es dringend notwendig, niedrige Werte in den Subtests 8 und/ oder 10 zu analysieren. Neben anderen Faktoren, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte, spielt die sog. Winkelfehlsichtigkeit eine große Rolle.

Überdurchschnittlich begabte und hochbegabte Kinder können diese Problematik häufig über einen längeren Zeitraum aufgrund ihrer hohen Intelligenz kompensieren. Doch irgendwann funktioniert das nicht mehr.

Aber nicht nur der Test gibt Hinweise auf diese visuelle Störung. Folgende Probleme treten bei den Kindern auch auf:

  • Schwierigkeiten beim Ausmalen oder Ausschneiden
  • Verrutschen in der Zeile
  • Schlechtes Schriftbild
  • Kein Einhalten von Linien bzw. Schreiben über den Rand
  • Anrempeln, Stolpern
  • Probleme beim Bälle fangen
  • Brennende oder tränende Augen
  • Kopfschmerzen, Lichtempfindlichkeit
  • Feinmotorische Probleme

Die oben erwähnten Rechtschreibfehler, auch in Form von Flüchtigkeitsfehlern, Leseprobleme und fehlerhaftes Rechnen gehören genauso dazu wie Konzentrationsstörungen und fehlende Motivation bis hin zur Schulverweigerung. In vielen Fällen sind sowohl Grob- als auch Feinmotorik stark betroffen. Die Kinder klagen über Migräne, Verspannungen und Schmerzen im Bereich der Nackenwirbel.

Treffen einige der o.g. Punkte zu, sollte man einen mit Winkelfehlsichtigkeit erfahrenen Optiker oder Augenarzt aufsuchen. Haben Kinder nämlich Schulprobleme dieser Art, kann man diese durch eine Prismenbrille gut beheben. Wir haben in unserem Institut damit gute Erfahrungen gemacht. Viele Kinder sehen die Welt dann im wahrsten Sinne des Wortes mit ganz anderen Augen.

Die Kinder wurden deutlich ruhiger, waren in der Lage, besser zu lesen, zu schreiben und zu rechnen. Eine kurze Überprüfung der Wahrnehmung zusammen mit einer Anamnese kann schon auf eine Wahrnehmungsstörung hindeuten. Man kann dann viel gezielter entscheiden, um welche Problemstellung es sich beim entsprechenden Kind handelt, und die notwendigen Maßnahmen einleiten. Die Gabe von Medikamenten ist in den meisten Fällen nicht notwendig.

Beispiel 3, das alle Facetten der Winkelfehlsichtigkeit darstellt: Jan hatte immer schon Probleme im Umgang mit anderen Kindern. Bereits im Kindergarten gab es ständig Ärger. Und dieser setzte sich in der Grundschule fort. Jan schlug auf andere ein, fühlte sich ständig angegriffen und hatte deshalb auch keine Freunde.

In der Schule kam noch eine Legasthenie hinzu, denn Jan hatte enorme Probleme, das Lesen und Schreiben zu erlernen. Und auch die Aggressionen setzten sich fort. Also wurde zunächst neben der Legasthenie noch ADHS diagnostiziert und Jan bekam Methylphenidat. Doch die Aggressionen ließen nicht nach. Also gab es zusätzlich Risperidon und die Diagnose Autismus, einschließlich der weiteren Verordnung hochgradiger Beruhigungsmittel. Jan stand bereits mit einem Bein in der Förderschule, Schwerpunkt Lernen sowie soziale und emotionale Störungen.

Wir wurden mit der Autismustherapie beauftragt und stellten eine extreme Wahrnehmungsstörung fest. Der dann involvierte Optiker bescheinigte eine hochgradige Winkelfehlsichtigkeit und verordnete eine Prismenbrille. Und das „Wunder“ geschah: Jan wurde zunehmend ruhiger, konnte deutlich besser lesen und schreiben und wechselte nach der 4. Klasse auf ein Gymnasium.

Unterstützende Maßnahmen bei einer bestehenden Winkelfehlsichtigkeit können z.B. durch Ergotherapie zur Verbesserung der Fein- und Grobmotorik durchgeführt werden. Aber auch eine Verhaltenstherapie kann unterstützend eine Änderung zum positiven Umgang mit anderen Kindern bewirken, ebenso eine Lerntherapie, die zusätzlich die Konzentrationsleistungen fördert, aber auch an der Verbesserung der schulischen Leistungen arbeitet. Eine individuell auf das betroffene Kind ausgerichtete Psychotherapie kann das Selbstwertgefühl steigern und die Verarbeitung negativer Erlebnisse verbessern. Auch mit homöopathischen Mitteln kann das Kind positiv unterstützt werden.

Alle diese Maßnahmen sind völlig ohne Nebenwirkungen und machen meist noch Spaß.

Übrigens können auch eine Kieferfehlstellung, Probleme mit dem Atlaswirbel u.v.m. Ursachen einer Wahrnehmungsstörung sein. Eine entsprechend richtige Behandlung brachte den betroffenen Kindern nur Vorteile. Deshalb ist es wichtig, genau hinzuschauen und auch die Eltern entsprechend aufzuklären.

Dr. Beate Gerstenberger-RatzeburgDr. Beate Gerstenberger-Ratzeburg
Praxis für Psychotherapie (HPG), Institut zur Fo(e)rderung besonderer Begabungen, Geschäftsführerin conzept3b gGmbH
info@infobeg.de

Foto: © Kadmy / Fotolia.com

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