ABC der Naturheilkunde
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Die Harnschau
Bei Galen (2. Jhr.n.Chr.) spielte die Harnschau als diagnostische Methode zur Abklärung von Krankheiten eine grosse Rolle. Nach seiner Auffassung, der Säftelehre entsprechend, wurde das Blut durch “Kochung” des Speisebreis in der Leber gebildet und es diente der Ernährung des Körpers. Der Harn dagegen, entstünde aus der überflüssigen Feuchtigkeit und den zur Nahrungsbildung ungeeigneten Stoffen. Galen war der Meinung, dass die Leber der Entstehungsort des Harns (vehiculum nutrimenti) sei und die Nieren, aufgrund einer ihnen innewohnenden “anziehenden Kraft” nur der Ausscheidung dienten. Deshalb wurden sichtbare Veränderungen des Urins auf eine Vielzahl von Krankheiten, selten jedoch auf eine Nierenkrankheit, bezogen.
Galens Einfluss auf das medizinische Denken reichte bis weit in das 16. Jahrhundert hinein. Auch die Uroskopie (Harnschau) des Mittelalters ging davon aus, dass Krankheit auf einer fehlerhaften Mischung der Körpersäfte beruhe. Dieser krankhafte Zustand würde sich dann im Harn zeigen, wobei z.B. dicker roter Urin die Folge und das Anzeichen von grosser Blutfülle sei. Die Harnschau wurde zur unfehlbaren diagnostischen Methode aller Krankheiten erhoben. Das ging so weit, dass sie als die wichtigste Tätigkeit des mittelalterlichen Arztes galt. Das kolbenförmige Harnglas, die Matula, wurde zum Standessymbol der Ärzteschaft.
Es wurden 20 Harnfarben unterschieden. Diese Farben reichten von kristallklar über kamelhaarweiss, brombeerrot, fahlgrün bis schwarz. Auch die Konsistenz des Harns hatte ihre Bedeutung. Sie wurde als dünn, mittelmässig oder dickflüssig beschrieben. Eine weitere Bedeutung bei der Harnschau hatten zahlreiche im Urin sichtbare Teilchen – die Contenta – z.B. Bläschen und Fetttröpfchen, sowie sandartige, blattartige, kleieartige oder linsenartige Niederschläge in den verschiedensten Farben.
Die Bedeutung der Harnschau entwickelte sich während des Mittelalters als diagnostisches Mittel soweit, dass angenommen wurde, dass alles was den menschlichen Körper betrifft, im Harnglas wie in einem Spiegel zu sehen sei. Der Gipfel dieser Ansicht war der daraus resultierende Aberglaube und Missbrauch. Es entstand sogar die Uromantie (Harnwahrsagerei).
Neue Erkenntnisse über Anatomie und Physiologie des menschlichen Körpers führten dann in den folgenden Jahrhunderten zu einer Umbewertung der Rolle der Nieren bei der Harnausscheidung. Exaktere Methoden zur Harnanalyse wurden jedoch erst am Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt. Der englische Chemiker William Cruikshank (1745-1800) beschrieb als erster den Nachweis von Veränderungen des Harns durch Quecksilberchlorid bei Rheumatismus und die Albuminurie als Zeichen einer Lebererkrankung. Zum ersten mal wurde die chemische Harnanalyse bewusst zum Nutzen der klinischen Medizin eingesetzt. Im Jahr 1761 erklärte der italienische Anatom Giovanni Battista Morgagni die pathologische Anatomie, also die anatomische Untersuchung von Leichen zum Erkenntnisgewinn über Krankheiten, zur unabdingbaren Voraussetzung für die praktische Heilkunde. Er sah das Wesen der Krankheit nicht mehr als eine Störung in der Zusammensetzung der Körpersäfte an, sondern als pathologische Veränderungen, die sich in den festen Teilen des Körpers manifestierten, sodass sie für einen Pathologen auch noch nch dem Tode des Menschen sichtbar waren. Nun begann eine neue Epoche der Medizin, die vor allem in der so genannten Pariser Schule und in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts auch in England Einzug hielt. Sie wurde die Grundlage für die moderne empirisch-naturwissenschaftliche Medizin.
1827 veröffentlichte der Londoner Arzt Richard Bright die Erkenntnis, dass die Ausscheidung von Eiweiß im Urin und die Wassersucht als charakteristische Krankheitssymptome für Erkrankungen der Nieren anzusehen seien. Nun wurde die chemische Harnanalyse zu einem festen Bestandteil der klinischen Diagnostik. In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts kam die mikroskopische Betrachtung des Harns hinzu.