aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 1/2016
Tibetische Heilkunde
Besondere Rezepturen und ihre Anwendungen
In der Traditionellen Tibetischen Medizin werden alle Bereiche des Lebens (Mineralien, Pflanzen, Substanzen menschlicher oder tierischer Herkunft) in die Betrachtung einbezogen. In den klassischen Schriften werden tausende Substanzen verschiedenster Herkunft beschrieben – manche rein zur wissenschaftlichen Klassifizierung. Im heutigen Gebrauch werden vor allem Pflanzen und Mineralien verwendet. Tibetische Rezepturen bestehen immer aus verschiedenen Komponenten, die zu einer synergistisch-komplexen Heilwirkung ohne unerwünschte Nebenwirkungen führen.
Die Anzahl der enthaltenen Substanzen kann von mindestens drei bis zu einigen Dutzend variieren. In einer Rezeptur werden einerseits medizinische Substanzen angewendet, die der primären Erkrankung entgegenwirken (z.B. durch direkte Wirkung auf das entsprechende Organ bzw. die entsprechende körperliche Energie), und gleichzeitig mischt man Substanzen bei, die diese Wirkung im Gesamtsystem (bzw. in korrelierenden Organen) flankierend unterstützen, um starke Wirkungen (z.B. durch die stattfindende Entgiftung) wieder auszugleichen.
Die Pharmakopöe der Traditionellen Tibetischen Medizin ist extrem komplex. Es werden 6 Geschmacksrichtungen, 3 Nach-Verdauungs-Geschmacksrichtungen, 8 Primärqualitäten und 17 Sekundärqualitäten beschrieben, in die jede Substanz eingeteilt werden kann. Zudem wird nach astrologischen Gesichtspunkten, nach dem Standort, nach den Jahreszeiten sowie nach dem Prinzip der Übereinstimmung (nach Form und Farbe) unterschieden. Professor Dr. York vom Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt hierzu: „Die Substanzen sind so ausbalanciert, dass jede Nebenwirkung aufgefangen wird – ein hochkomplexes Netzwerk feinster Wirkstoffe, die zum Teil mit westlichen Untersuchungsmethoden noch gar nicht nachgewiesen werden können.“
Dieser multifaktorielle Ansatz naturheilkundlicher Komplexpräparate wird in der westlichen, orthodoxen Schulmedizin leider als „nicht“ wissenschaftlich beweisbar abgetan, und so gehen dem naturheilkundlichen Behandler immer mehr traditionelle Vielstoff-Präparate in der Praxis verloren. Fundamentales und über Jahrhunderte gewachsenes und angewendetes Wissen wird hier in kürzester Zeit einem falsch verstandenen Wissenschaftlichkeits-Dogma geopfert. Es gibt aber auch positive Entwicklungen im Sinne der naturheilkundlichen Behandler. So werden in der Schweiz auf Grundlage der allgemein geltenden „Goodmanufacturing Practice (GMP)“, die eine strenge behördliche Überwachung vorsieht, Rezepturen auf tibetischer Grundlage hergestellt. Diese Rezepturen sind in der Schweiz sowie im umgebenden Ausland (sowie in Internet- Apotheken) frei erhältlich. Zudem wurden hier auch Untersuchungen nach westlichen Standards über die Wirksamkeit tibetischer Vielstoffgemische durchgeführt (Weiteres auf www.padma.ch).
Es gibt hunderte Rezepturen in der Tibetischen Medizin. Heutzutage stellt das pharmazeutische Institut des Men-Tsee-Khang in Dharamsala etwa 160 Rezepturen her (siehe www. men-tsee-khang.org). Diese Mittel sind aber für naturheilkundliche Behandler in Europa nicht verwendbar. Bei den in der Schweiz produzierten handelt es sich um klassische Grundrezepturen, die teilweise modifiziert wurden. Die Praxis, Substanzen innerhalb einer Rezeptur adäquat auszutauschen, ist auch bei tibetischen Ärzten gängig. Zudem können einige Grundmischungen in Zusammenarbeit mit einer versierten Apotheke auch direkt verordnet werden, was allerdings meist schwieriger und nicht viel günstiger ist.
Im Folgenden wird ein genereller Überblick über einige der im Westen verfügbaren tibetischen Heilmittel gegeben. Die Tibetische Medizin kann, sowohl in der generellen Konstitutionstherapie als auch in der Arzneitherapie und den äußeren Therapien, eine große Bereicherung jedes naturheilkundlich arbeitenden Therapeuten sein.
Leber-Regulans „3-Früchte-Abkochung“
Diese relativ einfache Rezeptur besteht aus einer Kombination der 3 Myrobalanen- Früchte Arura (Myrobalan chebula), Barura (Myrobalan bellerica) und Kjurura (Myrobalan emblica). Man verwendet die äußeren, fleischigen, getrockneten Anteile der Früchte. Die 3-Früchte-Abkochung separiert „gereinigte“ und „ungereinigte“ Anteile innerhalb des Blutes, wirkt also blutreinigend. Die Mischung wird traditionell für einige Tage verordnet, bevor ein tibetischer Aderlass durchgeführt wird und kann durchaus auch einige Tage vor einer Blutegeltherapie gegeben werden. Die Rezeptur sorgt für Entlastung und Regeneration der Leber sowie für Regeneration und Stärkung im Allgemeinen. Hierdurch wird auch das Immunsystem unterstützt. Einsatz bei Hautproblemen sowie bei allen unbestimmten, umherwandernden Beschwerden, die mit Hitze und/oder Schmerzen einhergehen, ist ebenfalls möglich. Generell kann die Leber-Regulans bei Ungleichgewichten aller drei körperlichen Energien (Lung, Tripa, Peken) unterstützend angewendet werden.
Arura gilt als eines der größten Heilmittel der tibetischen Medizin. Arura ist nährend, klärt die Lymphe, verlängert das Leben und entfacht die Verdauungshitze. Der Medizinbuddha wird mit einer Myrobalanenblüte („Aru namgyal“ – großer, siegreicher Myrobalanenbaum) in seiner rechten Handfläche dargestellt. Die Geschmacksrichtungen sind süß, sauer, bitter, scharf und zusammenziehend. Arura kann bei Ungleichgewichten aller drei körperlichen Energien eingesetzt werden.
Barura wird insbesondere bei Störungen von Tripa (körperliche Energie Galle) und Peken (körperliche Energie Schleim) angewendet, sekundär auch bei Störungen der körperlichen Energie Lung (Wind). Barura dient zudem der Klärung der Lymphe.
Kjurura (Myrobalan emblica, Phyllantus emblica) wirkt förderlich bei einem Übermaß von Tripa und Peken, sekundär auch bei einem Übermaß von Lung. Kjurura zeigt gute Wirkung bei von Toxinen überlastetem Blut, bei übermäßigem Harnlassen, bei allen Entzündungen sowie bei Haarausfall. Einer der großen Vorteile von Kjurura besteht darin, dass Hitze beseitigt wird, ohne gleichzeitig die körperliche Energie Lung zu stark ansteigen zu lassen.
Das Mischungsverhältnis bei einer Einzeldosis beträgt Arura 800 mg, Barura 400 mg, Kjurura 400 mg. Als Tagesdosis werden in der tibetischen Literatur ca. 5 g angegeben. Man kann diese Rezeptur auch als Abkochung anwenden. Hierzu kocht man ca. 3-5 g der Mischung mit 1/4 Liter Wasser sanft auf ein Drittel herunter. Die Rezeptur kann, je nachdem, welche Wirkung man erzielen möchte, zu verschiedenen Tageszeiten angewendet werden. Generell zur Reinigung des Blutes oder Harmonisierung der Leber mittags und abends etwa eine halbe Stunde nach dem Essen mit warmem Wasser; zur Separierung des Blutes vor einem Aderlass etwa drei Tage vorher morgens (ca. eine halbe Stunde vor dem Essen) sowie mittags und abends (ca. eine halbe Stunde nach dem Essen) jeweils eine Einzeldosis mit warmem Wasser.
Magenmittel „Kalzit 6“ Mit der Rezeptur „Kalzit 6“ werden in der Tibetischen Medizin traditionellerweise Sodbrennen, saures Aufstoßen, Übersäuerung des Magens, „brennendes Gefühl“ in der Magengegend, Magengeschwüre und übermäßiger Schleim im Magen behandelt. Generell können alle Verdauungsstörungen, die ihre Hauptursache in einer Kälte des Magens haben, hiermit behandelt werden. Die Hauptindikationen beziehen sich auf chronischen, kalten Schleim im Magen, der zu den oben genannten Symptomen führt. Sodbrennen kann sowohl durch Hitze (körperliche Energie Tripa erhöht) als auch durch Kälte des Magens (körperliche Energie Peken erhöht) hervorgerufen werden. Bei einer ungenügenden Verdauungshitze im Magen versucht dieser, durch die vermehrte Absonderung von Säuren, trotzdem seine Verdauungsleistung zu erbringen. Wird dieses Bemühen durch Säureblocker konterkariert – anstatt über wärmende und unterstützende Substanzen zu heilen – so stellt der Magen seine Leistung irgendwann völlig ein. Die Rezeptur „Kalzit 6“ sorgt bei Sodbrennen direkt für Erleichterung, unterstützt und tonisiert die Organe Magen und Milz zusätzlich.
Die Inhaltsstoffe von „Kalzit 6“ sind Kalzit (Kalzium carbonicum), Kardamomsamen (Elletaria cardamomum), Alantwurzel (Inula helenium), Blüten der Färberdistel (Carthamus tinctorius), Granatapfelsamen (Punica granatum) und Langer Pfeffer (Piper longum). Man findet in der Pharmacopoea der Tibetischen Medizin anstatt des Alants auch die Alpenscharte (Saussurea lappa).
Das Mineral Kalzit wird in der Tibetischen Medizin aus unterschiedlichster Herkunft verwendet. Je nachdem, aus welchen Quellen es stammt, wird es in unterschiedlicher Weise präpariert und teilweise entgiftet. Häufig wird auf kalziniertes (veraschtes) Kalzit zurückgegriffen. In der Schweizer Rezeptur wird Kalziumcarbonat verwendet. Der Geschmack ist salzig, die Wirkkraft kühlend. Traditionell wird Kalziumkarbonat bei Erkrankungen der Knochen, Bänder und Sehnen, Magenhitze, einer Umkehrung von Lung im oberen Drittel des Körpers (einer nach oben weisenden Tendenz der Wind-Energie statt üblicherweise vorherrschenden Tendenz nach unten) sowie Verjüngungs-Arzneien beigemischt.
Kardamomsamen werden getrocknet und zerrieben angewendet. Bei den Kardamomen wird zwischen dem sog. „Ceylon-Kardamom“ (Amomum subulatum; größere Fruchtkapseln) und dem „Malabar-Kardamom“ (Elletaria cardamomum – kleinere Fruchtkapseln; dieser wird meist in den westlichen Kräuterhäusern verkauft) unterschieden. Beide Kardamom- Sorten weisen bitteren Geschmack auf, der kleinere Kardamom zusätzlich noch etwas scharfen. Sie haben heiße Wirkqualitäten, wobei Elletaria cardamomum moderater in der Wirkkraft ist. Ein wesentlicher Unterschied der beiden Kardamomen besteht in der Wirkung nach der Verdauung. Während der größere Kardamom nach der Verdauung kühlt, bleibt der kleinere Kardamom auch nach der Verdauung warm in seiner Wirkkraft. Der „Ceylon-Kardamom“ gilt als außerordentliche Arznei für die Milz und zählt zur Klasse der „6 guten Substanzen“. Er ist generell förderlich bei allen kalten Erkrankungen. Er ist auch bei Schwellungen gut einsetzbar. Gleiches gilt für den „Malabar-Kardamom“, jedoch gilt dieser als besonders förderlich für Kälte der Nieren und bei einer Erhöhung der körperlichen Energie Lung (Wind).
Der Alant (Inula helenium) ist süß, bitter und scharf im Geschmack sowie neutral bis warm in der Wirkkraft. Verwendet wird die getrocknete, zerriebene Wurzel. Die Pflanze dreht eine pathogen nach oben weisende Tendenz von Lung (Wind) im oberen Körperdrittel nach unten um, wirkt entzündungswidrig und wird bei ansteckendem Fieber (z.B. Grippe), das noch nicht ganz ausgereift ist, sowie bei erhöhter Körperenergie Peken (Schleim) angewendet.
Von der Färberdistel (Carthamus tinctorius) werden die getrockneten Blüten verwendet. Der Geschmack ist süß, die Wirkkraft kühlend. Die Blüten werden bei einem Übermaß von „übergiftetem“ Blut, bei Erkrankungen der Leber und der Blutgefäße sowie bei Blutungen verwendet.
Die getrockneten Samen des Granatapfels (Punica granatum) sind sauer, süß und zusammenziehend im Geschmack sowie warm und ölig in der Wirkkraft. Granatapfelsamen gelten als Tonikum für Nieren und Magen. Sie werden als „unübertreffliche Arznei“ bei Appetitlosigkeit, Kälte des Magens und zur Wiederherstellung der Verdauungshitze betrachtet und bei einem Übermaß der körperlichen Energie Peken (Schleim) sowie leicht erhöhtem Lung (Wind) insbesondere der Lungen angewendet. Auch Mikroorganismen und Parasiten im Magen-Darm-Trakt, die mit Kälte einhergehen, können hiermit behandelt werden.
Langer Pfeffer (Piper longum) ist scharf und süß im Geschmack sowie ölig in der Wirkkraft. Der Geschmack nach der Verdauung ist ebenfalls scharf und süß. Die getrockneten, zerriebenen Früchte des Langen Pfeffers können auch als Küchengewürz statt Schwarzem Pfeffer (Piper nigrum) angewendet werden. Der wesentliche Unterschied zu Piper nigrum besteht darin, dass der Lange Pfeffer keine raue Wirkkraft aufweist. Alle kalten Erkrankungen, ein Übermaß der körperlichen Energien Lung (Wind) und/oder Peken (Schleim) oder eine Kombination hiervon können damit behandelt werden. Er ist verdauungsfördernd, appetitanregend und gilt auch bei fadenziehendem Schleim in den Lungen (Mucus) als förderliche Arznei.
Das Mischungsverhältnis der Einzeldosis beträgt: Kalziumkarbonat 110 mg, Alantwurzel 50 mg, Kardamomsamen 50 mg, Färberdistelblüten 50 mg, Granatapfelsamen 50 mg, Langer Pfeffer 40 mg. Als Tagesdosis werden in der tibetischen Literatur 2-3 g angegeben. Idealerweise nimmt man die Rezeptur etwa 20-30 Minuten nach dem Essen mit lauwarmem Wasser ein. Abends kann die Mischung auch direkt vor dem Einschlafen genommen werden. Zudem ist die Rezeptur direkt beim Auftreten von Sodbrennen sehr hilfreich.
Die Tibetische Medizin bietet dem naturheilkundlich arbeitenden Behandler sowohl in der Prophylaxe als auch in der Therapie viele Möglichkeiten, sein Praxisspektrum zu erweitern. Neben der oben beschriebenen Arzneitherapie können die individuelle Optimierung der Ernährungs- und Verhaltensweisen, tibetische Massageformen wie z.B. KumNye oder auch Ausleitungsverfahren wie der Mikro-Aderlass etc. in die westliche Praxis integriert werden.
Thomas Dunkenberger
Heilpraktiker, Autor, Dozent an den Paracelsus Schulen
Literatur
- Dunkenberger, Thomas: Das tibetische Heilbuch. Eine umfassende Einführung zur Tibetischen Medizin. Windpferd-Verlag, 2002
- Dunkenberger, Thomas: Tibetische Heilmassage – energetisch wirksame Punkte der Traditionellen Tibetischen Medizin für Massage, Moxa, Aderlass und Akupunktur. Bacopa-Verlag, 2014
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