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Naturheilkunde
Lesezeit: 9 Minuten

Traumasensibles Qigong

© vlntn I adobestock.com

In einer Zeit wachsender gesellschaftlicher und individueller Belastung rückt das Thema „Trauma“ zunehmend in das Bewusstsein von Therapeuten. Ob in der Psychotherapie oder im naturheilkundlichen Bereich: Immer mehr Fachpersonen stehen vor der Herausforderung, mit Klienten zu arbeiten, die in ihrem Leben emotional überfordernde Erfahrungen gemacht haben. Gleichzeitig steigt das Interesse an körperzentrierten Methoden zur Stabilisierung und Regulation des Nervensystems. Eine davon ist Qigong. Mein Artikel beleuchtet ausgewählte Aspekte des Potenzials und der Grenzen von Qigong im Kontext von Traumata. 

 

 

DEFINITION TRAUMA

Trauma wird heute weniger als Auslöser verstanden, sondern vielmehr als die Reaktion des Nervensystems auf eine Überforderung, die nicht verarbeitet werden konnte. Es gibt daher kein Trauma als fixes Ereignis, sondern einen traumatisierten Menschen und damit verbundene Folgen für sein Nervensystem. Diese Sichtweise ist grundlegend, um Qigong nicht einfach als Technik zur Beruhigung einzusetzen, sondern als möglichen Erfahrungsraum für Selbstregulation, Erdung und Kontakt. 

 

Eine traumatisierende Überforderung und die damit verbundenen körperlichen und psychischen Folgen können durch eine einmalige extreme Überlastung entstehen, aber auch durch chronischen Stress, Vernachlässigung oder wiederholte Grenzverletzungen. Die Ursachen sind vielfältig. Das zentrale Merkmal ist die überwältigende Erfahrung, die den Menschen aus seiner regulierten Selbstwahrnehmung herausführt. 

 

 

QIGONG UND TRAUMA IN DER FORSCHUNG

In den letzten Jahrzehnten ist das wissenschaftliche Interesse an Qigong im Kontext von Stressreduktion und psychischer Stabilisierung gewachsen. Forschungen der Harvard Medical School und anderer Institute belegen die positive Wirkung von Qigong auf das autonome Nervensystem, v. a. bei Menschen mit Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS). Eine Meta-Analyse aus dem Jahr 2020 fand bei regelmäßig Qigong-Praktizierenden signifikante Verbesserungen jener Symptome wie Angst, Schlafstörungen sowie emotionaler Dysregulation. Auch neurobiologische Studien zeigen eine verbesserte vagale Tonusregulation durch Atemtraining und Bewegungsübungen. 

 

Qigong wirkt regulierend auf das autonome Nervensystem, v. a. durch seine langsamen, achtsamen Bewegungen, verbunden mit einer bewussten Atmung. Gerade traumatisierte Menschen erleben oft eine dauerhafte Übererregung oder eine chronische Erstarrung – Zustände, die durch Qigong sanft moduliert werden können. Durch wiederholte Bewegungsabfolgen entstehen Sicherheit, Rhythmus und ein Gefühl von Kontrolle. 

 

 

PULSATION IM QIGONG UND IM LEBEN

Ein zentrales Prinzip im Qigong ist die Arbeit mit der natürlichen Pulsationsbewegung, ein rhythmisches Wechselspiel von Steigen und Sinken, Ausdehnung und Verdichtung. Diese Pulsation ist ein Grundmuster des Lebens, wiederzufinden im Herzschlag, in der Atmung, im Muskeltonus, im Nervensystem und der Zellbewegung. Bei traumatisierten Menschen kann dieser Lebenspuls in bestimmten Bereichen des Körpers oder Erlebens blockiert oder wie betäubt sein – als Schutzmechanismus in einer Situation, die als (lebens-)bedrohlich erfahren wurde. Solche Zustände zeigen sich nicht nur körperlich, sondern auch emotional und psychisch. Qigong-Übungen, die achtsam und rhythmisch mit dieser Pulsationsbewegung arbeiten, können dazu beitragen, den unterbrochenen Fluss wieder in Gang zu bringen. Sie laden den Körper ein, sich sanft aus der Erstarrung zu lösen, wieder in Kontakt mit sich zu kommen und damit in kleinen, sicheren Schritten zurück ins Leben zu finden. 

STÄRKUNG DER KÖRPERWAHRNEHMUNG

Ein zentrales Thema bei Traumata ist eine gestörte Beziehung zum Körper. Viele Betroffene fühlen sich vom eigenen Leib entfremdet, nehmen ihn nur bruchstückhaft wahr oder sind von den Körperreaktionen verängstigt. Oft sind diese Wahrnehmungen mit Gefühlen der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins verbunden. Qigong bietet einen Zugang zum Körper, der nicht auf Leistung, sondern auf Wahrnehmung basiert. Durch die sanften Übungen entsteht ein neuer Kontakt zum Erleben. Die Aufmerksamkeit wird auf Füße, Atmung, Gelenke und das „innere Spüren“ gerichtet. Dies fördert die Beziehung zur eigenen Verkörperung auch in unangenehmen Zuständen und unterstützt die Wiederherstellung von Körpergrenzen. Ein weiterer im Qigong praktizierter Aspekt ist die „geteilte Aufmerksamkeit“ – eine Fähigkeit, den Geist auf verschiedene Wahrnehmungsbereiche lenken zu können. Das fehlt traumatisierten Menschen häufig, wodurch sie den notwendigen Realitätsbezug zum Hier und Jetzt verlieren.

 

INDIVIDUELLE ANPASSUNG DER ÜBUNGEN

Ein weiterer Vorteil von Qigong im Umgang mit Traumata besteht in seiner Flexibilität. Alle Übungen können in Tempo, Intensität und Dauer individuell angepasst werden. Wer nicht stehen kann, übt im Sitzen. Wer nicht still sein kann, bleibt in Bewegung. Wer keine geschlossenen Augen toleriert, übt mit Blickkontakt zu seiner Umwelt. Kompliziertere Bewegungsabläufe führen den Geist bei Bedarf mehr nach außen und lenken von den inneren Prozessen ab. Diese Möglichkeit zur Selbstanpassung fördert Autonomie und grenzt sich klar von therapeutischen Settings ab, in denen die Patienten oft fremdbestimmt sind. 

© Travelarium I adobestock.com

WAHRNEHMUNGSKANÄLE „SIBAM“

Ein hilfreiches Konzept zur Orientierung in der traumasensiblen Arbeit mit Qigong ist das von Peter Levine entwickelte Modell der Wahrnehmungskanäle SIBAM. Es steht für Sensationen (körperliche Empfindungen), Images (innere Bilder und Sinneswahrnehmungen), Behavior (Verhalten, Bewegungsimpulse), Affect (Gefühle, Emotionen) und Meaning (Bedeutung, Sinngebung, Gedanken, Kontext). Bei traumatischen Erfahrungen sind oft einer oder mehrere dieser Kanäle stark mit Stress oder Überwältigung assoziiert. Eine Überreizung durch traumatische Erlebnisse kann ebenso zur energetischen Reduzierung (Dissoziation) auf einem der SIBAM-Wahrnehmungskanäle führen. 

 

Ein großer Vorteil der Arbeit mit SIBAM liegt in der Möglichkeit, die Aufmerksamkeit gezielt auf jenen Kanal zu lenken, der im Moment weniger belastet ist. So kann z. B. das sanfte Spüren körperlicher Empfindungen (S), das Beobachten eines inneren Bildes oder einer angenehmen Vorstellung (I) ein sicherer Zugang sein, um mit dem Erlebten in Kontakt zu treten, ohne zu retraumatisieren. Qigong unterstützt diesen Prozess, indem die Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu lenken, geschult wird. Es schafft einen sicheren Rahmen, in dem Selbstregulation wieder möglich wird. 

 

 

RISIKEN

Trotz aller Vorteile birgt die Anwendung von Qigong bei traumatisierten Menschen auch Risiken. Die größte Gefahr liegt in einer Überforderung durch eine zu intensive Innenschau. Langsame Bewegungen, achtsame Atembeobachtung oder das „stille Üben“ können ungewollt (Körper-)Erinnerungen aktivieren oder Praktizierende mit Empfindungen in Kontakt bringen, die sie überfluten. Auch kann statt einer gesunden Entspannung eine Dissoziation eintreten, ein Zustand der inneren Abwesenheit und Abgespaltenheit. Hier braucht es wachsame, gut geschulte Kursleiter, die zwischen Entspannung und Abschaltung unterscheiden können. Weitere Risiken sind unbeabsichtigte Grenzverletzungen, etwa durch korrigierende Berührung oder unachtsame Anleitung und Bildsprache. Im Vorfeld ist nicht zu erahnen, was genau das Nervensystem über das normale Maß hinaus triggert – weder vom Kursleiter noch vom Teilnehmer. 

 

Bei traumatisierten Menschen kann selbst die Entspannungsreaktion zu einem Auslöser für Stress oder Panik werden. Während Entspannung normalerweise mit Sicherheit und Erholung assoziiert wird, kann sie bei Betroffenen alte Erfahrungen von Ausgeliefertsein, Kontrollverlust oder Erstarrung reaktivieren. Der Zustand des Loslassens erinnert den Körper unbewusst an frühere Situationen, in denen Ruhe mit Gefahr verbunden war, weil Schutz und Halt fehlten. In der Qigong-Praxis ist es daher besonders wichtig, Entspannungsprozesse behutsam sowie dosiert zu gestalten, immer in Verbindung mit Erdung, Selbstwahrnehmung und der Möglichkeit, jederzeit selbst Einfluss auf die eigene Erfahrung nehmen zu können. Ein entspannter Zustand sollte daher nicht als Ziel, sondern als Einladung verstanden werden. Der Körper kann folgen, wenn er dazu bereit ist. Der entsprechende Zustand tritt von allein ein, wenn im Nervensystem das Erlebte als „sicher“ erfahren wird. 

 

 

DAS BINDUNGSTRAUMA UND DIE LEHRERSCHÜLER-BEZIEHUNG

Gerade bei Menschen mit Bindungstraumata spielt die Beziehung zwischen Qigong-Lehrendem und -Schüler eine besondere Rolle. Solche Traumata sind oft in frühen Beziehungen entstanden, in denen Schutz, Halt und Resonanz fehlten oder verletzt wurden. Das Thema „Bindungstrauma“ wird oft unterschätzt, nicht zuletzt, weil es manchmal keine konkrete Erinnerung an ein einzelnes dramatisches Ereignis gibt. Hinzu kommt die Tendenz, das Erlebte aus heutiger, erwachsener Perspektive zu bewerten. Hierbei bleibt das eigentliche Ausmaß des inneren Dramas oft verborgen. Um die Tiefe eines Bindungstraumas in Gänze zu erfassen, ist es notwendig, die Perspektive des Ungeborenen, des Neugeborenen oder des kleinen Kindes einzunehmen – eines Wesens, das vollkommen abhängig, schutzbedürftig und auf Resonanz angewiesen ist. Was aus erwachsener Sicht als „nicht so schlimm“ erscheint, kann aus dieser frühen, existenziellen Perspektive ein tiefgreifender Bruch in der Erfahrung von Sicherheit, Schutz und Verbundenheit gewesen sein. 

 

In einem Qigong-Setting, das auf Achtsamkeit und Körperwahrnehmung basiert, kann diese alte Verletzlichkeit wieder aktiviert werden – sowohl im positiven Sinn einer Heilungschance als auch als Risiko für neue Überforderung. Lehrende sollten sich daher ihrer eigenen Wirkung bewusst sein: Eine zu autoritäre Haltung, Übergriffigkeit oder unbewusste Idealisierung können alte Bindungsdynamiken reaktivieren. Gleichzeitig bietet die Qigong-Praxis in einem respektvollen, sicheren Rahmen die Möglichkeit, neue, korrigierende Beziehungserfahrungen zu machen: Begegnung auf Augenhöhe, Raum für Autonomie und wohlwollende Präsenz schaffen eine Grundlage, auf der sich echte Heilung entfalten kann. Eine kritische Reflexion der eigenen Rolle und regelmäßige Supervision sind daher für Qigong-Lehrende, die mit traumatisierten Menschen arbeiten, essenziell. 

 

 

GRUNDPRINZIPIEN DES TRAUMASENSIBLEN QIGONG-ANSATZES

Streng genommen gibt es in meinen Augen kein festes „traumasensibles Qigong“, sondern vielmehr Qigong-Lehrende mit traumasensibler Grundhaltung. Es sind nicht die Übungen selbst, sondern die Art, wie die Teilnehmer begleitet werden, die den Unterschied ausmacht. 

 

Der traumasensible Qigong-Ansatz orientiert sich an Grundprinzipien, die Sicherheit, Selbstbestimmung und Achtsamkeit in den Mittelpunkt stellen:  

 

Statt Anweisungen werden Einladungen ausgesprochen: Jede Übung ist ein Angebot, das individuell angenommen oder verändert werden darf. So behalten die Teilnehmer jederzeit die Kontrolle über ihr Erleben. 

Erdung hat Vorrang vor Innenschau: Der bewusste Kontakt mit den Füßen, den Beinen und dem Raum bietet erste Anker, um im Hier und Jetzt anzukommen. 

Potenzielle Trigger werden vermieden: Das können unerwartete Berührungen oder überfordernde Worte sein. Die Sprache bleibt klar, respektvoll und ressourcenorientiert.  

Langsamkeit als zentrales Element: Weniger ist oft mehr. Es geht nicht um Leistung oder „richtiges“ Üben, sondern um ein achtsames Erkunden im individuellen Tempo. 

Ein klarer Rahmen schafft Orientierung und Halt: Gearbeitet wird mit wiederkehrenden Ritualen, transparenter Struktur und Möglichkeiten zum Rückzug oder Austausch. 

 

 

FAZIT

Qigong kann eine wertvolle Ressource im Umgang mit Traumata sein – vorausgesetzt, es wird traumasensibel, flexibel und mit einem hohen Maß an Achtsamkeit angeleitet. Es bietet eine Brücke zwischen Körper, Emotion, Geist und erlaubt dem betroffenen Menschen, in seinem eigenen Tempo zu heilen. Dabei ersetzt Qigong keine (körperorientierte) Traumatherapie, kann diese aber sinnvoll ergänzen. 

Die gezielte Arbeit mit traumatisierten Menschen gehört in die Hände von ausgebildetem Fachpersonal, das die Reichweite der Qigong-Praxis einschätzen und entsprechendes Containment anbieten kann. Qigong ist nicht automatisch heilsam für traumatisierte Menschen, sondern erfordert eine achtsame, feinfühlige Begleitung und eine respektvolle Annäherung an diese Kunst. 

 

 


 

LITERATUR 

Zhang, B et al.: Mind-body intervention for post-traumatic stress disorder in adolescents – a systematic review and network meta-analysis. BMC Psychiatry. 2025 Feb 26;25(1):178. 

Liu, X et al.: A systematic review and metaanalysis of the effects of Qigong and Tai Chi for depressive symptoms. Complement Ther Med. 2015 Aug;23(4):516-534. 

Levine, P: Sprache ohne Worte – Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt. Kösel Verlag, 12. Aufl., 2011. 

BUCH-TIPP: Markus Ruppert Meridian Qigong – Ein Wegbegleiter durch die ersten Jahre der Qigong-Praxis Eigenverlag

Markus Ruppert

Heilpraktiker in eigener Praxis in Bad Grönenbach mit Schwerpunkten Traumatherapie (Somatic Experiencing®), Traditionelle Chinesische Medizin, Spagyrik und PsychoSOMATIK, Buchautor

markus@naturheilpraxis-ruppert.de

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