aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 4/1997
Schattenseiten der Medizin
Bernhard Horwatitsch
Laut pathologischer Studien (Sinowatz, Allgemeine Pathologie, Springer Verlag) weiß man, daß weltweit 40-60% aller klinischen Diagnosen Fehldiagnosen sind. Diese Zahl, wenngleich weltweit, läßt dennoch an der Leistungsfähigkeit der modernen Medizin, der sogenannten Schulmedizin, zweifeln.
Man muß sich die Frage stellen, ob man sich aufwendigen invasiven diagnostischen Methoden als Patient wirklich noch unterziehen soll, wenn es nur fünfzig zu fünfzig steht, ob der diagnosetreibende Arzt wirklich die Krankheitsursache feststellen kann. Die Fehlerquoten liegen sicher auch in der keineswegs so ausgereiften Medizintechnik, denn nach wie vor kann ein harmloser Meteorismus das Ultraschallbild verblüffend verändern.
Ein weiterer Grund ist die gewisse „Schlampigkeit”. So erlebt man im klinischen Alltag zum Beispiel häufig die Untersuchung des Herzens mittels einer TEE (Tracheo-Endoskopische Echokardiografie). In der Hoffnung eines Thrombus’ fündig zu werden, liest man in den Befunden dieser TEE nicht selten von einem „Verdacht auf…” Worauf der betroffene Patient meist lebenslang marcumarisiert wird und den Rest seiner Tage – mit der Angst daran zu verbluten – verbringen darf. Andererseits aber einen Thrombus „schießt” und auf diese Weise stirbt. Da es sich aber nur um einen „Verdacht auf…” handelt, und selten eine weitere TEE folgt, um den „Verdacht” zu verifizieren (weil eine solche Wiederholungsuntersuchung oft nur den „Verdacht auf den Verdacht” bestätigt), ist die Bezeichnung „Schlamperei” sogar noch ein Hilfsausdruck. Auch die Behandlung eines arteriellen Hypertonus (soweit essentiell bedingt) zeigt oft genug die Hilflosigkeit unserer modernen Schulmedizin.
So erlebt man im klinischen Alltag allzu oft einen medikamentösen Polypragmatismus, der geradezu haarsträubend anmutet. Über zehn verschiedene Antihypertensiva muß da ein Patient dreimal täglich schlucken und bekommt – schon durch den Anblick dieser Tablettenflut – seinen Bluthochdruck nicht herunter. Dabei würde ein Blick in die „Rote Liste” genügen um zu wissen, daß sich ein Großteil dieser Antihypertensiva gegenseitig aufhebt oder gar negativ interferiert.
Selten blicken solche Ärzte, die von der Wirksamkeit ihrer Verordnungen überzeugt sind, hinter die Kulissen ihrer Patienten. Erstaunlich genug ist das geringe Interesse an ihrer familiären Situationen, Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, anderen Risikofaktoren u.s.w. Sonst nämlich müßten sie wissen und berücksichtigen, daß streßverursachende Lebenssituationen mit ACE-Hemmern nicht wegzuzaubern sind. Oft konnte ich mich so von der Wirkungslosigkeit der meisten verordneten (und teuren!) Medikamente überzeugen. Bemerkenswert aber ist auch eine immer wieder zu beobachtende ärztliche Überheblichkeit, mit der ihre eigene Unsicherheit – oder Überforderung – kaschiert werden soll.
Weitere interessante Fälle
Eine Patientin wird mit akuten Sprachstörungen und Mißempfinden in den Armen in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. Bis dahin ging ihr behandelnder Arzt von einer Psychose aus und zog mit ihr eine wochenlange Behandlung durch.
Endlich in die Klinik eingeliefert stellte sich mittels der Kernspinuntersuchung heraus, daß zahlreiche deutliche Blutungsherde im Gehirn Ursache ihrer Beschwerden waren. Der behandelnde Psychiater hatte bis dahin eine neurologische Untersuchung für nicht nötig gehalten.
Ebenso ein Zeugnis von beachtlicher Schlampigkeit ist der Fall eines jungen Patienten mit einer sogenannten Witzel-Fistel und einem offenen Tracheostoma bei nachgewiesener Dysphagie. Der Patient klagt über Magenschmerzen – bei weichem Abdomen – und gibt an, die Fistel habe sich etwas in den Bauch gezogen, woraus er sie dann schmerzlos zurückgeholt habe. Der Patient ist kreislaufstabil, wird aber dennoch in die chirurgische Nothilfe verlegt.
Dort machte man eine Röntgenaufnahme (trotz bekannter Dysphagie !) mit Kontrastmittelbreischluck, wobei die Aspiration des Breies zu einem tödlichen Lungenödem führen kann, da er hyperosmolar ist. Eine Sonographie wird nicht gemacht, auch keine Gastroskopie oder Blutabnahme. Da man nichts fand, wurde der Patient – ohne Diagnose – zur weiteren Kontrolle wieder zurückverlegt.
Tage darauf entwickelt er Fieber und einen hörbaren Pleuraerguß. Der Patient wird erneut verlegt, diesmal bei Verdacht auf eine akute Pankreatitis. Dieser Verdacht bestätigt sich. Da ein so schweres Pankreas-Krankheitsbild binnen weniger Stunden den Patienten von innen her auffrißt und zum Exitus führt, wurde in diesem Fall fahrlässig Leben bedroht.
So sind die Faktoren, die jene oben erwähnte Anzahl klinischer Fehldiagnosen erklären, umrissen als technische Mängel, fachliche Inkompetenz, Schlampigkeit, systembedingte Schwächen, intellekuelle Überheblichkeit und Angst davor, Fehler einzugestehen.
Was für die Medizin nötig wäre, ist die Kritik an den eigenen Methoden, sorgfältiges Abwägen der Mittel, die zur Diagnose herangezogen werden (wobei immer noch die Anamnese das Mittel der Wahl bleibt), sowie die Fähigkeit umfassend zu denken und nicht nach „Schema F” vorzugehen. Hierin liegt der größte Vorteil der Naturheilkunde gegenüber der Schulmedizin.
Bleibt abschließend zu sagen, daß dem „nil nocere” auch dann Folge zu leisten ist, wenn man damit ein gewisses Risiko eingeht. Dabei besteht natürlich für den „Heilkundigen” die Gefahr, daß sein Abwägen nach bestem Gewissen nicht das Gewissen der Gerichte beruhigt. Wenn man sich beispielsweise dafür entscheidet, eine bestimmte Untersuchung nicht durchzuführen, da das Ergebnis fragwürdig wäre, jedoch die vorherrschende Meinung über angebliche Fragwürdigkeit jener Untersuchung eine andere ist, so kommt man sehr wohl in Verlegenheit.
Oder: Wenn man sich der medikamentösen Polypragmasie verschließt und dem Patienten nicht die nach Meinung des Apothekers hilfreichen zwanzig verschiedenen Blutdruckmittel verschreibt und der Patient womöglich verstirbt, oder – weniger dramatisch – nicht gesund wird, kommt man als „Heilkundiger” ebenfalls in Verlegenheit.
Sicher, wer heilt, hat Recht. Aber nicht immer kann man heilen, oft „nur” lindern und manchmal auch nur verhindern, daß es schlimmer wird. All das aber ist immer noch besser, als den Krankheitsverlauf durch unsinnige Bemühungen zu beschleunigen und gar nicht selten bekommt dann der Heilpraktiker jene verkorksten Fälle in die Praxis, deren Zustand dann geschickt ihm zur Last gelegt wird. So trägt die Schulmedizin zum finanziellen Desaster unserer Krankenkassen bei, indem sie fragwürdige Medikamente verschreibt, falsche Diagnosen stellt und zum Teil unsinnige Untersuchungen durchführt. Leider versucht man immer wieder Heilpraktikern das in die Schuhe zu schieben, was in beträchtlichem Maße klinischen Alltag darstellt.
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