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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 5/1995

Die Anamnese

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Die Anamnese ist das Fundament der Behandlung. Hier schon legt der ganzheitliche Therapeut besonderen Wert auf eine individuelle Befragung, welche Seele, Geist und Körper des Patienten auslotet.

Von R. M. Schischegg

r9505_an1Eventuell wird man sich wundern, daß über die Anamnese so viele Worte gemacht werden müssen, ist sie doch „nur” die Erfragung der Vorgeschichte der Erkrankung, des Erkrankten und seiner Familie (Familienanamnese). Es ist jedoch zu bedenken, daß durch die Anamnese der Patient und seine häuslichen Gegebenheiten (Sozialanamnese) kennengelernt werden muß. Durch diese Anamnese kann der Patient eingeschätzt werden. In den meisten Fällen wird sich bereits eine Verdachtsdiagnose ergeben. Bevor der junge Behandler den ersten Patienten empfängt, muß er sich über seine eigenen psychologischen Gegebenheiten im klaren sein. Der Behandler muß sich über seine Wirkung auf den Patienten Gedanken machen und versuchen, aus seiner Erkenntnis heraus, sich einen eigenen Befragungs- und Behandlungsstil zu erarbeiten.

Wir alle sind schon bei mehreren Ärzten, aber auch bei Kollegen in Behandlung gewesen. Bitte versuchen Sie nun, sich die verschiedenen Gesprächsformen in Erinnerung zu rufen. Ist es nicht so, daß Ihnen der eine Medziner zwar freundlich, aber sehr autoritär entgegengetreten ist, der andere lustig, kumpelhaft, aber auch bestimmt? Das Autoritäre sollten wir sofort ausklammern. Wir wollen schließlich keine verschüchterten, gläubigen Patienten haben. Das ist überholt. Der beste Patient ist der mündige Patient, der in der Lage ist, aktiv mitzuarbeiten. Natürlich benötigen wir ein bestimmtes Maß an Würde, Überzegungskraft und Bestimmtheit. Das erwartet der Patient von uns. Er sucht Beistand und Hilfe und benötigt somit auch eine Schulter, an der er sich anlehnen kann.

Bevor nun der richtige Gesprächsstil erarbeitet wird, müssen die eigenen psychologischen Gegebenheiten besonders kritisch überprüft werden. Wie wollen Sie vor allem, aber wie können Sie auf den Patienten wirken? Es ist immer zu beachten: die Wirkung, die auf den Patienten erzielt wird, kommt reflektorisch auf uns zurück (Feedback). Es ist einfach nicht möglich, kumpelhaft wirken zu wollen, wenn man mit dem kumpelhaften Feedback nichts anfangen kann. Ebenso ist es schlecht, gezwungen autoritär wirken zu wollen, denn dieses ruft mit Sicherheit Reserviertheit bei dem Patienten hervor.

Wie auch immer Sie sich entwickeln wollen oder können, Überzeugungskraft und Bestimmtheit brauchen Sie in jedem Fall. Wie sollte Ihnen der Patient sonst bei unangenehmen oder gar schmerzhaften Behandlungen folgen? Haben Sie diese Überzeugungskraft nicht, fehlt es Ihnen an Bestimmtheit, wird Ihnen der Patient entgleiten. Ein entglittener Patient ist ein schlechter Patient und vor allen Dingen ein unzufriedener Patient, der Ihren Ruf schädigen kann. Dies ist besonders in der Aufbauphase einer Praxis äußerst problematisch. Wenn Sie, und das kommt leider öfters vor als man im allgemeinen denken mag, zu einem Patienten keinen Kontakt bekommen oder ist Ihnen Patient aus welchem Grund auch immer entglitten, lehnen Sie eine Weiterbehandlung in Ihrem und im Patienterinteresse freundlich aber bestimmt ab. Wir brauchen den Kontakt zum Kranken – wir brauchen kooperierende Patienten – sonst – denken Sie bitte daran, über 90% aller Erkrankungen sind psychosomatischer Natur, züchten wir uns unzufriedene Patienten und können keinen Erfolg haben. Hier bewahrheitet sich ein alter Spruch aus dem Handelsleben: „Ein zufriedener Kunde bringt zwei neue Kunden, ein Unzufriedener nimmt jedoch zehn zufriedene mit!” Dies können wir uns nicht leisten. Die Ablehnung eines Patienten, in der richtigen Art, mit der richtigen Begründung, bringt Ihnen mit Sicherheit die Achtung und das Wohlwollen des Patienten ein und schädigt Ihren Ruf nicht.

Leider ist dies in unserem Berufsstand noch nicht in das Bewußtsein der Behandler eingedrungen. Viele Kollegen werkeln an einem Kranken lieber erfolglos herum und schaden so dem Ansehen der gesamten Heilpraktikerschaft, lassen den Patienten lieber, ohne geholfen zu haben, fortgehen, ehe sie ihn zu einem Kollegen, der wahrscheinlich in diesem Fall mehr Erfolg haben wird, überweisen. Glauben Sie mir bitte: Ihre Kollegen kommen auch nicht mit jedem Patienten gleich gut zurecht.

Nun zum Praxisalltag: Wie bereits mehrfach gesagt, kommen alle unsere Emotionen, die wir auf den Patienten unbewußt übertragen, reflektorisch zu uns zurück. Schon aus diesem Grunde ist es wichtig, daß sie zeitig genug in die Praxis kommen. Es ist zwar für das Selbstwertgefühl des Behandlers wunderbar, durch ein gefülltes Wartezimmer zu gehen und das Geraune der Patienten: “Der Chef kommt!” zu hören. Aber Sie sollten sich davor hüten, die Sprechstunde unter Zeitdruck zu beginnen. Denken Sie wiederum daran, daß sich Ihre Emotionen auf den Patienten übertragen. Wenn Sie unruhig und unter Zeitdruck in eine Anamnese einsteigen, werden Sie einen unruhigen und gehetzt wirkenden Patienten vor sich sitzen haben. Wie weit Sie dann mit Ihrer Exploration kommen werden, können Sie sich selbst ausrechnen.

Ich halte es für durchaus angemessen, mindestens ein halbe Stunde vor Praxisbeginn in der Praxis zu erscheinen. Sie haben dann genügend Zeit, praxisbezogene Probleme mit Ihrer Sprechstundenhilfe zu besprechen, Ihren eventuell vorhandenen Assistenten einzuweisen und sich vor allem zu konzentrieren, um sich auf Ihre verantworungsvolle Arbeit einzustimmen. Durch geschickte Terminierung sollte es Ihnen gelingen, möglichst kurze Wartezeiten für die Patienten zu erreichen. Das Warten kennt der Patient wiederum aus der Kassenärztlichen Praxis und wird nervös. Ein nervöser Patient ist ein schlechter Patient und kaum behandlungsbereit.

Rechnen Sie für eine Anamnese mit eingehender klinischer Untersuchung und der ersten Behandlung unbedingt 1 1/2 Stunden ein. Nur so können Sie in aller Ruhe auf den Patienten eingehen. Weisen Sie ihre Sprechstundenhilfe an, daß Sie während der Anamnese weder vom Telefon, noch durch Spritzengeben etc. gestört werden möchten. Dies ist organisatorisch ohne Probleme machbar. Der Patient kann und darf erwarten, daß Sie ihm während der Anamnese Ihre ganze ungeteilte Aufmerksamkeit schenken.

Ein Patient betritt Ihr Sprechzimmer.
Ihre Sprechstundenhilfe hat ihm die Tür geöffnet und bleibt nun hinter dem Patienten. Nicht etwa, damit er nicht mehr flüchten kann, sondern damit er einen ungehinderten Weg zum Patientenstuhl hat. Der Schreibtisch und der Patientenstuhl sollten möglichst weit von der Eingangstür entfernt stehen, damit dieser Weg möglichst lang ist. Mit einiger Erfahrung kann man am Gang, am zögernden Umherschauen oder am zielstrebigen Drauflosgehen viel über die Persönlichkeit des Patienten erkennen.

In unserem Kulturkreis ist es durchaus üblich, daß der Behandler beim ersten Besuch eines Kranken aufsteht, ihm die Hand reicht und sich vorstellt. Damit haben Sie bereits den ersten verbalen, aber vor allem den ersten körperlichen Kontakt hergestellt. Außerdem wissen Sie nun über die Temperatur und die Feuchtigkeit seiner Hand Bescheid und können dieses Wissen bereits in die Anamnese einbeziehen. Der Händedruck sagt enorm viel über die Persönlichkeit eines Menschen aus! Nachdem der Patient sich gesetzt hat, reicht Ihnen die Sprechstundenhilfe die unausgefüllte (!) Karteikarte. Allenfalls sollte der Nachname bereits eingetragen sein. Sie stehen keinem Großinstitut und keiner Kassenpraxis vor, wo das Ausfüllen der Patientenkarten unpersönlich von der Sprechstundenhilfe vorgenommen wird. Die Sprechstundenhilfe verläßt nun das Sprechzimmer und wird versuchen, alle Störungen, wie bereits besprochen, von Ihnen fernzuhalten.

Bei der Anamnese sollten Sie unter allen Umständen mit dem Patienten allein sein, auch wenn Ihr Assistent noch so enttäuscht sein sollte. Der Patient soll schließlich dazu gebracht werden, Ihnen und zunächst nur Ihnen, dem Behandler seiner Wahl und seines Vertrauens, seine körperlichen und seelischen Nöte anzuvertrauen. Hüten Sie sich davor, Verwandte oder andere Begleitpersonen beim Erstgespräch zuzulassen. Der Hilfesuchende wird nie offen und gelöst sein können und oft genug gab es in Praxen bei der Familienanamnese ernsthafte Streitereien. Die häuslichen und sozialen Probleme dürfen Sie nur aus dem Munde des Patienten hören. Weitere Streitereien gab es über Operationstermine — ein Patient wurde sogar bei der Schilderung seiner Kinderkrankheiten von seiner Frau bevormundet. Natürlich kann das auch umgekehrt der Fall sein.

Der „Kleine Mann” / die „Kleine Frau” wird überhaupt das Sprechen ihrem/seinem Partner überlassen und eine genaue Anamnese ist dadurch natürlich völlig unmöglich. (Auf die einzelnen Patiententypen komme ich später noch ausführlicher zu sprechen). Fragen Sie ruhig, ob der Patient auf eine Empfehlung gekommen ist, ob er Ihr Praxisschild gesehen hat oder ob er sich durch Ihre Eröffnungsanzeige zu einem Besuch entschlossen hat. Diese Auskünfte sind sicherlich interessant, um zu sehen, ob man mit seiner Aussage im richtigen Trend liegt. Allerdings gibt Ihnen die Art, wie er antwortet, einen Einblick in seine Intelligenz. Übrigens – ein Patient, der auf eine Empfehlung hin zu Ihnen kommt, ist leichter zu behandeln als einer, der auf Grund der Anzeige oder auf Grund des Praxisschildes zu Ihnen gefunden hat.

Der Patient merkt zusätzlich, daß Sie sich Zeit nehmen und ihn nicht sofort mit Fragen nach seinem Gesundheitszustand bombardieren. Ein weiterer Schritt zur Herstellung eines guten Kontaktes ist getan! Es ist nicht selten, daß bereits jetzt ein Redeschwall auf Sie hereinbricht. Bitte merken Sie sich unbedingt: Lassen Sie den Patienten aussprechen! Spontanberichte dürfen nie unterbrochen werden! Spontanberichte sagen über den Patienten mehr aus, als sie durch gezielte Fragen je erfahren können. Natürlich werden wir zur Abklärung der einzelnen Punkte auch gezielt fragen, aber immer erst dann, wenn der Spontanbericht beendet ist oder sich ins Uferlose verliert. Wir Heilpraktiker haben Zeit für unsere Patienten!

Wenn der Patient zur Ruhe gekommen ist, fragen wir ihn nach seinem Vornamen (den Nachnamen hat die Sprechstundenhilfe bereits in die Karte eingetragen, damit Sie ihn mit Namen ansprechen können), dem Geburtsdatum, der Adresse (sehr wichtig für die Rechnungsstellung), und dem Beruf. Oftmals kann er viel über das Befinden des Patienten aussagen.(Denken Sie bitte an die Silikose des Bergmanns, an die Obstipation der Sekretärin, an die Leberzirrhose der Gastwirte, an den Pes planus des Kellners und an die Magen- und Wirbelsäulenbeschwerden des Berufskraftfahrers. Natürlich gibt es noch viel mehr berufsbezogene Erkrankungen, es würde jedoch den Rahmen dieses Berichtes sprengen, alle aufzählen zu wollen.)

Nach dem Spontanbericht des Patienten wird nun zur Abrundung der Anamnese gezielt gefragt. Sollte es jedoch zu keinem Spontanbericht gekommen sein, wird direkt gefragt: „Was führt Sie zu mir?” oder „Was kann ich für Sie tun?” Wiederum lassen Sie den Patienten aussprechen. Ich kann es gar nicht oft genug sagen: Heilpraktiker haben für ihre Patienten Zeit! Es ist für die Psyche des Patienten ungeheuer wichtig, jemanden gefunden zu haben, der aufmerksam zuhört und ihn auch ernst nimmt. Viele, gerade ältere Menschen, sind auch heute noch sehr einsam. Gönnen Sie also dem Patienten die Freude, über sich sprechen zu dürfen. Der Moment, wo er nicht mehr weiter weiß oder eine Pause macht, wird kommen und dann setzen Sie mit Ihren Fragen ein.

Achten Sie auf alles, was Ihnen der Patient sagt, aber achten Sie noch mehr auf das, was Ihnen der Patient verschweigen könnte. Denken Sie z.B. an Geschlechtskrankheiten. Damit wird der Patient sicherlich nicht spontan herausplatzen. Bei einem Verdacht müssen Sie ganz vorsichtig und taktvoll vorgehen. Fragen Sie nicht nach der letzten Lues oder Gonorrhoe, sondern fragen Sie doch einfach bei der Aufnahme der genommenen Medikamente ganz beiläufig, ob schon einmal eine Penizillinkur gemacht worden ist. Natürlich müssen Sie, wenn ein begründeter Verdacht vorliegt, immer intensiver fragen und versuchen, den Kooperationsgeist des Patienten zu wecken.

Fällen Sie niemals ein moralisches Werturteil! Lassen Sie statt dessen Hilfsbereitschaft erkennen! (Es sollte übrigens selbstverständlich sein, daß Sie niemals ein Werturteil über Vorbehandler, seien es Heilpraktiker oder Schulmediziner, abgeben.) Heilpraktiker werden zwar die Vordiagnose, die in den meisten Fällen mitgebracht wird, in Betracht ziehen, aber niemals ohne eingehende Überprüfung übernehmen. Wichtig zu wissen ist: Die momentanen Hauptbeschwerden des Patienten müssen nicht der Grund des jetzigen Kommens sein! Meist treibt die Lästigkeit oder die Summierung mehrerer Beschwerden den Patienten zum Behandler. Der Besuch bei einem Heilpraktiker oder einem Arzt ist immer eine Frage des Leidensdruckes.

Bei Ihren Fragen beachten Sie bitte, gerade der ältere Patient, der viele Erfahrungen mit der 5-Minuten-Schulmedizin hat, kann hinter jeder Ihrer Frage eine unausgesprochene Kritik wittern. Zum Beispiel werden Sie mit der Aussage: „Vor zwei Jahren hatte ich einen Nervenzusammenbruch” herzlich wenig anfangen können. Die eigentlich berechtigte Frage „Was meinen Sie damit”? kann bereits als Kritik aufgefaßt werden. Viel besser ist es in solch einem Fall nicht zu fragen, sondern zu bitten: „Schildern Sie mir doch bitte Ihre damaligen Beschwerden.” Beide Formulierungen werden den Patienten zu der gleichen Antwort bringen, aber die zweite Form kann Ihnen niemals als Kritik ausgelegt werden, vielmehr zeigt sie Interesse und Hilfsbereitschaft.

Bevor ich auf die elf sog. Pflichtfragen. die jeder verantwortungsvolle Behandler stellen sollte, eingehe, mache ich Sie nun mit drei Patiententypen, die Ihnen täglich in der Praxis begegnen könne bekannt:

3 Patiententypen

Der „Kleine Mann”
Der „Kleine Mann”, die „Kleine Frau”. Dieser Patient ist der geborene Dulder. Zögernd kommt er in das Sprechzimmer, sitzt auf der Stuhlkante mit hängenden Schultern, hat die Hände gefaltet und spielt mit den Daumen. Am liebsten hätte er es gehabt, wenn Sie seine Begleitung ins Sprechzimmer gelassen hätten, denn er möchte gar nicht über sich sprechen. Er gibt Ihnen zu verstehen, daß er sich trotz allem um seine Familie kümmert und sich um sie größere Sorgen macht als um sich selbst. Er möchte gesund sein, nicht für sich, sondern um seine Familie versorgen zu können. Oftmals laufen ihm die Tränen über das Gesicht, wenn er über sich spricht. Er jedoch der dankbarste Patient, wenn seine Hemmschwelle überwunden ist, und Sie ihn zum Reden gebracht haben. Er reagiert dann meistens wie ein Staudamm, bei dem alle Schleusen geöffnet sind. (Bei diesem Patienten müssen Sie eng mit Ihrer Sprechstundenhilfe oder mit Ihrem Assistenten zusammenarbeiten.) Falls Ihre Therapie trotz aller Sorgfalt nicht anschlägt, wird er meist auf die Befragung von Ihnen sagen, daß es ihm schon wesentlich besser ginge, um Sie nicht zu beleidigen oder zu kränken. Ihrem Hilfspersonal jedoch wird er unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitteilen, daß er ganz verzweifelt sei, sagen zu müssen, daß die Behandlung noch gar nicht gewirkt habe.

Der Pedant
Der Pedant, die Pedantin. Dieser Patiententyp betritt das Sprechzimmer langsam aber zielstrebig. Sieht sich kritisch interessiert um und tritt erst dann an den Schreibtisch heran. Er sitzt zurückgelehnt, aber angespannt, oftmals mit verschränkten Armen (Mauerbildung vor Ihnen). Dieser Patient kennt alle Gesundheits-Dublikationen aus der Regenbogenpresse (Köhnlechner, „Dr. XY berät” u.s.w.). Bei diesem Patienten brauchen Sie eine besondere Bestimmtheit, die oftmals bis zum Autoritären gehen muß, sonst entgleitet Ihnen der Patient. Der Pedant möchte die Therapie selbst bestimmen und achtet ängstlich auf jede Körperreaktion bei der Untersuchung, vor allem aber während der Therapie. Eine Katastrophe wäre es, zu vergessen, den Patienten über Therapieerscheinungen aufzuklären (Hornersches Trias bei einer neuraltherapeutischen Injektion an das Ganglion Sphenopalatinum, Pustelbildung beim Baunscheidtieren, um nur zwei zu nennen.) Falls er vor der Behandlung über diese Reaktionen nicht genauestens Bescheid weiß, wird er absolut hysterisch reagieren und Ihnen niemals glauben, wenn sie sagen, daß diese Reaktionen normal sind. Der Pedant, die Pedantin darf nicht mit dem Simulanten verwechselt werden. Der Simulant spielt Ihnen Krankheiten vor und erfindet, während Sie den einen Symptomenkomplex behandeln, einen anderen, sicherlich schlimmeren und interessanteren. Der Pedant simuliert nicht. Er hält sich nur für einen größeren Fachmann, was seinen Körper und seine Beschwerden betrifft, als alle Behandier zusammen. Der Pedant leidet oftmals an Krebsangst. Er hält die Behandler für unfähig, gerade bei ihm eine genaue Diagnose zu stellen. Er ist ein außerordentlich schwieriger Patient, der zwar in den meisten Fällen die von Ihnen verordneten Medikamente in der Apotheke kauft, sie aber nicht einnimmt, um Ihnen so beweisen zu können, daß Sie mit Ihrer Diagnose und Therapie falsch liegen. Man könnte ihn übrigens auch den Nörgler nennen. Falls Sie diesen Patienten nach Erkennen seines Typs nicht von der Behandlung ausschließen wollen, rate ich dringend zu einer Injektionstherapie, denn was Sie im Patienten „drin” haben, wissen Sie, und er bekommt es nicht mehr hinaus.

Der Manager
Der Manager, die Managerin. Dieser Patient kommt, soweit es ihm seine Beschwerden möglich machen, federnd und schnell auf Sie zu, reicht von sich aus die Hand, setzt sich ruhig und entspannt auf den Patientenstuhl und gibt Ihnen meist spontan (er möchte Zeit sparen) seine Beschwerden an. Da er seine Beschwerden – Schmerzen werden als Mißempfindungen herabgespielt – riege verdrängt hat, hat sich seine Erkrankung manifestiert. Er ist ein ausgesprachener Dissimulant. Er schimpft auf die Ärzte, die ihm geraten haben, kürzer zutreten. Bei der richtigen Diagnose ist er ein sehr bequemer Patient, der Ihren Therapien willig und kooperativ folgt, solange sie nicht zu zeitintensiv sind. Er will schnellstens gesund werden. Natürlich gibt es noch mehr Patiententypen und vor allem kommen die sog. Mischformen vor. Die drei Typen, die ich beschrieben habe, sind jedoch die prägnantesten.

Die elf Pflichtfragen

Jeder Behandler wird mit der Zeit seinen eigenen Stil ausprägen, doch die nun folgenden Fragen sollten dem Patienten immer gestellt werden, deshalb habe ich sie auch als Pflichtfragen bezeichnet. Die Antworten auf diese Fragen geben Hinweise auf den körperlichen Zustand des Kranken, die in der klinischen Untersuchung, bzw. bei der Diagnosestellung erhärtet oder verworfen werden. Ich möchte kein starres Schema aufstellen, sondern lediglich Anhaltspunkte für die Anamnese und für die Diagnosestellung geben. Zu fragen ist nach:

  1. der Gewichtsentwicklung
  2. dem Appetit
  3. dem Durst
  4. dem Nachtschweiß
  5. dem Schlaf
  6. dem Stuhlgang
  7. dem Wasserlassen
  8. dem Husten und Auswurf
  9. Menstruations- bzw. Potenzstörungen
  10. zur Zeit eingenommenen Medikamenten
  11. Alkohol- und Zigarettenverbrauch

1. Die Gewichtsentwicklung

Zu- oder Abnahme von 3-4 kg in wenigen Wochen ist ungewöhnlich. Sollte eine so hohe Gewichtsabnahme ohne besondere Diät vorliegen, kann die Ursache in einem Karzinomatösen oder einem entzündlichen Prozeß zu suchen sein. Hier ist die genaue Abklärung durch einen Facharzt unumgänglich. Bei plötzlicher Gewichtszunahme ohne besondere Diätfehler (Feiertage etc.) sollte man unbedingt an eine Wassereinlagerung ins Gewebe denken. Zu- oder Abnahme von mehr als einem Kilo/die weist auf eine Wassereinlagerung bzw. auf eine Ausschwemmung bei einem kardialen oder nephrotischen Syndrom hin. Auch hier würde ich die genaue Ursache zunächst von einem Facharzt abklären lassen.

2. Der Appetit

Appetitstörungen treten bei fast allen schweren Erkrankungen auf. Übelkeit und Erbrechen weisen in der Regel auf einen pathologischen Prozeß im Magen-Darmbereich hin. Auf keinen Fall darf bei der Anamnese, der Untersuchung und der Therapie die psychische Komponente vergessen werden. Streß, Sorgen und unverarbeitete Konflikte können Einfluß auf den Appetit nehmen (Familien- und Sozialanamnese!).

3. Der Durst

Bei normalen Umweltbedingungen sind ca. 1,5 l Flüssigkeitsaufnahme/die als normal anzusehen, wogegen eine Aufnahme von mehr als 2 l/die als ungewöhnlich gelten kann. Trinkzwang in der Nacht weist auf eine ernstzunehmende Störung des Flüssigkeitshaushalts hin (Stoffwechselentgleisung). Ständiger Durst kann ein Frühsymptom des Diabetes sein. Immer wieder werden Ihnen Patienten stolz berichten, daß sie, um das Herz nicht zu belasten, besonders wenig trinken. Diese Einstellung, die noch vor wenigen Jahren von der Schulmedizin vertreten wurde, ist überholt und schlechterdings falsch. Auch die Schulmedizin hat eingesehen, daß es bei einer zu geringen Flüssigkeitsaufnahme zu einer Viskositätsveränderung des Blutes kommt. Durch die Blutverdickung und der daraus resultierenden Herabsetzung der Fließgeschwindigkeit des Blutes ist die Gefahr einer Herz- und Nierenschädigung enorm vergrößert.

4. Nachtschweiß

Nachtschweiß ist oft ein Zeichen für in der Nacht auftretende subfebrile Temperaturen. Meist werden sie in den frühen Morgenstunden bemerkt. In der Fachliteratur werden Nachtschweiße oft als Anzeichen für Lungen-TBC genannt. Sie weisen jedoch immer auf chronisch-entzündliche Prozesse hin. Auch hier plädiere ich für eine Abklärung durch einen Facharzt.

5. Der Schlaf

Gestörter Schlaf ist ein allgemeines Erkrankungszeichen. Schlafstörungen im höheren Alter weisen oft auf eine Cerebralsklerose hin, jedoch auch auf allgemeine Nervosität, Unruhe oder Unterbeschäftigung. Dauerhafte Angstträume können Vorläufer eines Lungenödems oder Asthma cardiale sein. Das Schlafbedürfnis ist jedoch sehr individuell zu sehen. Über das Thema Schlaf schrieb ich in meinem Buch „Naturheilmittel wirksam vorbeugen, vital bleiben” erschienen 1989 im Compact Verlag: „Schlaf ist ein Bedürfnis des Körpers, wie das Essen, das Trinken und die Sexualität. Doch schon eine Nacht der „Schlaf-losigkeit” kann so Manchen regelrecht zur Verzweiflung bringen. Dadurch kommt es dann leider nicht selten zu einem sich schnell aufbauenden Schlafmittelmißbrauch. Das Ungute an den meisten chemischen Schlafmitteln ist, daß der durch sie verursachte Schlaf einfach zu tief wird. Die Schlaftiefe variiert in der Regel. Dabei lösen sich Perioden sehr tiefen Schlafs mit sehr flachen ab. In den flachen Phasen. den sogenannten REM-Phasen, träumt der Schläfer. REM ist die Abkürzung für „Rapid Eye Movement”, auf deutsch: „schnelle Augenbewegung’. Die Augen bewegen sich in den Träumen und verfolgen die gesehenen Figuren. Daran läßt sich sehr einfach feststellen, ob und wann ein Mensch träumt Diese Traumphasen sind unbedingt notwendig, um im seelischen Gleichgewicht zu bleiben.

Die Tageserlebnisse werden in dieser Schlaftiefe aufgearbeitet. Wird nun der Schlaf durch Schlafmittel so vertieft, daß der Patient nicht träumen kann, wird er, obwohl er tief – zu tief – geschlafen hat, sich am Morgen zerschlagen und nervös fühlen. Über eine längere Zeitdauer führt dieses Problem unweigerlich zu Neurosen. Den einen Grund für das Schlafen haben Sie eben kennengelernt. Ein weiterer Grund ist die tiefe seelische Entspannung des Gehirns. Genau wie unser Gesamtorganismus benötigt unser Gehirn Ruhephasen. Nun kommt es leider nicht selten vor, daß wir aus verschiedenen Gründen nicht “abschalten” können. In den meisten Fällen sind die Gründe dafür die verschiedensten Streßfaktoren. Früher sagte man: „Kommst du ins Grübeln, verflüchtigt sich der Schlaf.„ Wenn wir dem Gehirn nicht die Chance geben, abzuschalten, kann es auch nicht in die Ruhephase kommen. Bereits ein aufregender Krimi im Fernsehen kann uns eine schlaflose Nacht bereiten. Sehr hilfreich kann in solchen Fällen das Lesen eines erbaulichen Buches oder z.B. eine Handarbeit sein. Besonders wichtig ist: Wenn sich der Schlaf nach ca. zehn Minuten Liegens nicht eingestellt hat, wird er sich wahrscheinlich auch in der nächsten Stunde nicht einstellen. Stehen Sie doch dann einfach wieder auf. Eine neuerliche Ablenkung ist auf jeden Fall besser, als sich ruhelos im Bett herumzuwälzen. Rücksichtnahme auf den schlafenden Partner ist hier fehl am Platze. Übrigens stören Sie ihn weniger, wenn Sie leise aufstehen, als sich stundenlang ruhelos im Bett zu bewegen. Wenn Sie dann das Gefühl haben, müde genug zu sein, kann ein neuer Einschlafversuch gestartet werden. Meistens kommt es dann auch zu dem ersehnten Schlaf. Diese Methode wird in einer Schlafklinik in München seit Jahren mit bestem Erfolg angewandt. Wenn der Körper und der Geist müde genug sind, holen sie sich den Schlaf, den sie brauchen, das ist unumstößlich! Ein anderes Problem ist, daß viele Menschen nicht wissen, wieviel Schlaf sie eigentlich benötigen.

Der Säugling schläft ca. 20 Stunden pro Tag. In den mittleren Jahren kann man von einer durchschnittlichen Schlafdauer von sieben bis maximal zehn Stunden täglich ausgehen. Der ältere Mensch wird mit fünf bis sechs Stunden durchaus auskommen. Mit dieser Erklärung ist vielen Patienten bereits geholfen. Genau so wenig, wie Sie sich zu übermäßiger Nahrungsaufnahme zwingen sollten, sollten Sie sich zu mehr Schlaf zwingen, als Ihr Körper benötigt. Dieses war nun ein relativ langer Ausflug in die populärwissenschaftliche Literatur. Ich bin jedoch der Meinung, daß dieser Ausflug sicherlich viel zum Verständnis der Problematik beigetragen hat. Es ist also zunächst einmal mit dem Patienten abzuklären, wieviel tatsächlich geschlafen wird. Das ist nicht ganz einfach, denn es handelt sich hier ganz eindeutig um subjektive Empfindungen. Ein aufklärendes Gespräch wirkt allerdings oft Wunder. Vom Behandler zu beachten sind natürlich, sollte es sich tatsächlich um pathologische Schlafstörungen handeln, die bereits genannten Krankheiten.

6. Der Stuhlgang

In der Häufigkeit sind große Schwankungen möglich. Als normal kann man 1-2 mal täglich bis 1-2 tägige Abstände ansehen. Wichtig ist die Konsistenz, geformt, weich bis wasserartig, der Geruch und die Farbe. Mißempfindungen beim Absetzen können auf Hämorrhoiden oder auf einen Sphinkterspasmus hinweisen. Fragen Sie unbedingt nach Blut- oder Schleimauflagerungen.

7. Das Wasserlassen

Die normale Häufigkeit ist 3-5 mal am Tage. Brennen beim Wasserlassen kann ein Anzeichen für eine Entzündung der Harnröhre sein. Auch hier ist die Farbe von Bedeutung. Wie bekannt, kann eine dunkelbierartige Farbe auf eine Hepatitis hinweisen. Nächtliches Wasserlassen bei einer normalen Trinkmenge ist ein Hinweis auf eine Herzinsuffizienz oder eine Erkrankung des Harntraktes.

8. Husten und Auswurf

Regelmäßiger Auswurf weist immer auf eine chronische Bronchitis oder ein Lungenemphysem hin. Raucherhusten ist natürlich der chronischen Bronchitis gleichzusetzen. Bei Bronchiektasen kann die Auswurfmenge mehrere 100 ccm/die betragen.

9. Menstruations- bzw. Potenzstörungen

Zu diesem Komplex werden Sie sicher keinen Spontanbericht zu hören bekommen, es sei denn der Patient ist mit spezifischen Störungen zu Ihnen gekommen. Wichtig ist es für den Behandler, über eventuelle Störungen Bescheid zu wissen, da sie auf einen endokrinen, aber auch psychischen Prozeß hinweisen können. Hier werden Sie, wie vorher beschrieben, außerordentlich taktvoll vorgehen müssen. Die Periode ist für viele Frauen auch heute noch etwas schmutziges, über das man nicht spricht. Über die Potenz des Mannes wird man aus erklärlichen Gründen selten sofort eine auswertbare Antwort erhalten. Hier ist dann das Geschick des Behandlers gefordert.

10. Die zur Zeit eingenommenen Medikamente

Diese Frage ist wichtig zur Ausschließung von Überempfindlichkeitsreaktionen und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten, die eventuell hinzukommen. Einem digitalisierten Patienten darf niemals Calcium iV. injiziert werden. Das ist ein absolut unentschuldbarer Kunstfehler und wird mit einiger Sicherheit den Entzug der Erlaubnis zur Ausübung der gewerbsmäßigen Heilkunde ohne Bestallung nach sich ziehen! Auch andere Darreichungsformen sollten nur unter strengster Indikationsstellung und unter Aufsicht verabreicht werden. Außerdem werden Sie bei der Einnahme von Cortisonpräparaten kaum einen Erfolg mit der Homöopathie und der Akupunktur haben, weil die natürlichen Körperreaktionen durch die Einnahme dieser Medikamente total blockiert sind.

11. Der Alkohol- und Zigarettenverbrauch

0-120g Alkohol/die führen in der Regel nach 5 Jahren unweigerlich zu einer Lebererkrankung. Zur Erinnerung: Bier enthält ca. 3-5% Alkohol, Wein enthält ca. 8-14% Alkohol, Spirituosen enthalten ca. 17-50% Alkohol. Bei einem Zigarettenverbrauch von mehr als 10 Zigaretten/die ist immer mit Gefäßerkrankungen und Bronchial-, Kehlkopf- und Lungenkarzinomen zu rechnen. Bei den Antworten, die der Patient gibt, ist unbedingt zu beachten, daß er nur in den seltensten Fällen ehrlich sein wird. Besonders der Süchtige wird versuchen, seine Sucht vor dem Behandler zu verschleiern.

Nach der Anamnese folgt nun die klinische Untersuchung. Darüber in einer der nächsten Ausgaben mehr.

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