Übersicht dieser Ausgabe    Alle Paracelsus Magazine

aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 6/2017

Problemverhalten des Pferdes und Lösungsansätze aus der Verhaltenstherapie

Cover

© makieni I fotolia.comDer Pferdebesitzer fragt sich häufig, warum sein Pferd ein Verhalten zeigt, das vom Normalen abweicht („Verhaltensstörung“) oder eines, das der Mensch sich nicht wünscht („erlerntes unerwünschtes Verhalten“).

Erlerntes unerwünschtes Verhalten

kann z.B. das Scharren am Anbinder, Distanzlosigkeit gegenüber dem Menschen oder Abwehrverhalten wie Steigen, Bocken oder Durchgehen sein.

Verhaltensstörungen

aber manifestieren sich häufig aus unbefriedigten Grundbedürfnissen des Pferdes nach Bewegung, Sozialkontakt und ständiger Raufutteraufnahme bzw. in der Erwartungshaltung, an diese Ressourcen zu gelangen. Diese Störungen im Verhalten können weiter bis hin zu Stereotypien führen, die schwer bis gar nicht therapierbar sind. Hier liegen meist unzureichende Haltungsbedingungen zugrunde, die unbedingt der Verbesserung bedürfen.

Im Gegensatz zu den Verhaltensstörungen ist das unerwünschte erlernte Verhalten meist gut verhaltenstherapeutisch zu behandeln. Wichtig hierfür ist zu verstehen, warum das Pferd diese Verhaltensweisen zeigt, und sich bewusst zu machen, welche Lernform dahintersteckt.

Lernen

bedeutet, das Verhalten an sich ändernde Umweltbedingungen anzupassen. Pferde und Menschen sowie alle höheren Organismen lernen ihr Leben lang. Dies ist eine lebenswichtige Funktion, um mit Reizen aus der Umwelt umzugehen, z.B. eine sich verändernde Umgebung, wechselnde soziale Reize, eine Veränderung des Futterangebots oder das Auftauchen neuer Gefahren. Signale aus der Umwelt werden über die Sinneseingänge wahrgenommen, verarbeitet und entsprechend wird reagiert. Entweder ist dem Tier die Situation mit ihren Reizen bekannt und wird erinnert, oder es findet eine neue Verknüpfung statt, die den jeweiligen Reiz oder die Situation mit einer Bedeutung besetzt. Lernen kann auf verschiedenen „Ebenen“ ablaufen: Es kann unterbewusst stattfinden, wie bei Lernformen der Gewöhnung und der Sensibilisierung, oder das Bewusstsein wird mit eingeschaltet, wie bei der Konditionierung.

Gewöhnung (Habituation)

ist eine Art Filterfunktion des Gehirns. Diese Lernform gehört zum nicht-assoziativen Lernen. Hier lernt der Organismus die Bedeutung eines einzelnen Reizes. Bei der Gewöhnung wird ein wiederkehrender Reiz als nicht relevant eingestuft und die Reaktion daraufhin wird schwächer, bis sie gänzlich verblasst. Beispiel ist die „Triebigkeit“ des Pferdes (Nichtreaktion des Pferdes auf das treibende Reiterbein). Der wiederkehrende Reiz ist in diesem Fall der Schenkel des Reiters, und die Reaktion, die geringer wird, das Vorwärtsgehen des Pferdes.

Im positiven Sinne kann man die Gewöhnung nutzen, um das Pferd an Schreckreize wie Geräusche und Berührungen zu gewöhnen. Hierbei ist es wichtig, den Reiz monoton nach und nach zu steigern und das Nichtreagieren des Pferdes zu stabilisieren. Ein häufiger Fehler ist, den Reiz zu entfernen, wenn das Pferd sich von diesem mit einer Fluchtreaktion oder Ausweichen entzieht. Dieser Reiz würde in diesem Fall dann unerwünscht sensibilisiert werden, da die Flucht zur Lösung des Problems wird. Um das Pferd auf einen neuen oder schon negativ besetzten Reiz (wie z.B. eine Plastiktüte) nicht reagieren oder, noch besser, mit Entspannung reagieren zu lassen, kommt es auf die Körperspannung und -haltung des Menschen an. In diesem Fall sollte der eigene Körper entspannt und die Haltung passiv sein. Die gesenkte Kopfhaltung des Pferdes fördert dabei die Entspannung und sollte im Vorfeld konditioniert worden sein (durch das Nachgeben auf einen leichten Genickdruck oder mittels eines Targettrainings).

Sensibilisierung

findet auf gleicher Lernebene statt, sie ist eine weitere Form des nichtassoziativen Lernens. Die Sensibilisierung ist das Gegenteil der Gewöhnung. Auf einen bestimmten Reiz wird die Reaktion immer stärker bzw. es genügt immer weniger Reizintensität, um die gleiche Reaktion hervorzurufen. Dies wünscht man sich bei der Bodenarbeit oder beim Reiten, wenn das Signal des Menschen immer „feiner“ beantwortet wird. Im negativen Sinne kann dieses Verhalten auftreten, wenn das Pferd übersensibel auf bestimmte Reize reagiert, z.B. in Situationen, in denen der gesamte Organismus auf einer erhöhten Erregungsebene ist, wie im Gelände oder auf einem Turnier. Hier reicht oft schon der kleinste Reiz, um eine Fluchtreaktion auszulösen.

Konditionierung

Dabei kommt es zur Verknüpfungen von Reizen untereinander oder von Reizen mit Reaktionen – man spricht vom „assoziativen Lernen“. Werden einzelne Reize miteinander verknüpft, spricht man von „klassischer Konditionierung“. Werden Reize mit ganzen Verhaltensmustern oder Handlungsabläufen verbunden, die das Individuum durch Versuch und Irrtum erlernt hat, spricht man von „operanter (oder instrumenteller) Konditionierung“.

Klassische Konditionierung

Hier lernt das Tier die Bedeutung eines neuen Reizes. Der Mensch will dem Pferd z.B. die Bedeutung eines Stimmkommandos wie „Schritt“ beibringen. Hierfür sollte er die gewünschte Reaktion des Pferdes – in diesem Fall das Antreten in den Schritt – durch einen natürlichen Reiz wie das Antippen mit der Gerte an der Hinterhand auslösen. Wird der zu erlernende Reiz (Stimmkommando) oft genug mit dem natürlichen Reiz (Antippen der Gerte) gepaart, reicht irgendwann das Stimmkommando aus, um die Reaktion des Schritt-Gehens auszulösen.

Die klassische Konditionierung findet aber auch in unerwünschten Fällen statt. Denn nicht nur eine äußerlich sichtbare Verhaltensweise kann auf einen Reiz hin konditioniert werden, sondern auch eine Erwartungshaltung – eine positive wie auch eine negative. Verbindet das Pferd z.B. das Motorengeräusch des Tierarztautos mit der daraufhin negativ besetzten Situation der Behandlung, wird es künftig in diese negative Erwartungshaltung versetzt, sobald es das Geräusch des Autos wahrnimmt. Das Geklapper des Futterwagens wiederum kann das Pferd in eine solch erregende Futtererwartung versetzen, dass es orale Verhaltensstörungen ausbildet, wie das Stangen- oder das Krippenwetzen.

Operante Konditionierung

Diese nutzen wir bei vielen Tätigkeiten mit dem Pferd. Durch eine zunächst zufällig gezeigte Reaktion auf einen bestimmten Reiz erfährt das Pferd eine positive oder negative Konsequenz. Wenn auf den Schenkelreiz des Reiters das Pferd eine Seitwärtsreaktion zeigt und sofort mit Drucknachlass des Beines belohnt wird, wird es diese Lösung des „Problems“ wieder anwenden. Das Verhalten wird zum Instrument, um eine belohnende Wirkung zu erzielen. Die häufige Verknüpfung mit dem Reiz und der Reaktion, die zur Belohnung führt, stabilisiert das Lernverhalten.

Dabei ist für die Effektivität des Lernens entscheidend, dass eine verhaltensverstärkende Wirkung erzielt wird. Dies kann durch Hinzugabe eines positiven Reizes einen belohnenden Effekt haben (positive Verstärkung) oder durch das Wegnehmen eines aversiven (unangenehmen) Reizes (negative Verstärkung). Dabei ist es wichtig, die Begrifflichkeiten richtig anzuwenden. Eine Verstärkung erzielt immer einen belohnenden Effekt und fördert das Lernverhalten. „Positiv“ bedeutet in diesem Fall lediglich das Addieren eines Reizes (wie Futtergabe) und „negativ“ das Subtrahieren eines Reizes (wie Drucknachlass). Häufig wird die negative Verstärkung landläufig mit der Bestrafung verwechselt.

Die Bestrafung versucht ein Verhalten nicht häufiger auftreten zu lassen, wie die Verstärkung, sondern ein unerwünschtes Verhalten „auszulöschen“, dadurch dass dieses mit einer unangenehmen Folge verknüpft wird. Dies ist meist inneffektiv und führt zu keinem guten Lernergebnis. Bei der Bestrafung unterscheidet man ebenfalls zwischen „positiver“ und „negativer“ Bestrafung. Bei der positiven Bestrafung wird ein Reiz hinzugesetzt, in diesem Fall ein aversiver, wie ein Schmerzreiz; bei der negativen Bestrafung wird ein angenehmer Reiz entfernt, z.B. Futter oder Aufmerksamkeit.

Die operante Konditionierung ist ein häufiger Grund für erlerntes unerwünschtes Verhalten, das vom Pferd bewusst gezeigt wird, da es dieses als Problemlösung erlernt hat. Hinter Abwehrverhalten beim Reiten oder vom Boden aus bis hin zur Aggressivität dem Menschen gegenüber steckt als Ursache häufig diese Lernform. Eine Verhaltensweise wurde hierbei unbewusst vom Menschen verstärkt. Nehmen wir erneut das Beispiel des scharrenden Pferdes am Putzplatz. Der Mensch verstärkt unbewusst diese unerwünschte Verhaltensweise mit Aufmerksamkeit, indem er das Pferd wieder und wieder ermahnt oder sogar das Futter während des Scharrens zurechtmacht, bis es dem Pferd schließlich als „Ergebnis“ des Scharrens gegeben wird.

Es können aber auch die äußeren Umstände dazu führen, dass das Verhalten des Pferdes einen belohnenden Effekt auf dieses hat. Bockt das Pferd und der Reiter fällt dabei herunter, lässt der Druck im Rücken oder vielleicht der Schmerz durch einen unpassenden Sattel nach. Beim Steigen lässt der Druck des Zügels nach und bei der Aggression gegenüber dem Menschen weicht der Mensch aus. So wird das „Problemverhalten“ mit einem angenehmen Effekt für das Pferd verknüpft und exakt dieses Verhalten als Lösungsweg gespeichert.

Therapieansätze

Wie beschrieben, muss im Vorfeld ergründet werden, auf welche Lernform das erlernte unerwünschte Verhalten zurückzuführen ist. Bei Lernformen, bei denen das Bewusstsein des Tieres nicht mit involviert ist, muss der gegebene Reiz mit einer neuen Bedeutung oder überhaupt wieder mit einer Bedeutung behaftet werden. Bei der Triebigkeit z.B. muss der Reiz mit seiner Intensität die Reizschwelle überschreiten (Abb. 4), um den Reiz wieder mit einer Reaktion zu verbinden.

Bei der Überreaktion oder Fluchtreaktion auf Gegenstände oder Handlungen des Menschen muss die gegenteilige Strategie angewendet werden: das Wiederkehren des Reizes mit einer Reizsteigerung, die nach und nach erfolgt, ohne die Reizschwelle zu überschreiten (Abb. 5).

Bei unerwünschtem Verhalten, welches auf operanter Konditionierung beruht, stellt die Gegenkonditionierung ein adäquates Mittel im Verhaltenstraining dar. Für den Trainer oder Verhaltenstherapeuten ist es wichtig, nicht das unerwünschte Verhalten mit einem Strafreiz positiv zu bestrafen, sondern das gewünschte Verhalten auszulösen und dieses sofort zu belohnen.

Nehmen wir noch einmal das Beispiel des scharrenden Pferdes am Anbindeplatz: Hier wäre es nicht effektiv, dem Pferd während des Scharrens einen Strafreiz zu setzen, sondern es dazu zu bringen, mit dem Scharren kurzfristig aufzuhören. Häufig hilft ein kurzes Störgeräusch, z.B. ein Zischen. Ist das Pferd irritiert und hört kurz mit der unerwünschten Verhaltensweise auf, erhält es eine positive Verstärkung in Form von Aufmerksamkeit oder eines Lobwortes. Da das Scharren häufig durch eine Futtererwartung ausgelöst wird, empfehle ich, hier nicht mit einer Futterbelohnung zu arbeiten.

Bei Distanzlosigkeit, die bis hin zu aggressivem Verhalten gegenüber dem Menschen führen kann, sollten respektfördernde Übungen vom Boden erarbeitet werden. Ein Pferd, das den Raum um den Menschen herum nicht akzeptiert, läuft in hektischen Situationen Gefahr, den Menschen wegzudrängen, zu stoßen oder umzurennen. Dies kann zu schweren Verletzungen führen.

Hier sind weichende Übungen sinnvoll, die immer wieder den Individualbereich des Menschen festsetzen. Das Pferd sollte nie beim Führen überholen und sich willig auf Blick und Körperausrichtung rückwärts schicken lassen. Weitere Übungen, wie die Hinterhand und die Vorhand weichen zu lassen, schulen das Pferd und den Menschen, die Kommunikation durch eindeutige Signale zu verbessern.

Hat ein Pferd bereits gelernt, den Menschen durch Aggressivität einzuschüchtern oder diesen von sich wegzubewegen, sollte unbedingt ein professioneller Trainer oder Verhaltenstherapeut mit diesem Tier arbeiten. Dieses Verhalten hat häufig nichts mit Dominanz zu tun. Das Pferd hat lediglich gelernt, dass der Druck des Menschen endet, wenn es droht oder sogar zum Angriff ansetzt. Im Gegenteil: Dahinter kann sogar ein eher skeptisches oder ängstliches Pferd stehen, das gelernt hat, mit der furchteinflößenden Begegnung des Menschen auf diese Weise umzugehen.

Hat das Pferd auf der anderen Seite Ängste gegenüber dem Menschen oder vor bestimmten Handlungen und Gestiken entwickelt, sind vertrauensfördernde Übungen sinnvoll. Diese bestehen aus Gewöhnungsübungen, denn je mehr kritische Situationen ein Pferd mit Hilfe des Menschen meistert, umso mehr Vertrauen wird es ihm nach und nach schenken. Zum anderen sollte das Pferd dem Menschen in vielen Situationen folgen dürfen, über Gegenstände wie Planen, Teppiche, Stangen oder Stämme im Gelände.

Hier wird das natürliche Nachfolgen eines vertrauenswürdigen und leitenden „Artgenossen“ bestärkt und das Pferd gewinnt immer mehr Vertrauen in die Handlungen des Menschen.

Dr. Vivian GaborDr. Vivian Gabor
Biologin, promovierte Pferdewissenschaftlerin, Spezialgebiet Lernverhalten des Pferdes und die Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis
info@ivk-menschundpferd.com

Quelle aller Abbildungen

  • Vivian Gabor: Mensch und Pferd auf Augenhöhe – Pferdegerecht kommunizieren. Müller Rüschlikon Verlag
zurück zur Übersicht dieser Ausgabe
Paracelsus SchulenWir beraten Sie gerne
Hier geht's zur Paracelsus Schule Ihrer Wahl.
Menü