aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 1/2016
„Befundung“ versus „Diagnose“ in der Tierphysiotherapie
Zu diesem Thema – Human-Physiotherapie betreffend – las ich im März vergangenen Jahres in der Rubrik „Wissenschaftlicher Diskurs“ der Physioscience. Meine Erfahrung in der Praxis lehrte mich zwischenzeitlich, dass derselbe Ansatz, den die Autoren dort postulierten, dringend auch auf die Tierphysiotherapie übertragen werden sollte.
„Die Frage, ob Physiotherapeuten befunden oder diagnostizieren, verursacht in Deutschland unter den in den Therapieprozess involvierten Personengruppen unterschiedliche Reaktionen. Die Therapeuten selbst sind häufig verunsichert, wurde vielen von ihnen doch lange genug gelehrt, dass die Diagnose Sache des Arztes sei. Dieser Meinung sind überwiegend auch die Ärzte: Physiotherapeuten hätten sich auf die Erstellung eines Befundes zu beschränken.“ Soweit Zitat der Autoren zur Bestandsaufnahme im Bereich der Human-Physiotherapie.
Das war in meiner Ausbildung zur Tierphysiotherapeutin nicht anders. Es war gar die Rede vom Verbot, eine Diagnose zu stellen. In Anlehnung an das notwendig gewordene und bereits sich etablierende Umdenken im humanen Bereich möchte ich im Folgenden erläutern, woher diese Uneinigkeit und Verunsicherung stammt, dass diese Unsicherheit bezüglich der Diagnosestellung unbegründet ist, wie sich eine tierphysiotherapeutische von einer tierärztlichen Diagnose unterscheiden sollte und warum es somit angezeigt ist, auch die tierphysiotherapeutische Diagnose als solche zu benennen und zu systematisieren.
„Diagnose“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „erkennen, beurteilen“. „Befund“ stammt aus dem Mittelhochdeutschen und seine Bedeutung wird dort ähnlich der Diagnose mit „beurteilen“ beschrieben. Im Englischen entspricht „Befund“ den Begriffen „findings“ oder „data“. In der Praxis entsprechen die Befunde eher den Ergebnissen einzelner Tests oder Untersuchungsgänge. Die Gesamtheit der Befunde sollte die Basis für die Formulierung einer tierphysiotherapeutische Diagnose darstellen. Die bewertende Zusammenfassung von einzelnen Befunden kennen wir teilweise bereits durch die Formulierung von Klassifikationssystemen oder der Einteilung in Grade. Ersetzt die Diagnose nun den Befund?
Im Gesundheitswesen sowie in der Tierheilkunde scheint der Diagnosebegriff durch die ärztliche Diagnose belegt. Seit auch im humanen Bereich immer mehr Patienten Erstkonsultation beim Physiotherapeuten in Anspruch nehmen (beim sektoralen Heilpraktiker für Physiotherapie) und somit ohne ärztliche Erstdiagnose vorstellig werden, obliegt dort die Erstellung einer Diagnose als Behandlungsgrundlage den Physiotherapeuten. Diese Situation ist in der Tierheilkunde aber ohnehin eher häufig.
Natürlich kann eine vom Tierphysiotherapeuten gestellte Diagnose auch nur unter den Bedingungen der Physiotherapie und deren üblicher Praxisausstattung getroffen werden. Die zugrunde liegenden Untersuchungen und Tests werden somit im Bereich der Kompetenzen und Fähigkeiten sowie der vorhandenen Messtechnik der Physiotherapeuten liegen. Des Weiteren soll die Diagnose einen Hinweis auf die Einschränkungen des Tier-Patienten liefern. Dazu werden funktionssowie aktivitätsbezogene Elemente benötigt. So kann die tierphysiotherapeutische Diagnose eine klare Richtungsangabe enthalten. Ein Beispiel hierfür wäre „Einschränkung des Articulatio coxae in Extension rechts mit Anlaufschmerz im Schritt“. Jeder Physiotherapeut wird daraus erlesen können, dass die primäre Problematik in Extension auftretende Schmerzen im rechten Hüftgelenk sind. Die Schmerzeinstufung ergibt sich aus dem „Anlaufschmerz“. Der Aktivitätsbezug ist durch den Schritt gekennzeichnet. Beim Schritt findet Extension in der Hüfte während der terminalen Standphase statt. Mögliche Interventionen werden sich also auf die Verbesserung der Extension im rechten Hüftgelenk und auf die terminale Stützbeinphase rechts konzentrieren. Die entsprechende tierärztliche Diagnose (z.B. primäre Hüftarthrose rechts) kann diese Informationen nicht bieten. Es könnte die Flexion mit oder ohne Schmerzen eingeschränkt, stark oder schwach aktivitätseinschränkend oder der Tier-Patient gar völlig beschwerdefrei sein. Die so gestaltete physiotherapeutische Diagnose kann die Kommunikation erleichtern und macht sie durch den Fokus auf Aspekte der Funktion verständlicher.
Die Verständlichkeit der physiotherapeutischen Diagnose erleichtert auch die interdisziplinäre Kommunikation zwischen verschiedenen therapeutischen Berufsgruppen, z.B. mit Osteopathen oder Tierheilpraktikern, ebenso aber auch zwischen Tierphysiotherapeuten und Tierärzten, die bei dieser Art der Diagnose die Untersuchungsergebnisse der Therapeuten erkennen können. So stellt die physiotherapeutische Diagnose dann eine Ergänzung zur ärztlichen Diagnose dar und dient nicht dazu, die ärztliche Diagnose zu kontrastieren, geschweige denn zu korrigieren.
Neben der Problembeschreibung soll die physiotherapeutische Diagnose eine Therapieintervention implizieren. Unabhängig von der Auswahl der Behandlungstechnik muss sich diese klar auf die in der Diagnose benannten Einschränkungen in Bezug auf Funktion, Aktivität und Grad beziehen. Diese Beschreibungen sollen sich somit einer konzeptübergreifenden Therapeutensprache bedienen und natürlich auch gegenüber den Patienten-Haltern verständlich formuliert sein. Schließlich soll die physiotherapeutische Diagnose eine Vorausschau auf die Prognose bieten.
Es wäre daher wünschenswert, dass das ursprünglich für den humanen Bereich hierzu geforderte und eingeführte Baukastensystem auch zur Formulierung einer tierphysiotherapeutischen Diagnose Anwendung findet. In meinen Kursen wird dies bereits nach diesem Duktus vermittelt.
Fallbeispiel
Intermittierende belastungsabhängige mittelgradige Hangbein-Lahmheit linker Vorderlauf, verkürzte Schrittlänge durch eingeschränkte Extension und Flexion des Schultergelenks.
Bausteine: Ort – Art – Richtung – Qualität – Grad
Der Baustein Art ist hier durch den Begriff „Hangbein-Lahmheit“ beschrieben und die Bezeichnungen „intermittierend und mittelgradig“ ordnet dem Problem einen Grad zu. Die Qualität findet sich in der Bezeichnung „belastungsabhängig“, Ort ist der „linke Vorderlauf“, die Richtung wird beschrieben durch die Bewegungseinschränkung in beide Richtungen – Extension und Flexion – und die dadurch bedingte Schrittverkürzung.
Bei der Kommunikation mit dem Tierarzt erklärt sich ihm so dezidiert, warum und von welcher Pathologie der Ursprungssehne des M. biceps brachii ausgegangen werden kann und welche weiterführende bildgebende Diagnostik eingesetzt werden könnte bzw. dass der Einsatz eines Antiphlogistikums angezeigt ist.
Gerade auch in der Lehre, wenn die Kursteilnehmer die besondere und dezidierte Aussagekraft der Ergebnisse eines physiotherapeutischen Untersuchungsganges und dessen Gliederung erlernen sollen, ist es hilfreich, ein solches Baukastensystem als Abgleich-Referenz zur Verfügung zu haben.
Aglaia Schiebe
Dipl.-Biologin, Tierphysiotherapeutin mit Weiterbildung TCVM
Für die Paracelsus Schulen hat Aglaia Schiebe die „Große Fachausbildung Tierphysiotherapie und TCVM“ konzipiert. Nach dem neuen und umfassenden Curriculum unterrichtet sie mit ihrem Dozententeam an mehreren Paracelsus Schulen in Deutschland.
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