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Psychotherapie
Lesezeit: 5 Minuten

Fallstudie aus der psychologischen Praxis: Familientherapie der Bulimie

Patientin: 22-jährige Frau

Anamnese

J. wird zum ersten Termin von ihrer Mutter begleitet, einer eleganten, sehr jugendlichen Dame. J. selbst ist ebenso attraktiv, wirkt quirlig bis überaktiv. J. berichtet von einer seit Längerem anhaltenden bulimischen Symptomatik, bei der sie sich mehrfach pro Woche übergeben muss; manchmal auch, nachdem sie nur etwas Obst gegessen habe. Sie wiegt 49 kg bei einer Größe von 1,58 m. Sie esse nicht viel und auch unregelmäßig, nach eigenen Angaben nur gelegentlich rauschhaft. J. merke, dass sich das Erbrechen einerseits verselbstständigt habe, auf der anderen Seite spüre sie, wie sie aufkommende Spannungen mit den Eltern so loswerde. Irgendwie scheine das Erbrechen mit ihren Konflikten mit den Eltern zusammenzuhängen, meint sie, und weist dann der Mutter recht direkt die Schuld zu.

Psychodynamik

Nachdem ich mit J. in zwei Sitzungen allein gesprochen habe, schlage ich vor, statt einer Einzeltherapie die Eltern komplett hinzuzuziehen, da J. dies für sinnvoll hält und nicht so sehr eine psychodynamische Komponente im Vordergrund der Störung zu stehen scheint. Auffällig ist schon, dass J. kein gutes Haar an ihrer Mutter lässt und ihren Vater – und alle anderen Männer – sehr idealisiert. Noch dazu tritt sie sehr sexy auf, sodass die Idee, sie wolle ihre Mutter ödipal übertrumpfen und den Vater – und alle anderen Männer – für sich gewinnen, mir lange nachgeht. Andererseits können unter diesem ödipalen hysterischen Konflikt frühe strukturelle Defizite liegen, die meist nur in einer sehr langwierigen Einzeltherapie bearbeitet werden können. Die Patientin allerdings möchte rasch vorankommen – es liegt nahe, dass sie eine mehrjährige Therapie nicht durchhalten würde.

Diagnose

F 50.3 atypische Bulimia nervosa vor struktureller Beeinträchtigung mit hysterischen Anteilen

Familiendynamik

In den nachfolgenden Familiensitzungen wirken die Eltern der Tochter zunächst nur bedingt zugewandt, eher hilfesuchend, aber auch merkwürdig verschlossen und im Umgang mit J. mitunter geradezu unüberlegt. So will die Mutter J. die Miete für ihr WG-Zimmer streichen, falls sie nicht bald „mit dem Kotzen“ aufhöre. Vom „Symptom als Rettung“ (Wittenberger, 2005) kann die Mutter sich wenige Vorstellungen machen. Der Vater ist ein smarter, bedacht wirkender Geschäftsmann, der sich viel mit psychologischen Fragen beschäftigt und die Idee hat, dass die Eltern zu viel Leistungsdruck auf J. ausgeübt hätten. Das erscheint mir nicht ganz falsch.

Therapieverlauf

Wir kommen in den Familiensitzungen immer einmal auf das Thema „Kooperation“ statt Konkurrenz zurück, etwas, das der Vater mittlerweile als sinnvolles Lebensmodell erachtet, während die Mutter ihren weichen Kern unter der harten Schale weiterhin gut verbirgt. Ich habe immer wieder den Eindruck, sie möchte nicht gekränkt werden; vielleicht aufgrund der engen Vater-Tochter-Beziehung gibt sie sich besonders autonom und hart.

In der vierten von elf monatlichen Sitzungen berichtet J. davon, dass sie nicht mehr wisse, wann sie sich das erste Mal übergeben habe; sie schätze, dass es im 11. Lebensjahr war, als sie in die Pubertät kam. Sie habe gemerkt, dass sie so ihre Spannungen loswerden könne und es ihr danach „irgendwie besser“ ging. Die Mutter fragt, welche Spannungen das denn gewesen seien. J. meint: „Na, wenn man eine Frau wird!“, worauf die Mutter anerkennt, dass es ihr in jenem Alter ähnlich ging, nur dass sie sich nicht übergeben habe, sondern an den Nägeln gekaut habe. An dieser Stelle kann die Mutter mittels der Erinnerung Zugang zu ihren Emotionen finden und diese im Familiensystem kommunizieren.

Wie unterschiedlich Wahrnehmungs- und Steuerungskompetenzen bei den einzelnen Familienmitgliedern sind, zeigt sich im Verlauf weiterer Sitzungen, in denen wir schauen, wie die Familienmitglieder auf Konfliktthemen reagieren und damit umgehen. Es wird deutlich, dass alle Beteiligten hier eigene Wege gehen, um Emotionen zu kommunizieren oder loszuwerden. Ich kehre bei passender Familienstimmung gelegentlich zum Thema „Kooperation“ zurück und führe die günstigen Auswirkungen dieses Ansatzes ins Feld (Gruen, 2010). Auch die Mutter scheint dies zu überzeugen; sie gewinnt von Sitzung zu Sitzung an – vermutlich irgendwann verlorengegangener – Empathie zurück, während gleichzeitig die Symptomatik von J. immer milder und seltener wird. Sowohl der Mutter als auch J. selbst wird dabei zu Anerkennung verholfen, da deren vermutlich überhohe Ich-Ideale, die Spitzenleistungen und Perfektionismus fordern, ohne Gesichtsverlust abgedämpft werden. Die von J. unbewusst angestrebte ödipale Übertrumpfung der Mutter wird so von einem leidvollen Bemühen zu einem Mit- und Nebeneinander von Mutter und Tochter, das einige Monate später in einem gemeinsamen Wellness-Urlaub gipfelt.

Ergebnis und Prognose

Insbesondere die Steuerung von Impulsen bleibt für J. extrem mühsam, wie sie mir in zwei letzten Einzelsitzungen differenziert beschreibt. J. kann es aber im Verlauf etwas lockerer angehen, zumindest wenn sie bemerkt, dass es ihr manchmal nicht mehr möglich ist, sich zu übergeben, weil sie einen Konflikt oder eine Verstimmung erkannt und dann manchmal sogar rechtzeitig an die sie umgebenden Personen herangetragen hat. Die Essanfälle bei J. werden kontinuierlich weniger; Reduktion auf höchstens ein- bis zweimal pro Woche. Die Therapie bedeutet für J. etwas Gutes, dies meldet sie mir zurück, obwohl sie nicht gedacht hätte, dass das Aufgeben des Symptoms so langwierig und schwierig sein könnte.

Entscheidend für die Therapie war, gemeinsam Zusammenhänge zu verstehen und im Rahmen einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung Affekte, Objekte und Beziehungen differenzieren zu lernen, um soweit wie möglich im Vorfeld symptomärmere Lösungswege gehen zu können.

Götz Egloff, M. A.
Götz Egloff, M. A.
ehem. Forschungstherapeut Bulimie, Uni Heidelberg, Psychoanalytiker, Psychotherapie HPG – Systemtherapie SG
g.egloff.medpsych.ma@email.de

Literaturhinweise:

  • Egloff, G. (2009): Die Tücken der bulimischen Beziehung. Therapiewunsch einer 23-jährigen Patientin mit Bulimia nervosa. In: Freie Psychotherapie, 9, 4, 18-19.
  • Gruen, A. (2010): Empathie und Kooperation als Determinanten der menschlichen Evolution. In: Nielsen, B., Kurth, W., Reiss, H.J., Egloff, G. (Hg.) Psychohistorie der Krise.
  • Mattes, Heidelberg. Wittenberger, A. (2005): Zur Psychodynamik einer jugendlichen Bulimie-Patientin. In: Praxis Kinderpsychologie Kinderpsychiatrie, 54, 5, 337-353.

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