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Naturheilkunde
Lesezeit: 6 Minuten

Spermidin

© hannamonika I adobestock.com

Im Zuge des demografischen Wandels und der zunehmenden Verbreitung chronischer sowie altersbedingter Erkrankungen wächst das Interesse an Substanzen, die in Alterungsprozesse eingreifen können. Spermidin hat sich in diesem Zusammenhang zu einem spannenden Kandidaten entwickelt. Die Verbindung ist endogen vorhanden, nimmt aber mit zunehmendem Alter in der Konzentration ab. Aufgrund seiner Autophagie auslösenden Eigenschaften wird Spermidin mittlerweile sowohl als Nahrungsergänzungsmittel als auch in Form intravenöser Infusionen angeboten. Dieser Artikel beleuchtet beide Anwendungsformen unter Einbezug der aktuellen Studienlage und diskutiert Potenziale und Limitationen. 

 

 

EIGENSCHAFTEN

Spermidin ist ein biogenes Polyamin, das über mehrere enzymatischen Schritte aus Ornithin gebildet wird. Es spielt eine Schlüsselrolle in der Zellproliferation, Genexpression, Proteinsynthese und im DNA-Stabilitätsmanagement. Besonders bedeutsam ist seine Fähigkeit, epigenetisch relevante Enzyme (z. B. Histonacetyltransferasen) zu hemmen, was indirekt zur Aktivierung der Autophagie führt. Dieser intrazelluläre Reinigungsmechanismus ist wesentlich für die zelluläre Homöostase – er reduziert sich jedoch mit dem Alter, was zur Akkumulation geschädigter Zellbestandteile beiträgt (1). 

 

 

NAHRUNGSERGÄNZUNG

Produkte, in denen Spermidin gezielt angereichert wurde, unterliegen der Novel-Food-Verordnung (EU) 2015/2283 und müssen zugelassen sowie spezifisch deklariert sein. Die derzeit einzige durch die EFSA zugelassene Form ist „Weizenkeimextrakt mit hohem Spermidingehalt“ (Durchführungsverordnung EU 2020/443). Jene Produkte, die auf andere Quellen zurückgreifen, benötigen eine eigene Zulassung. Auch isoliertes Spermidin ist nicht zugelassen. 

 

Unverarbeitete Lebensmittel, die Spermidin von Natur aus in variablen Mengen enthalten, z. B. Weizenkeime, gereifter Käse, Pilze, Sojabohnen oder einige Obst- und Gemüsesorten, sind von dieser Regelung nicht betroffen. Eine ausgewogene, spermidinreiche Ernährung ist sicherlich zu begrüßen, jedoch können die Mengen an Spermidin, die in präklinischen oder klinischen Studien mit gesundheitlich relevanten Effekten in Verbindung gebracht wurden, in der praktischen Realität allein über die tägliche Ernährung in vielen Fällen nicht erreicht werden. Dies gilt besonders, wenn bestimmte Lebensmittel gemieden werden müssen oder deren Qualität und Menge variieren. Wer also therapeutisch relevante Dosen zuführen möchte, greift besser auf den Extrakt zurück. 

 

 

ANWENDUNGSOPTIONEN NACH AKTUELLER KLINISCHER STUDIENLAGE

Kognition 

Die randomisierte SmartAge-Studie zeigte, dass eine dreimonatige Gabe von 1,2 mg Spermidin pro Tag bei älteren Personen mit subjektiver kognitiver Beeinträchtigung zu Verbesserungen der Gedächtnisleistung führt (2,3).  

 

Kardiovaskuläre Effekte  

Eine prominente epidemiologische Studie von Eisenberg, T. et al. dokumentierte eine inverse Korrelation zwischen der Spermidinaufnahme über die Nahrung und der kardiovaskulären Mortalität (4). 

 

Immunmodulation 

Eine Studie der Universität Oxford belegte, dass Spermidin die Funktion von CD8+T-Zellen verbessert, v. a. durch Reaktivierung der Autophagie (5). 

 

Langlebigkeit 

Die prospektive Bruneck-Studie, die auf Daten von 829 Probanden basiert, ergab einen signifikanten Zusammenhang zwischen erhöhter Spermidinaufnahme und reduzierter Gesamtmortalität. Personen mit täglicher Zufuhr von mindestens 80 μmol Spermidin wiesen ein signifikant geringeres Sterberisiko über einen Beobachtungszeitraum von 20 Jahren auf, verglichen mit jenen, deren Zufuhr unter 60 μmol pro Tag lag. Der Überlebensvorteil betrug im Median etwa 5 Jahre. Die Leitung der Studie erfolgte unter Stefan Kiechl und Johann Willeit an der Medizinischen Universität Innsbruck im Rahmen des VASCage-Konsortiums (1,6). 

 

 

Synaptische Plastizität 

Spermidin übernimmt zentrale Aufgaben in der Zellregulation und der neuronalen Funktion. Neue Untersuchungen zeigen, dass Spermidin die synaptische Plastizität durch Aktivierung autophagischer Prozesse und Unterstützung der mitochondrialen Integrität fördert. Dabei kommt es zur Hochregulation neurotropher Faktoren wie BDNF und zur Verstärkung der Langzeitpotenzierung (LTP). Diese Mechanismen sind entscheidend für Lernprozesse und Gedächtnisbildung (1,3). 

 

Neuroprotektion 

Bei neurodegenerativen Erkrankungen (u. a. Morbus Alzheimer, Morbus Parkinson) kommt es häufig zum gestörten Abbau pathologischer Proteine sowie zu chronischer Inflammation und mitochondrialer Dysfunktion. Spermidin fördert über die Induktion der Autophagie die zelluläre „Self-Cleaning“- Funktion und unterstützt die Beseitigung neurotoxischer Aggregate wie β-Amyloid oder α-Synuclein. Gleichzeitig wirkt es antioxidativ und zellschützend. Erste kontrollierte Studien deuten auf eine Verbesserung kognitiver Parameter bei älteren Menschen mit beginnender Demenz hin (2,7). 

 

Erschöpfungssyndrome 

Postinfektiöse Syndrome sind durch anhaltende Entzündung, Dysregulation des Immunsystems und eine eingeschränkte mitochondriale Leistungsfähigkeit charakterisiert. Spermidin könnte hier therapeutisch wirksam sein, da es die mitochondriale Funktion stabilisiert, die Autophagie fördert und proinflammatorische Zytokin-Antworten (z. B. IL-6, TNF-α, IL-1β) moduliert. Diese Eigenschaften machen Spermidin zu einem potenziellen Kandidaten in der unterstützenden Therapie von Fatigue-Zuständen (8). 

 

Entzündungshemmung und immunologische Effekte 

Zahlreiche Studien belegen die entzündungsmodulierenden Effekte von Spermidin. Die Hemmung von zentralen inflammatorischen Signalwegen, v. a. der NF-κB-Pathway, sowie die Reduktion proinflammatorischer Zytokine führen zur signifikanten Entzündungsreduktion (4,9). 

 

Zusätzlich beeinflusst Spermidin die Darmmikrobiota positiv, was sich wiederum auf die systemische Immunhomöostase auswirkt. Diese Wirkungen sind besonders im Kontext des Inflammagings, aber auch bei chronisch-entzündlichen Erkrankungen klinisch relevant. 

 

SICHERHEIT UND VERTRÄGLICHKEIT 

In bisherigen Humanstudien wurde Spermidin gut vertragen. Nebenwirkungen sind selten und betreffen v. a. den gastrointestinalen Bereich. Es bestehen jedoch Unsicherheiten hinsichtlich hochdosierter Langzeitanwendungen. Bei bestimmten Erkrankungen (u. a. Krebs, Autoimmunleiden oder schweren Stoffwechselstörungen) sollten Patienten vor einer Supplementierung Rücksprache mit einem Arzt halten. Während Schwangerschaft und Stillzeit sollte aufgrund der noch unzureichenden Datenlage auf Spermidin-Präparate verzichtet werden. 

 

 

INTRAVENÖSE ANWENDUNG

Die intravenöse Verabreichung von Spermidin zielt auf eine Umgehung des gastrointestinalen Systems ab, was zu einer schnelleren und vollständigen Bioverfügbarkeit führen soll. Diese Form der Applikation kommt derzeit v. a. im Bereich privatmedizinischer Infusionstherapien zur Anwendung. 

 

Potenzielle Vorteile 

  • Direkte Plasmakonzentration ohne First-Pass-Effekt
  • Kombination mit anderen regenerativen Substanzen
  • Flexible Dosierungsmöglichkeiten im medizinischen Setting

 

Forschungsstand und Evidenz 

Derzeit existieren keine publizierten, placebokontrollierten Studien zur intravenösen Verabreichung von Spermidin am Menschen. Infusionsbehandlungen sollten in der Arzt- und Heilpraktiker-Praxis unter Berücksichtigung der haftungsrelevanten Risiken als „Off Label“-Anwendung beschrieben und mit Sorgfalt dokumentiert werden. 

 

Rechtlicher Rahmen 

Infusionen mit Spermidin fallen unter Heilkunde und dürfen ausschließlich in der Arzt- oder Heilpraktiker-Praxis verabreicht werden. Ein arzneimittelrechtlicher Zulassungsstatus liegt derzeit nicht vor. Intensive Fortbildung auf dem Gebiet von Injektions- und Infusionsbehandlungen, eine umfassende Aufklärung der Patienten sowie interdisziplinärer Erfahrungsaustausch sind trotzdem wichtig und notwendig. 

 

 

FAZIT

Spermidin stellt einen interessanten Ansatz in der gesundheitsorientierten Präventivmedizin dar. Die orale Supplementierung ist durch erste klinische Daten gut untermauert und weist ein günstiges Sicherheitsprofil auf. Insbesondere Effekte auf die kognitive Funktion und die Herzgesundheit erscheinen vielversprechend. Die intravenöse Anwendung ist dagegen als experimentell einzustufen und sollte kritisch evaluiert werden, bis robuste Daten vorliegen. Der langfristige Nutzen von Spermidin, v. a. hinsichtlich gesunder Alterung und Langlebigkeit, bleibt eine Frage zukünftiger Forschung. Die aktuelle Datenlage spricht ganz klar für eine Weiterverfolgung dieses zukunftsweisenden Ansatzes. 

 

 

LITERATUR 

(1) Madeo, F et al.: Spermidine in health and disease. Science. 2018 Jan 26;359(6374):eaan2788. 

 

(2) Wirth, M et al.: Effects of spermidine supplementation on cognition and biomarkers in older adults with subjective cognitive decline (SmartAge) – study protocol for a randomized controlled trial. Alzheimers Res Ther. 2019 May 1;11(1):36. 

 

(3) Wirth, M et al.: Effects of spermidine on memory performance in older adults at risk for dementia – A randomized trial. JAMA Netw Open. 2021;4(3):e2038355. 

 

(4) Eisenberg, T et al.: Cardioprotection and lifespan extension by the natural polyamine spermidine. Nat Med. 2016;22(12):1428-1438. 

 

(5) Puleston, DJ et al.: Autophagy is a critical regulator of memory CD8+ T cell formation. eLife. 2014;3:e03706. 

 

(6) Eisenberg, T et al.: Induction of autophagy by spermidine promotes longevity. Nat Cell Biol. 2009;11(11): 1305-1314. 

 

(7) Schwarz, C et al.: Spermidine intake is associated with increased survival and reduced mitochondrial dysfunction in models of neurodegeneration. Cell Death Dis. 2020;11(3). 

 

(8) Hofer, SJ et al.: Spermidine modulates immune cell function and improves markers of healthy aging in older adults – a randomized controlled trial. Int J Mol Sci. 2022;23(24):15776. 

 

(9) Zhang, H et al.: Spermidine alleviates LPS-induced acute lung injury in mice by inhibiting inflammation and oxidative stress. J Transl Med. 2020;18:97. 

Peter Weber

Heilpraktiker in eigener Praxis mit Schwerpunkten Laserbehandlung, Neuraltherapie, Galvanotherapie, Onkologie sowie Immunologie

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