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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 5/2017

Die Psychotherapie des Reizdarmsyndroms

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© Gina Sanders I fotolia.comDas Reizdarmsyndrom ist eine chronische gastrointestinale Erkrankung, die schätzungsweise 10-20% der Bevölkerung der westlichen Industrienationen betrifft (Endo & Kollegen, 2015). Die globale Prävalenz liegt mit knapp über 11% ebenfalls hoch (Lovell & Ford, 2012). Patienten mit der Diagnose Reizdarmsyndrom berichten über eine starke Einschränkung ihrer Lebensqualität, wobei ihre individuellen Einschätzungen in Fragebogenstudien diejenigen von Betroffenen mit vergleichbaren Erkrankungen, wie etwa Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, sogar übertreffen (Blagden & Kollegen, 2015). Die beschriebenen Auswirkungen auf das Leben der Erkrankten standen lange Zeit in keinem Verhältnis zum oft marginalisierenden Umgang damit durch das persönliche Umfeld, aber auch durch Ärzte und Therapeuten. Entsprechend kann man eine starke Stigmatisierung der Betroffenen feststellen (Taft & Kollegen, 2017). Die Kombination dieser beiden Faktoren führt letztendlich dazu, dass in einigen Untersuchungen bis zu 38% der befragten Reizdarmpatienten zugaben, aufgrund ihrer gesundheitlichen Beschwerden bereits Suizidgedanken gehabt zu haben (Miller & Kollegen, 2004). Doch auch die ökonomischen Auswirkungen der Erkrankung sind nicht zu unterschätzen. So verursacht das Reizdarmsyndrom allein in den USA jährlich Kosten von bis zu 30 Milliarden US-Dollar (Hulisz, 2004).

Trotz der hohen Betroffenenzahl, der enormen Auswirkungen auf die Lebensqualität und das Gesundheitssystem schenkten Wissenschaftler und praktizierende Ärzte dem Reizdarmsyndrom lange Zeit nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit. Es konnten sich durch diesen Umstand zahlreiche Mythen, Halbwahrheiten und Heuristiken etablieren, welche aktuell leider immer noch angewendet werden, obwohl sie nicht mehr am aktuellen Stand der Wissenschaft orientiert sind. In den letzten zehn Jahren kam es tatsächlich zu einem Paradigmenwechsel im Umgang mit der Erkrankung. In diesem Artikel greife ich deshalb übersichtsartig einen Schwerpunkt heraus, namentlich die psychische Komponente der Erkrankung, und beleuchte sie näher.

Was ist das Reizdarmsyndrom?

Um sich einer allgemeingültigen Definition des Reizdarmsyndroms zu nähern, kann man z.B. die aktuellen internationalen Diagnosekriterien heranziehen (ROM-IV, Whitehead & Kollegen, 2017). Diese beschreiben folgende Voraussetzungen für die Diagnose Reizdarmsyndrom: Das Hauptkriterium, Bauchschmerzen an mindestens einem Tag pro Woche über die vergangenen drei Monate, muss erfüllt sein. Weiterhin müssen auch zwei der drei Nebenkriterien, Verbindung der Bauchschmerzen zum Stuhlgang, Änderungen in der Stuhlfrequenz, Änderungen in der Stuhlkonsistenz, zutreffen. Zusätzlich zum Diagnosealgorithmus müssen allerdings alternative Erkrankungen, die potenziell ähnliche Symptome erzeugen könnten, ausgeschlossen werden (chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Zöliakie, Endometriose, Schilddrüsenstörungen usw.), wobei mit Hochdruck an der Validierung von Biomarkern gearbeitet wird, welche die bisher umständliche Diagnose erleichtern könnten (Camilleri & Kollegen, 2017).

Das Reizdarmsyndrom wurde lange Zeit als funktionelle Störung betrachtet, also als ein Krankheitsbild bzw. ein Symptomkomplex, der nicht durch körperliche Befunde erklärt werden konnte. Diese Ansicht ist heute wissenschaftlich weitgehend überholt und auch die ROM-IV-Kriterien vermeiden dieses Label weitestgehend. Zu den inzwischen bekannten Krankheitsmechanismen gehören u.a. die Störung der Hirn-Darm-Achse, eine erhöhte Durchlässigkeit der Darmschleimhaut, Mikroentzündungen, eine erhöhte Aktivität der Mastzellen und ein veränderter Serotoninhaushalt (Spiller & Major, 2016).

Begründet durch diese neuen Erkenntnisse setzt sich zusehends eine „Therapie der neuen Generation“ durch. Diese ist gekennzeichnet durch ihre Ganzheitlichkeit, verbindet Elemente der Ernährungsmedizin (low-FODMAP-Konzept) und Pharmakologie (Medikamente wie Ramosetron) mit Mitteln der Naturheilkunde (z.B. Pfefferminzöl als Karminativum und Serotonin-Rezeptor-Antagonist, medizinischer Weihrauch zur Linderung von Mikroentzündungen) und psychotherapeutischen Verfahren (Schoenfeld, 2016).

Zur weiteren Differenzierung der heterogenen Erkrankung werden je nach vorliegendem Hauptsymptom noch Subtypen unterschieden. Der häufigste Typ ist vom Symptom „Durchfall“ dominiert, gefolgt vom Verstopfungstyp. Weiterhin finden sich ein alternierender Typus, welcher durch einen Wechsel von Durchfall und Verstopfung gekennzeichnet ist, und ein sog. nicht kategorisierter Typus, der meist in Verbindung mit Blähungen und Krämpfen oder nur Krämpfen auftritt. Eine Unterform des Reizdarmsyndroms mit Durchfall ist das postinfektiöse Reizdarmsyndrom, das nach einer akuten Infektion, etwa einer Gastroenteritis, entsteht und durch besondere Spezifika, Entzündungsmarker und Mastzellaktivität, auffällt.

Welche Rolle spielt die Psyche bei einem Reizdarmsyndrom?

Das Reizdarmsyndrom ist eine Erkrankung der Moderne. Beschrieben wurde es wissenschaftlich erstmals 1950 im Rocky Mountain Medical Journal (Brown, 1950). Zu dieser Zeit trafen die Ärzte in den USA immer wieder auf Patienten mit Durchfällen und Bauchkrämpfen, bei denen sich mit den gängigen Methoden aber keine infektiöse oder andere bekannte Ursache finden ließ. Das Fehlen biochemischer oder struktureller Abweichungen wurde kompensiert durch das Vorhandensein psychischer Auffälligkeiten. So zeigten viele der Patienten psychiatrische Symptome, darunter Ängste, depressive Verstimmungen und Vermeidungsverhalten. Ihr Persönlichkeitsprofil wurde als neurotisch beschrieben, die Betroffenen hatten unrealistisch hohe Erwartungen an sich selbst und die Umwelt. Diese Beobachtungen führten dazu, dass für lange Zeit diskutiert wurde, ob das Reizdarmsyndrom in Wahrheit eher eine eigenständige oder zumindest Folge einer psychiatrischen Erkrankung sei.

Schon Creed/Guthrie (1987) beschreiben das Dilemma der mangelnden Differenzierung. Die Symptome eines Reizdarmsyndroms können tatsächlich Folge einer psychischen Störung sein (z.B. erzeugen Angststörungen oder somatoforme Störungen gastrointestinale Symptome). Reizdarmsyndrom und psychiatrische Auffälligkeiten können aber auch unabhängig nebeneinander bestehen. Und schließlich treten Angsterleben und depressive Verstimmungen als Folge der verminderten Lebensqualität auf, verschlechtern nachweislich die Prognose, beeinflussen das Krankheits- und Bewältigungsverhalten negativ.

Als Ausdruck des gleichen Problems finden wir das Reizdarmsyndrom auch heute noch sowohl als eigenständige Kategorie in der ICD-10 (K58 Reizdarmsyndrom, Oberkategorie Erkrankungen des Darmes) wie auch als Unterkategorie der somatoformen autonomen Funktionsstörung (F45.3), wobei sich dabei auf Diarrhoe oder Colon irritabile psychogener Genese bezogen wird.

Doch wie unterscheidet ein praktizierender Arzt ein körperliches Reizdarmsyndrom von einer psychogenen Form, wenn die meisten Biomarker noch nicht validiert und Tests bzgl. der Mastzellaktivität etc. kostspielig und kaum verfügbar sind?

Aufgrund der Marginalisierung ihrer Erkrankung und des Abschiebens auf die „Psychoschiene“ haben die meisten Betroffenen eine Abwehrhaltung gegenüber psychotherapeutischen Ansätzen zur Behandlung des Reizdarmsyndroms entwickelt. Sie empfinden die Empfehlung psychologischer Maßnahmen als ein „nicht-ernst-genommen-werden“ oder aber als Ausdruck der Ratlosigkeit der behandelnden Ärzte. Doch das Reizdarmsyndrom ist auch nach aktuellsten Erkenntnissen eine biopsychosoziale Erkrankung mit starker Evidenz für einen erheblichen Einfluss psychischer Faktoren. Eine Beteiligung der Psyche und die hohe Effektivität psychotherapeutischer Maßnahmen bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass keine körperlichen Veränderungen vorhanden sind.

Eine psychiatrische Komorbidität (v.a. Angststörungen, depressive Verstimmung und somatoforme Störungen) findet sich bei bis zu 94% der Reizdarmpatienten (Whitehead & Kollegen, 2002). Einen besonderen Stellenwert ist auch verschiedenen Variablen der Persönlichkeitspsychologie einzuräumen (Muscatello & Kollegen, 2016). So finden sich beim Reizdarmsyndrom erhöhte Werte für Neurotizismus (emotionale Labilität) und verminderte Werte für Extraversion (nach außen gewandte Haltung). Passend zum letzten Befund erhält das Konzept der Alexithymie in der Reizdarmforschung immer mehr Aufmerksamkeit. Es beschreibt die Unfähigkeit der Betroffenen, Gefühle adäquat wahrzunehmen und zu beschreiben. Die Alexithymie konnte in bis zu 66% der Reizdarmbetroffenen diagnostiziert werden. Schließlich wird noch die Variable der Type-D-Personality, die durch die Tendenz zu negativer Affektivität (Ausdruck sind oft Sorgen, Grübeln, Gereiztheit) und soziale Hemmung (mangelndes Selbstvertrauen, übertriebene Zurückhaltung) umschrieben wird. Persönlichkeitseigenschaften und emotionale Muster spielen eine bedeutende Rolle bei der Steuerung entzündlicher, immunologischer, autonomer und endokrinologischer Prozesse. Das Arbeiten an diesen Konzepten innerhalb der Therapie nimmt also nicht nur Einfluss auf die psychischen Faktoren selbst, sondern auch auf konkrete körperliche Krankheitsmechanismen des Reizdarmsyndroms.

Schon sehr früh fanden sich Berichte über eine erhöhte Anzahl sexueller, körperlicher und emotionaler Missbrauchsfälle unter Reizdarmpatienten (Kanun & Kollegen, 2016). Neben der Möglichkeit der Somatisierung ist den Wissenschaftlern heute noch ein weiterer Mechanismus geläufig, denn frühkindliches extremes Stresserleben verändert nachhaltig das Mikrobiom (die Darmflora). So zeigen Mäuse, die frühzeitig von der Mutter getrennt werden (Trauma), ein verändertes Verhalten, eine deutliche Immunreaktion und eine Hypersensitivität, d.h. eine verringerte Toleranzgrenze gegenüber Schmerz- und Dehnreizen im Darmsystem (O‘Mahoney & Kollegen, 2008).

Ein weiteres zentrales Ergebnis dieser Tierstudie war, dass sich die bakterielle Zusammensetzung des Mikrobioms nachhaltig und signifikant veränderte. Das Mikrobiom ist aber der Hauptvermittler auf der Hirn-Darm-Achse und steuert die bidirektionale Kommunikation zwischen zentralem und enterischem Nervensystem (Carabotti & Kollegen, 2015). Die frühkindlichen Traumatisierungen haben also nicht nur psychologische Effekte, sondern sie sorgen auch über die Veränderung des Mikrobioms für eine Störung der Hirn-Darm-Achse, die u.a. die Motilität und die Schmerzwahrnehmung reguliert. Das wissenschaftliche Fundament um diese gestörte Achse ist so stark, dass der Krankheitsmechanismus als erster überhaupt in die ROM-Kriterien Aufnahme fand.

Um zu verdeutlichen, wie zentral dieser ist, sei noch eine letzte wissenschaftliche Untersuchung angeführt. De Palma & Kollegen (2014) verpflanzten bei Ratten eine Stuhlprobe von Reizdarmpatienten. Dabei blieben die Spezifika der Darmflora erhalten. Die Ratten zeigten daraufhin eine beschleunigte Transitzeit, mehr Darmkontraktionen bei Dehnungsreizen und auch psychiatrische Verhaltensauffälligkeiten. Die Reizdarmbetroffenen hatten den Ratten nicht nur ihre Darmsymptome übertragen, sondern auch ihre psychiatrische Komorbidität. Wurde hingegen eine Stuhlprobe von gesunden Menschen verpflanzt, hatte dies keinen nennenswerten Einfluss.

Die Auswirkungen von Traumata und Stress sind allerdings weder auf die Kindheit beschränkt noch unidirektional zu sehen. Der Zusammenhang muss als Kreislauf verstanden werden. Chronisches Stresserleben oder starke Emotionen können die Zusammensetzung des Mikrobioms negativ beeinflussen. Ein weniger biodiverses (artenarmes) Mikrobiom führt zu stärkerem Stresserleben und -verhalten und damit zu einer weiteren Veränderung des Mikrobioms (Moloney & Kollegen, 2014).

Welche Psychotherapie hilft bei einem Reizdarmsyndrom?

Betrachtet man die Datenlage hinsichtlich der Effektivität einzelner Psychotherapiemethoden, so kann man spezifisch für das Reizdarmsyndrom drei Kategorien festlegen. Dazu gehören Kognitive Verhaltenstherapie, Hypnotherapie und Entspannungsverfahren, Körperorientierte Psychotherapie (bzw. mind-body-approaches). Im Folgenden widme ich mich übersichtsartig diesen Ansätzen und ihrer wissenschaftlichen Datenlage beim Reizdarmsyndrom.

Die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) gehört mit einer number-needed-to-treat (NNT) von 3 zu den effektivsten Therapiemethoden zur Linderung des Reizdarmsyndroms überhaupt. Sie liegt damit vor der pharmakologischen Standardtherapie (Antispasmodikum Mebeverin, NNT 6; Antidiarrhoikum Loperamid, NNT 5). Die Ansprechrate für die KVT liegt bei einem mittelschweren bis schweren Reizdarmsyndrom bei ca. 70% (Drossman & Kollegen, 2003). Dabei werden nicht nur die gesundheitsbezogene Lebensqualität verbessert und günstigere Bewältigungsmuster erlernt, sondern es lassen sich auch signifikante Auswirkungen auf die Darmsymptomatik messen (Tang & Kollegen, 2013).

Da das Reizdarmsyndrom für die meisten psychotherapeutisch tätigen Kollegen wohl eher zu den selteneren Störungen in der täglichen Praxis gehört, gab es lange Zeit keine einheitlichen Behandlungsrichtlinien. Um den Patienten aber dennoch eine möglichst effektive und ressourcenökonomische Therapie anbieten zu können, empfiehlt sich das Vorgehen nach einem klinischen Manual. Gerade in der KVT hat sich das durchgesetzt, und so finden sich auch für das Reizdarmsyndrom verschiedene, klinisch an großen Patientenstichproben erprobte „Fahrpläne“, die über die vergangenen Jahre immer wieder verbessert und um Details ergänzt worden sind. Der Manualisierung kritisch gegenüberstehenden Kollegen möchte ich entgegnen, dass diese keinesfalls zulasten der Individualität geht. Natürlich kann und soll auch eine spezifische Problematik der Klienten bearbeitet werden. Ein klinisches Manual dient der Orientierung und beinhaltet die zentralen Schritte und Themen, die sich eben für eine Vielzahl von Patienten als hilfreich erwiesen haben. Für Reizdarmpatienten erreicht man Transparenz und Effektivität, während wir Therapeuten von der gesteigerten Glaubwürdigkeit profitieren.

Ich nutze in meiner Praxis für Psychotherapie mit guten Erfolgen das klinische Manual von Professor Dr. Brenda Toner & Kollegen (1999). In „Cognitive Behavioral Treatment of Irritable Bowel Syndrome: The Brain-Gut Connection“ stellen die Wissenschaftler neben den Kernkonzepten der KVT und des Reizdarmsyndroms v.a. die Rolle von Geschlecht und Stigmatisierung in den Vordergrund. Schließlich führt das Manual schrittweise durch Einzel- oder Gruppensitzungen. Zu den bearbeiteten Themen gehören u.a. „Der Zusammenhang zwischen Gedanken, Emotionen, Verhalten und Darmsymptomen“ (hot thoughts, problem thinking patterns), „Schmerzmanagement“ (Entspannungstraining, Achtsamkeit), „Scham“ oder „Wunsch nach sozialer Anerkennung und Perfektionismus“.

Die Vorteile der Kognitiven Verhaltenstherapie zur Behandlung des Reizdarmsyndroms liegen in der Methode selbst begründet. Durch die Manualisierung wird einerseits ein recht hohes und therapeutenübergreifendes Maß an Effektivität garantiert, während durch die methodenübliche Fokussierung auf die Gegenwart mit kognitiver Umstrukturierung und verschiedenen Expositionsstrategien recht schnell Erfolge für den Patienten sichtbar werden können. Im Rahmen einer Selbstzahlerpraxis ist es natürlich ein entscheidender Vorteil, wenn eine Behandlungsserie mit 10-12 Sitzungen veranschlagt wird und die Klienten bereits nach den ersten Sitzungen deutliche Veränderungen bemerken.

Großer Aufmerksamkeit in der Reizdarmtherapie erfreut sich auch die Hypnotherapie, die sich in Metaanalysen als wirksam erwiesen hat (Laird & Kollegen, 2017). Skeptischen Patienten und Interessenten kann entgegengehalten werden, dass die medizinische Hypnose beim Reizdarmsyndrom seit nunmehr über 30 Jahren wissenschaftlich erforscht wird. Dabei haben sich mehr als 35 klinische Studien angesammelt, immerhin 17 davon randomisierte und kontrollierte Untersuchungen, die konsistent zeigen, dass die Hypnotherapie starke und langfristige Effekte bei der Linderung der Darmbeschwerden erzielt. Die genauen Mechanismen hinter diesen Erfolgen sind noch weitgehend unbekannt, aber die bereits gewonnenen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass dabei v.a. die Fähigkeit des Gehirns, sensorische Reize des Darmsystems wahrzunehmen, eine zentrale Rolle spielt. Neben letzterer scheinen auch die Auswirkungen auf die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (manchmal auch „Stressachse“) sehr bedeutsam, die beim Reizdarmsyndrom nachhaltig gestört ist und u.a. zu einer vermehrten und nachhaltigeren Cortisolausschüttung unter Stressbedingungen führt (Kennedy & Kollegen, 2014).

Über die Regulierung der Stressreaktion wirken vermutlich auch die verschiedenen Entspannungsverfahren (v.a. Autogenes Training), welche sich ebenfalls beim Reizdarmsyndrom bewährt haben (Shinozaki & Kollegen, 2010). Während bei den meisten Entspannungsverfahren ohnehin eine gewisse Systematik vorgegeben ist, bemüht sich auch die Hypnotherapie in den letzten Jahren verstärkt darum. Vielen Kollegen ist deshalb inzwischen die „gut-directed hypnotherapy“ bzw. die „Bauchhypnose“ ein Begriff. Das Kernkonzept dieser Methode entstand ab 1980 am Universitätsklinikum Manchester und wird deshalb oft als „Manchester-Approach“ bezeichnet. Dieser beschreibt insgesamt 12 hypnotherapeutische Sitzungen über drei Monate und nutzt dabei Elemente wie z.B. Handwärmeübertragung auf den Bauch bzw. Darm und vielfältige Imaginationen. Miller & Kollegen (2015) publizierten eine Fallsammlung zum „Manchester Approach“, in der sie die Ergebnisse an 1000 Reizdarmpatienten zusammenfassten. Mehr als drei von vier Teilnehmern erreichten das Studienziel: eine Verringerung des allgemeinen RDS-Symptomscores um mindestens 50 Punkte. Die überwiegende Mehrheit berichtete von einer Reduktion der Schmerzintensität um mindestens 30%. Die Schmerztage pro Monat halbierten sich von 18 auf 9.

Als letztes möchte ich mich noch den körperorientierten psychotherapeutischen Verfahren zuwenden. Diese muss als Oberkategorie für eine Vielzahl teils sehr unterschiedlicher Methoden verstanden werden. Aufgrund dieser Heterogenität und mangels Standardisierung verfügt sie natürlich über eine quantitativ weitaus bescheidenere Datenlage als z.B. die KVT (Röhricht, 2010). Dennoch finden sich neben hypothetischen Annahmen auch einige kleinere klinische Studien, die belegen, dass körperorientierte Methoden beim Reizdarmsyndrom positive Effekte erzielen können. Gerade den nicht-wahrgenommenen bzw. nicht-ausdrückbaren Emotionen kann durch psychotherapeutische Körperarbeit adäquat Raum geboten werden. Oft sind dies Prozesse, die sich dem Erleben der Patienten bewusst oder unbewusst entziehen. Betroffene eines Reizdarmsyndroms neigen dazu, sehr hohe Standards an sich selbst und an ihre unmittelbare Umwelt anzulegen (Toner & Kollegen, 1999). Treffen diese nun auf Kognitionen, Gefühle oder Verhaltensweisen, die sich nicht in das erwünschte Muster integrieren lassen, kann es zu starken inneren Konflikten und Somatisierungsprozessen kommen.

Weiterhin finden sich bei Patienten mit somatoformen Störungen oft ein erhöhter Muskeltonus („Körperpanzer“) und eine gestörte Körperwahrnehmung bzw. ein unrealistisches Körperbild. Letztere Variablen sind eng mit der Schwere von Angsterleben verknüpft (Röhricht & Priebe, 1996). Positive klinische Studien zur körperorientierten Psychotherapie beim Reizdarmsyndrom liegen für die Funktionelle Entspannung nach Marianne Fuchs (Lahmann & Kollegen, 2010) und achtsamkeits- bzw. das Körperbewusstsein schulende Methoden (Eriksson & Kollegen, 2007) vor.

Zum Abschluss möchte ich betonen, dass die meisten erfolgreichen Kollegen diese Verfahren nicht isoliert einsetzen, sondern einen eklektischen Ansatz verfolgen, sprich: Wirkungsvolle Elemente der einzelnen Methoden und Schulen gezielt an unterschiedlichen Punkten in der Therapieserie einsetzen, um größtmögliche Erfolge zu garantieren. Aufgrund der inzwischen sehr guten Datenlage und der schnell erreichbaren Fortschritte für unsere Patienten sollte meiner Einschätzung nach die Kognitive Verhaltenstherapie das Fundament der psychotherapeutischen Arbeit mit den Reizdarmpatienten bilden.

In der Praxis scheint dies, entgegen dem Trend in der Wissenschaft, generell der Fall zu sein. Denn obwohl die KVT aufgrund der Ökonomisierung des Gesundheitssystems und des Fakts, dass sie sich aufgrund des hohen Ma- ßes an Standardisierung eben gut untersuchen lässt, in der Psychotherapieforschung fast unumgänglich geworden ist, integrieren immer mehr Verhaltenstherapeuten körperorientierte Verfahren wie Funktionelle Entspannung, Achtsamkeitstraining, Grounding etc. in ihre Sitzungen. Diese Ganzheitlichkeit in der Methodenwahl ist auch bei der Behandlung des Reizdarmsyndroms zielführend.

Zu diesen Verfahren gesellen sich natürlich noch Behandlungsansätze für die eventuell zugrundeliegenden oder begleitenden psychiatrischen Erkrankungen. Wie bereits geschildert, kann es sich in seltenen Fällen auch um eine Angsterkrankung mit hohem Ausmaß an Somatisierung handeln, statt um ein klassisches Reizdarmsyndrom.

Eine der wichtigsten Aufgaben der behandelnden Therapeuten ist die Vermittlung von Verständnis und Annahme. Der Umgang mit dem Reizdarmsyndrom war sehr viele Jahre durch Marginalisierung und Stigmatisierung geprägt. Entsprechend „therapiescheu“ sind die Patienten. Aus diesem Grund ist es unerlässlich, dass die Therapeuten ihnen verdeutlichen, dass ein Reizdarmsyndrom nicht „im Kopf“ entsteht, sondern es inzwischen eine ganze Reihe evidenter körperlicher Variablen gibt, die die Symptome verursachen.

Die Störung der Hirn-Darm-Achse ist dabei nur ein Element von vielen, jedoch kann die Arbeit mit diesem Konzept sehr große Erfolge garantieren. Schließlich muss den Betroffenen verständlich gemacht werden, dass die Effekte einer Psychotherapie im Umkehrschluss nicht bedeuten, dass ihre Krankheit psychischer Genese ist.

Thomas StruppeThomas Struppe
Psychologe und Heilpraktiker für Psychotherapie

th.struppe@t-online.de

Foto: © Gina Sanders / fotolia.com

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