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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 6/2013

ADHS – Ernährungstherapeutische Perspektiven

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© djama - Fotolia.comIm folgenden Artikel soll der Einfluss der Ernährung auf die Verhaltensauffälligkeiten und weiteren Symptome von ADHS-Betroffenen betrachtet werden. Hierbei sollen vor allem neuere wissenschaftliche Untersuchungen herangezogen werden, um Eltern und Praktikern eine Hilfestellung bei der Zusammenstellung effektiver Diäten an die Hand zu geben.

ADHS – eine fabrizierte Erkrankung?

Schreiende und tobende Kinder außer Rand und Band, verzweifelte Eltern, ohnmächtige Pädagogen: Keine andere Erkrankung des Kindes- und Jugendalters rückte in der Vergangenheit so stark in den Fokus der breiten Öffentlichkeit wie das sogenannte Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom, kurz ADHS.

Eine wahre Flut an ADHS-Diagnosen brachte das Fass vor einigen Jahren endgültig zum Überlaufen und erste kritische Psychiater und Psychotherapeuten meldeten sich zu Wort. Sie bemängelten nicht nur die inkonsistenten Diagnosekriterien, sondern vermuteten auch einen nicht unerheblichen Anteil an Fehldiagnosen.

Damit lagen sie höchstwahrscheinlich richtig, denn Forscher der Ruhr-Universität Bochum konnten zeigen, dass es häufig zu Fehldiagnosen aufgrund der von Kinder- und Jugendpsychotherapeuten benutzten Faustregeln kommt. Die Experten verwenden zur Diagnosestellung also eher Heuristiken, anstatt sich an wissenschaftlichen Kriterien zu orientieren.

In einer weiteren Studie der Universität Köln legten die Forscher dar, dass auch ein Großteil der nicht an ADHS leidenden Jungen in bestimmten Entwicklungsphasen einzelne ADHS-Symptome zeigt, wodurch eine klare Differenzierung von der Norm noch erheblich erschwert wird.

Der „wissenschaftliche Vater“ des ADHS, der amerikanische Kinderpsychiater Leon Eisenberg, sprach 2009 von einem „Paradebeispiel für eine fabrizierte Krankheit“. Im Zuge dieser Kritik bezeichneten wichtige Wortführer ADHS als „gesellschaftliches Konstrukt“. Die Symptomatik wird dabei als Folge der aktuellen Lebensumstände verstanden, was gerade vielen Pädagogen aus dem Herzen spricht. Auch Eisenberg hatte kurz vor seinem Tod angemerkt, dass „die genetische Veranlagung für ADHS vollkommen überschätzt wird“ und „psychosozialen Aspekten mehr Beachtung geschenkt werden sollte“.

ADHS – eine gekaufte Diagnose?

Das Thema ist noch aus einem weiteren Grund so brenzlig, denn mit der Diagnose ADHS wird sehr viel Geld verdient: Das Nürnberger Pharmaunternehmen Novartis, welches das Medikament Ritalin herstellt, machte damit im Jahr 2010 einen weltweiten Umsatz von 464 Millionen US-Dollar.

Nach der Neuauflage des Diagnose-Handbuchs der American Psychiatric Association kam ans Licht, dass mehr als die Hälfte der Autoren der ADHS-relevanten Kapitel Einkünfte von der Pharmaindustrie erhielt. Neben Novartis und weiteren Pharmaunternehmen verdient am ADHS eine ganze Industrie, die Literatur, spezielles Spielzeug und weitere Produkte an die Eltern betroffener Kinder vertreibt.

Doch selbst wenn die genetischen Veranlagungen nur eine untergeordnete Rolle bei der Genese des ADHS spielen sollten und die Pharmaindustrie bei der Verbreitung der populären Diagnose kräftig mitmischte, so bleibt dennoch ein hoher Leidensdruck bei den betroffenen Kindern und die Ohnmacht ihrer Eltern und Betreuer, denn die Verhaltensauffälligkeiten sind, kulturelles Phänomen hin oder her, durchaus real.

Es ist nicht zielführend, dem ADHS seinen Stellenwert als Erkrankung abzusprechen und zu glauben, dass damit alle Probleme vom Tisch seien. Aktuell wird die Debatte auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen, anstatt nach möglichen Lösungsansätzen zu suchen.

Methylphenidat –
Standardmedikation mit zahlreichen Nebenwirkungen

Heute im öffentlichen Bewusstsein mindestens genauso verankert wie die Diagnose ADHS, ist das stimulierende Arzneimittel Methylphenidat, besser bekannt unter dem Handelsnamen Ritalin.

Die Nebenwirkungen des Präparates sind nicht nur zahlreich, sondern teilweise schwerwiegend. Unter den psychischen und neurologischen Nebenwirkungen treten verminderter Appetit, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Mundtrockenheit, Nervosität und Übelkeit sehr häufig (>1:10) auf. Appetitlosigkeit, Angstgefühle, anfängliche Schlafstörungen, depressive Verstimmung, Nervosität, Unruhe, Agitiertheit, Aggression, Zähneknirschen, Depressionen, Verwirrung, Spannung, Schwindel, Zittern, Kribbeln, Sedierung, Spannungskopfschmerz, verschwommenes Sehen, Dyspepsie, Erbrechen, Verstopfung, übermäßiges Schwitzen, Muskelspannung, Reizbarkeit, Gewichtsverlust, Muskelzuckungen, emotionale Labilität treten häufig (1:100 bis 1:10) auf.

Diese imposante Liste könnte noch ohne Weiteres um zahlreiche Nebenwirkungen an Haut bzw. Unterhaut (bspw. Dermatitis oder Haarausfall) oder am Herz-Kreislauf-System (u.a. Herzrasen und Herzrhythmusstörungen) ergänzt werden. Viele Eltern berichten besorgt, dass sich das Verhalten ihrer Kinder mit der Gabe von Methylphenidat wirklich bessert, die damit einhergehende gravierende Persönlichkeitsänderung sie aber zutiefst ängstige. Daher ist es nachvollziehbar, dass Eltern betroffener Kinder nach verträglicheren Alternativen suchen.

Von Anfang an standen, vor allem bei den Praktikern, bestimmte Ernährungsfaktoren im Verdacht, ADHS auszulösen bzw. dessen Symptome zu verstärken. Doch auch die wissenschaftliche Forschung widmete sich diesem brisanten Thema, welches immer wieder zu hitzigen Diskussionen führte.

Erste ernährungstherapeutische Ansätze

In den 1970er-Jahren entwickelte Dr. Ben Feingold, ein amerikanischer Kinderarzt und Allergologe, erstmals eine spezielle Diät zur Behandlung von ADHS-Symptomen. Die Methode beruht auf der Vermeidung von synthetischen Zusatzstoffen (Farb-, Geschmacks- und Konservierungsstoffe) sowie von synthetischen Süßstoffen (z.B. Aspartam). Erste Studien mit oft geringen Teilnehmerzahlen berichteten Erfolgsquoten von teilweise über 70% und rückten Dr. Feingolds Ansatz in den Fokus weiterer Forscher. Doch leider waren die Ergebnisse der folgenden Untersuchungen bei Weitem nicht so beeindruckend, wie die faszinierenden Fallberichte. Die Diät half also einzelnen Kindern auf ganz erstaunliche Weise und einige konnten sich sogar ihrer Medikamente entledigen. Doch dem größeren Teil konnte nicht geholfen werden.

Trotz des eher enttäuschenden Fazits konnten durch die durchgeführten Folgeuntersuchungen einige neue Erkenntnisse gewonnen werden. Die wissenschaftlichen Publikationen zu Feingolds Diätansatz gingen aber über die Jahre konstant zurück.

Interessanterweise schaltete sich 1974 die Nutrition Foundation of New York in die Diskussion ein, eine Organisation, der u.a. Coca Cola angehörte. Obwohl sie ebenfalls weitere Untersuchungen angekündigt hatte, erklärte die Nutrition Foundation schon wenige Tage später, dass es „keine Hinweise aus kontrollierten Studien gäbe, die auf einen Zusammenhang zwischen künstlichen Zusatzstoffen und Hyperaktivität schließen lassen“. Dieser Satz wurde lange und oft von den Medien wiederholt und bekam dadurch leider für viele Eltern, aber auch zahlreiche Ärzte und Wissenschaftler, einen Wahrheitswert.

Die Southhampton-Studie

Im Jahr 2007 griff ein britisches Forscherteam die Ideen von Dr. Feingold auf. Die Wissenschaftler untersuchten 300 Kinder ihrer Gemeinde. Ein Teil der Kinder bekam ein Getränk, welches synthetische Zusätze in Form von Farb- und Konservierungsstoffen enthielt, während der Rest nur eine Placebolösung trank. Die Kinder, welche die Zusatzstoffe konsumierten, wurden in den Urteilen von Eltern, Lehrern und zusätzlichen unabhängigen Beobachtern als deutlich hyperaktiver eingeschätzt. Die Art und Dosis der synthetischen Zusatzstoffe findet sich regulär in zahlreichen, vor allem bunten, „Kinderlebensmitteln“.

Doch die britischen Forscher ließen es damit nicht beruhen. 2010 publizierten sie einen Artikel, in dem sie sich mit der Genetik jener Kinder beschäftigten, welche in der Southampton- Studie besonders hyperaktiv reagiert hatten.

Sie konnten dadurch nachweisen, dass diese Kinder Probleme mit der Regulation ihres Histaminhaushalts hatten. Es scheint also, als sei ADHS in vielen (aber nicht allen) Fällen eine Folge einer Lebensmittelallergie.

Spätestens die Publikationen dieser neuen Befunde sollten dem oben zitierten Fazit der Nutrition Foundation of New York den finalen Streich versetzen.

Die bahnbrechende INCA-Studie

Diesmal waren es belgische Wissenschaftler, welche sich 2011 der Verbindung zwischen Ernährung und ADHS widmeten. Sie untersuchten insgesamt 100 Kinder, welche bereits in der Vergangenheit eine ADHS-Diagnose erhalten hatten. Die jungen Probanden aßen über neun Wochen eine sogenannte Eliminationsdiät (weißer Reis, Fleisch, Gemüse und Birnen) oder eine „gesunde Kontrolldiät“ (u. a. Vollkorngetreide, Pflanzenöle, Milchprodukte, Nüsse und Samen, Obst und Gemüse). Ziel der Eliminationsdiät war es, alle Lebensmittel mit potenziell allergenen Eigenschaften aus dem Speiseplan der Kinder zu verbannen.

Die Ergebnisse der Studie waren im wahrsten Sinne des Wortes beeindruckend: Etwa 60% der Kinder zeigten mit der Eliminationsdiät enorme Fortschritte bei den ADHS-relevanten Verhaltensauffälligkeiten. Diese Fortschritte verschwanden, sobald sie wieder zu einer „gesunden Kontrolldiät“ zurückkehrten.

(Es gab auch eine „sanftere“ Form der Eliminationsdiät, welche geringe Mengen Getreide beinhaltete. Doch nach zwei Wochen hatten 41% der Kinder überhaupt keine Reaktion auf diesen Ansatz gezeigt und wurden somit der eigentlichen Eliminationsdiät zugeordnet.)

Der negative Einfluss von vor allem glutenhaltigem Getreide auf die Verbesserung der Symptome scheint nicht wirklich verwunderlich. So zeigten zahlreiche Studien in der Vergangenheit mögliche Zusammenhänge zwischen Weizen und Schizophrenie, den depressiven Störungen und Autismus.

ADHS-spezifische Mikronährstofftherapie

Neben den eigentlichen diätetischen Ansätzen gerieten in den letzten Jahren auch einige Mikronährstoffe in den Fokus der Wissenschaftler. Es wurde u.a. festgestellt, dass die Konzentration von langkettigen Omega-3-Fettsäuren in den Zellmembranen von ADHS-Betroffenen dauerhaft herabgesetzt ist. In der sogenannten Oxford-Durham-Studie erhielten Kinder mit Koordinationsproblemen ein Supplement mit einer hohen Omega-3- Konzentration. Die meisten Kinder zeigten eine deutliche Verbesserung der ADHS-Symptome, während die Kinder der Kontrollgruppe keine signifikante Linderung erfuhren. Auch die Buchstabier- und Lesefähigkeit verbesserte sich weitaus deutlicher in der Supplementgruppe.

In weiteren Studien konnte gezeigt werden, dass Kinder mit einem Zinkmangel mehr hyperaktives Verhalten zeigen. Eine Supplementation mit Zink ließ die benötigte Medikamentenmenge im Gegensatz zur Kontrollgruppe um ca. 30% sinken.

Des Teufels liebster Dämon? Der Zucker …

Zucker stand schon frühzeitig bei Praktikern und Eltern im Verdacht, der Hauptschuldige am ADHS-Dilemma zu sein. Im Zuge der ersten Veröffentlichungen entspann sich eine der hitzigsten Debatten im Zusammenhang mit Ernährung und ADHS.

Die gesammelten Erfahrungen tausender Eltern und Lehrer standen den statistischen Daten einiger Forschergruppen gegenüber. Zahlreiche Wissenschaftler verwiesen immer wieder darauf, dass Zucker in den durchgeführten Studien niemals konsistent zu aggressiverem oder hyperaktiverem Verhalten gegenüber Placebo geführt hatte.

Allerdings zeigen Kinder signifikante Änderungen im Elektroenzephalogramm und im Verhalten, wenn ihre Blutzuckerwerte rapide unter 75 mg/dl fallen. Dieses Phänomen, auch reaktive Hypoglykämie genannt, kann leicht durch eine zuckerreiche Mahlzeit provoziert werden. Es treten hierbei die für die Hypoglykämie typischen zentralnervösen Symptome auf, wie etwa Verwirrtheit, Konzentrationsund Koordinationsstörungen.

In einem wahren Mammutprojekt wurden Daten von über einer Million Schülern an öffentlichen New Yorker Schulen über sieben Jahre erfasst. Dabei wurde der Zuckerkonsum dieser Kinder stark reduziert und einige synthetische Farbstoffe aus der Ernährung verbannt, woraufhin sich die schulischen Testleistungen bedeutend verbesserten.

Weitere Unterstützung für die Eltern kommt durch Studien der Universitäten in South Carolina und Yale. Umso höher die zugeführte Menge an Zucker in den Untersuchungen mit ADHS-Kindern wurde, desto häufiger zeigten sie zerstörerisches bzw. aggressives Verhalten und Ruhelosigkeit. Auch der Grad der Unaufmerksamkeit stieg mit höherer Dosis an.

Ein weiteres Problem mit dem Zucker sind die vielen leeren Kalorien, welche dieser liefert. Mit anwachsendem Zuckerkonsum kommt es häufig zu einer mangelnden Zufuhr essenzieller Mikronährstoffe, u.a. auch den für die ADHS-Symptomatik so wichtigen Omega-3-Fettsäuren.

Ein Fazit und die brennende Frage: Was ist zu tun?

Dieser riesige Berg an Forschungsergebnissen scheint beinahe erdrückend. Doch nach dem Ordnen der Ergebnisse und Gedanken sollte eindeutig die Hoffnung überwiegen, dass eine Ernährungsumstellung vielen ADHS-Betroffenen helfen kann, ihre Symptome deutlich zu reduzieren – ganz ohne chemische Medikamente mit teilweise verheerenden Nebenwirkungen. Doch wo sollten Therapeuten und interessierte Eltern beginnen?

Inzwischen behandeln viele ADHS-Experten ihre Klienten mit Mischformen der oben vorgestellten Ansätze und das teilweise mit durchschlagendem Erfolg! Dr. Sandy Newmark z.B. empfiehlt eine zuckerarme Diät basierend auf unveränderten Lebensmitteln und unter Einbeziehung von Fischöl (Omega-3-Lieferant) und Zink.

Eine Weiterentwicklung der Specific Carbohydrate Diet, einer Diät zur Behandlung chronisch entzündlicher Darmkrankheiten, die sogenannte Gut and Psychology Syndrome Diet (GAPS), führt als eine Hauptindikation ADHS auf.

Entwickelt bzw. weiterentwickelt wurde dieser Diätansatz von Dr. Natasha Campbell-McBride. Interessanterweise eliminiert die GAPSDiet alle gängigen und oben erwähnten negativen Einflussfaktoren, obwohl sie zeitlich vor den bedeutenden aktuellen Untersuchungen konzipiert wurde.

GAPS beruht auf unverarbeiteten Lebensmitteln, vor allem Gemüse, Obst, Nüssen und Samen, Olivenöl, Seefisch, Fleisch und Eiern. Der Diätansatz ist frei von Zucker und Getreide und liefert durch den Verzehr von fettem Seefisch wichtige Omega-3-Fettsäuren.

Obwohl zur Effektivität von GAPS in Bezug auf ADHS nur Fallberichte und keine klinischen Studien existieren, scheinen die oben aufgeführten Untersuchungen den Nutzen dieser Diät zu unterstreichen. Als besonders positiv kann natürlich auch das Vorhandensein von Literatur, Rezepten usw. gesehen werden, was den Einstieg und die praktische Umsetzung einer solchen Diät erheblich erleichtern kann.

In einer der kommenden Ausgaben des Paracelsus Magazins möchte ich Ihnen gern einige praktische Ratschläge zur Umsetzung der vorgestellten Ernährungsansätze geben.

Thomas StruppeThomas Struppe
Psychologische Beratung

th.struppe@t-online.de

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