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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 2/1995

Der heilende Wald

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Südamerika – Quelle neuer Naturheilmittel

Bruno Wolters

r9502_wal1Aus Südamerika kennt man bisher mehr als 100.000 Arten höherer Pflanzen (Samenpflanzen und Farngewächse i. w. S.). Allein im Amazonasgebiet wachsen schätzungsweise 60-80.000 Arten, und es sind längst nicht alle bekannt. Dieser Artenreichtum stellt für Pharmazie und Medizin eine keineswegs ausgeschöpfte Quelle für neue Heilpflanzen und Wirkstoffe dar. Die drohende Zerstörung der Wälder gefährdet dieses künftige Potential der Arzneimittelforschung, denn nur wenige Prozent der Pflanzenarten sind bislang näher untersucht. Zugleich verlieren mit der Erschließung dieser Gebiete die Indianerstämme ihre bisherige Kultur, und damit geht auch das Wissen ihrer Medizinmänner über Heilpflanzen verloren.

Die Wissenschaft der Ethnobotanik, der Pflanzenkunde der Völker, versucht diese Kenntnisse zu retten. Altmeister dieses Faches ist Richard Evans Schultes, der sich in jahrzehntelanger Feldforschung, vor allem im nordwestlichen Amazonasgebiet, mit den von Indianern genutzten Pflanzen befaßt hat.

Zahlreiche weitere Arbeitskreise sind bei der Erforschung der Wirkstoffe und Wirkungen südamerikanischer Pflanzen tätig; in Südamerika, vor allem an den Universitäten Brasiliens und Chiles, sowie Arbeitsgruppen in Nordamerika und Europa (auch in Deutschland).

Richard Evans Schultes hat in den letzten Jahren auf zwei Drogengruppen hingewiesen: Auf Rauschdrogen, die bei Indianern als Heilpflanzen auch zu ganz anderen Zwecken verwendet werden, und auf indianische Mittel zur Behandlung von Altersdemenz, dem geistigen Verfall im Alter.

Rauschdrogen mit nützlichen Heilwirkungen

Die Bekämpfung des in Europa und Nordamerika grassierenden Drogenmißbrauchs verstellt häufig den Blick auf solche Arzneipflanzen. Schultes weist besonders auf Virola-Arten hin, die bei Indianern unter den Namen Yakée, Parica oder anderen Bezeichnungen gebräuchlich sind (Pflanzen aus der Familie der Muskatnußgewächse (Myristicaceae)). Es sind kleine bis mittelgroße Bäume mit länglicheiförmigen bis lanzettlichen Blättern und mit Rispen kleiner Blüten. Viele Arten enthalten in ihrer inneren Rindenschicht einen roten Saft, der nach Trocknung als halluzinogenes Pulver geschnupft oder geschluckt wird. Verantwortlich für die Rauschgiftwirkung sind Alkaloide (Tryptarnin- und ß-Carbolin-Derivate).

Den getrockneten Saft verschiedener Virola-Rinden benutzen die Indios aber auch gegen Hautentzündungen, Krätze, Erysipel (Rose), als Blutstillungsmittel und zur Wundheilung, speziell den von Virola calophylla Warburg und V. theiodora (Spr. ex Benth.) Warburg bei Hautpilzinfektionen. Der Saft der frisch abgelösten Rinde dieser beiden Arten wird von vielen Indianervölkern im nordwestlichen Amazonien und in Surinam zwei Wochen lang täglich auf die infizierte Hautregion gestrichen. Man läßt ihn antrocknen, bis die Symptome der Pilzinfekion verschwinden. Die Wirksamkeit wurde bestätigt, weshalb die Gattung Virola nun genauer untersucht wird. Bisher weiß man, daß bei manchen Virola-Arten außer Alkaloiden Neolignane vorkommen, die auch in ihren Samen nachgewiesen sind; V. sebifera Aubl. Enthält zusätzlich Dibenzylbutyrolactone.

Der frische Saft aus Verletzungen der Rinde von Virola sebifera wird bei uns in der Homöopathie in Präparaten zur Behandlung von Vereiterungen eingesetzt. Das „Ucuhuba“-Fett aus den Samen dient in Brasilien zu technischen Zwecken. Es gibt also Möglichkeiten, die Rauschgift-Gattung Virola sinnvoll zu nutzen. Vielleicht wird aus ihr einmal ein neues Mittel gegen Hautpilzinfektionen gewonnen.

Indianische Drogen zur Behandlung von AItersleiden

Geistiger Verfall im Alter (AItersdemenz) ist vor allem in Form der Alzheimer-Krankheit bekannt, an der allein in Deutschland eine Million alter Menschen leiden. Schultes hat auf einer Tagung in Uppsala 1992 fünfundzwanzig indianische Arzneipflanzen vorgestellt, die ihm bei Indianern als Mittel bei Alzheimer-Krankheit, Parkinsonismus und ähnlichen Erscheinungen begegnet sind. Leider ist noch keine dieser Pflanzen näher untersucht, und nur in wenigen Fällen gibt es Vermutungen über die stofflichen Grundlagen ihrer möglichen Wirkung. Die Indianer respektieren das Alter, und so gut sie können, kümmern sie sich um alte Menschen, die nicht mehr für sich selbst sorgen können.

Von der Gattung Justicia, Kräutern aus der Familie der Akanthusgewächse mit gegenständigen Blättern und zweilippigen Blüten mit nur zwei Staubblättern, verwenden die Kofan die Art Justicia ideogenes Leonard bei einer Art Schüttellähmung, und zwar eine Abkochung der ganzen Pflanze. Man weiß, daß Lignane wichtige Inhaltsstoffe dieser Gattung sind, Naphthalidlignane mit einer Wirkung gegen Herzrhythmusstörungen und Depressionen, Furofuranlignane mit Antistreßwirkung. Bei manchen Arten sind auch Ravonoide, Cumarine, Alkaloide vom Chinazolintyp, aromatische Amine, Saponine und ätherisches Öl gefunden worden. Für Justicia ideogenes sind noch keine Wirkstoffe bekannt. Lignane sind auch in mehreren anderen Pflanzen zu finden, die Indianer bei Hinfälligkeit, körperlicher und geistiger Schwäche alter Menschen verwenden.

Ein Teil der bei Altersdemenz benutzten Pflanzenarten ist alkaloidhaltig; darunter sind auch zwei Pfeilgiftpflanzen, nämlich ondrodendron tomentosum (siehe Kapitel “Curare”) und Unonopsis veneficiorum (Mart.) R. E. Fries, ein Rahmapfelgewächs (Familie Annonaceae). Dieses ist ein kleiner Baum mit großen lanzettlichen Blättern, in Büschein angeordneten Blüten und gestielten roten Früchten. Die Puinave am Rio Vaupes kennen die Pfeilgiftwirkung nicht; einer ihrer Medizinmänner erzählte Schultes von einer anderen Anwendung. Sie mischen zerkleinerte getrocknete Blätter dieses Baumes in die Speisen alter Menschen, die “vergessen, wie man spricht”. Curarepflanzen sind ja bei der Aufnahme durch den Mund kaum giftig. Leider hat man bei den Pfeilgiftpflanzen fast immer nur die Gifte untersucht und andere Stoffe außer acht gelassen.

Brasilianischer Ginseng

Auch Ginseng wird vielfach von alten Menschen eingenommen. Bei echtem Ginseng handelt es sich um die saponinhaltigen Wurzeln der ostasiatischen Art Panax Ginseng C. A. Mayer und der nordamerikanischen P. quinquefolius (Familie Efeugewächse, Araliaceae), die als Tonikum und Adaptogen verwendet werden. Adaptogene nennt man Substanzen, die die physische Leistungsfähigkeit, die Merkfähigkeit des Gehirns und das Reaktionsvermögen verbessern. Auch in Südamerika gibt es Ginsengverwandte, so den Baum Didymopanax morototoni (Aub!.) Decne., dessen in Cayenne üblicher Name “Saint Jean” eine Verballhornung des französisch ausgesprochenen Wortes “Ginseng” ist. Er enthält aber nur eine mäßige Menge Saponine, weshalb der .Morototó” wohl kaum große Bedeutung bekommen wird.

“Brasilianischer Ginseng” ist etwas botanisch ganz anderes: Bei dieser Droge handelt es sich um die Wurzeln zweier Fuchsschwanzgewächse (Familie Amaranthaceae), Pfaffia paniculata Kuntze und P. iresinoides Spreng. Es sind strauchige Pflanzen mit gegenständigen Blättern und rispigen Blütenständen, die auch angepflanzt werden. In Japan und Brasilien werden sie auf ihre Wirkstoffe untersucht.

Wie der echte Ginseng enthalten sie zahlreiche Saponine vom Triterpentyp in einer Menge bis zu 11 %, mit etwas abweichendem Grundgerüst (Nortriterpene), die Pfaffoside A-F. Ein anderes Triterpen ist sogar mit einem aus der Gattung Panax identisch. Außerdem sind Steroide aufgefunden worden, die mit dem Häutungshormon der Insekten verwandt sind (Ecdysteron und Verwandte), sowie Flavonoide.

Die Wurzeldroge hat ginsengartige Wirkungen. In der Volksmedizin Brasiliens wird sie als Tonikum, Aphrodisiakum und bei Zuckerkrankheit gebraucht, bei Indianern zur Förderung der peripheren Durchblutung (eine zu geringe Durchblutung nennen sie “Aufnahme von Wind durch die Haut”). Eines der Nortriterpene fördert die periphere Durchblutung und die Zellregeneration. Die Pfaffoside A und C und ihr Grundkörper, die Pfaffiasäure, haben nach japanischen Untersuchungen eine Hemmwirkung auf Tumorzellen (Hautkrebs in Zellkultur). Seit 1972 ist Pfaffiasäure in Japan patentiert; zur Anwendung ist es aber nicht gekommen, denn fast alle Antitumorsubstanzen sind für eine Therapie ungeeignet.

Die kosmetische Industrie interessiert sich für den brasilianischen Ginseng, weil Saponine einen hauterweichenden Effekt haben sollen und die vorhandenen Mineralsalze die Feuchtigkeit regeln helfen. In der Droge enthaltene Aminosäuren sollen schlaffe Haut festigen. Phytosterine (Sitosterol, Stigmasterol) gelten ebenfalls als Hautpflegestoffe.

Hautpflegemittel und Badezusätze werden auch aus verschiedenen Palmenblüten sowie aus dem Fruchtfleisch z. B. der Pfirsichpalmen gewonnen. (Das Öl aus der Fruchtwand von Tucuma-Palmen wiederum enthält dreimal mehr vom “Schönheitsprovitamin” A als etwa unsere Möhren.)

Aus den Trieben der Kakteensorte “Königin der Nacht” wird der Herz-Wirkstoff Glykosid gewonnen. Kakteenfrüchte gelten als besonders gesundes Nahrungsmittel, werden von der Industrie sogar zu Marmeladen verarbeitet.

Krallendorn – eine Pflanze mit vielen Wirkstoffen

Im peruanisch-amazonischen Regenwald wächst eine Liane, die auf spanisch “una de gato”, Katzenkralle, genannt wird. Ihre Wurzel wird in der Volksmedizin bei Arthritis, Magenschleimhautentzündung, Zuckerkrankheit, Krebs und als entzündungshemmendes Mittel verwendet. Weil im tropischen Südamerika mehrere verschiedene Pflanzen “una de gato” genannt werden, hat es lange gedauert, bis man herausfand, daß es sich um den botanisch längst bekannten Krallendorn, Uncaria tomentosa (Willd.) DC. (Familie Krappgewächse, Rubiaceae), handelt. Die Pflanze hat doldenförmige Blütenstände, gegenständige, etwas zugespitzte, eiförmige Blätter und an den Knoten ihrer Sproßachsen gekrümmte Dornen (daher der Name!).

In den achtziger Jahren wurde Krallendorntee auch bei uns von Krebskranken getrunken, aber bis heute ist kein Wirkstoff in klinischer Anwendung. Gleichzeitig begann jedoch die Erforschung der Inhaltsstoffe durch die Arbeitsgruppen von J. D. Phillipson in London, H. Wagner in München, italienischen und anderen Teams. Heute ist eine Reihe von Substanzen mit verschiedenen Wirkungen bekannt.

Die Wurzeln sind alkaloidhaltig, und zwar wurden verschiedene Oxindol-Alkaloide isoliert und experimentell pharmakologisch untersucht. Rynchophyllin senkt den Blutdruck, wirkt fiebersenkend und gebärmuttererregend. Hirsutin beeinflußt die Reizübertragung im vegetativen Nervensystem; es hemmt die Kontraktion quergestreifter Muskeln, Mitraphyllin wirkt harntreibend. Pteropodin und drei weitere Alkaloide steigern die Phagocytose, die Tätigkeit weißer Blutkörperchen, und fördern damit die körpereigene Abwehr.

Eine zweite Wirkstoffgruppe sind Triterpensaponine, hier Glykoside der Chinovasäure; sehr ähnliche kommen auch als Bitterstoffe bei den verwandten Chinarindenbäumen vor. Die Chinovasäureglykoside des Krallendorns wirken entzündungshemmend und experimentell gegen einige Viren, nämlich einen Verwandten des Schnupfenerregers und einen Erreger von Mundschleimhautentzündung.

Nach neuen Ergebnissen italienischer Arbeitsgruppen bewirkt Rindenextrakt auch eine Verringerung der Anzahl von Mutationen; das betrifft auch die mutationserzeugende Wirksamkeit von ZigarettenrauchProdukten im Harn eines Rauchers, der 15 Tage lang mit Uncaria-Rindenextrakt behandelt wurde. Vermutlich enthält die Rinde Substanzen, die die Oxidation von Vorstufen krebserzeugender Stoffe aus Zigarettenteer verringern.

Ob die Wirkstoffe des Krallendorns eines Tages in die Therapie eingeführt werden könnten, müssen klinische Erprobungen zeigen.


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Drogen
Pfeilgift und
Indianermedizin

Arzneipflanzen aus Südamerika

Bruno Wolters

286 Seiten gebunden, mit vielen Farbfotos,
Zeichnungen und Grafiken.

 

Dieses Buch stellt für jeden, der sich ernsthaft mit Phytotherapie in der Praxis oder noch im Studium befaßt, einen echten Schatz dar, um sich die klassische Phytotherapie mit dem Wissen über die Heilpflanzen Südamerikas anzueignen. Denn der verantwortungsvolle Therapeut wird sich stets darum bemühen, keinen Stillstand in der Erweiterung seines Wissen über die Phytotherapie zu haben, die doch einen der wesentlichen Grundpfeiler der naturheilkundlichen Therapieformen darstellt.

Gerade heute, wo wir immer wieder mit neuen Heilpflanzen und ihren Anwendungen konfrontiert sind, ist das Buch “Drogen, Pfeilgift und Indianermedizin” eine hervorragende Quelle für die .Neuen Drogen” aus Südamerika.

Von Kallawayammedizin und Indianischer Heilkunst wird hier ebenso unterhaltsam und faktenreich berichtet wie von südamerikanischen Arzneipflanzen, ihrer Geschichte, Struktur und Verwendung.

Über Curare, Guajak und Mimosen bis Ratanthia und Wurm kraut werden 35 Heilpflanzen abgehandelt und abgebildet.

Nebenbei erfahren wir, wie hoch ein Matebaum wird, was sich hinter “List der Frauen” verbirgt, was Alexander von Humboldt am Orinoko suchte und welche bekannte Zimmerpflanze bei den Kariben “Töte vier Generationen” heißt. Nicht umsonst schöpft der Autor Dr. Bruno Wolters, Chemiker und engagierter Botaniker, aus fundierten Kenntnissen und bringt eine Vielzahl von Informationen in lebendiger Sprache, spannend geschrieben und ab und zu mit einem Augenzwinkern versehen.

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