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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 3/2023

Hilfe! Mein Kind ist hochsensibel

Cover

Eine verständnisvolle und bedürfnisorientierte Begleitung

Hochsensible Menschen haben von klein auf eine starke Wahrnehmung und ein intuitives Gespür für die Außenwelt, aber auch für innere Vorgänge. Sie stoßen in ihrem Umfeld oftmals auf Unverständnis („Sei nicht so empfindlich“ oder „Zieh dir ein dickeres Fell an“). Dabei ist Hochsensibilität (auch: Hochsensitivität) eine Disposition, die durchaus auch sehr positiv zu bewerten ist. Erkennen dies Fachkräfte frühzeitig, so können sie betroffene Kinder fördern und sie darin begleiten, ihr wahres Wesen zu leben.

Temperamentsmerkmal

Die amerikanische Psychologin und Psychotherapeutin Dr. Elaine N. Aron befasst sich seit den 1990er-Jahren wissenschaftlich mit Hochsensibilität. Sie hat sich diesem Thema intensiv gewidmet, nachdem ihr im Anschluss an eine psychische Belastung selbst die Diagnose „hochsensibel“ gestellt wurde. Danach wollte sie mehr darüber wissen, und lernen, mit ihrer eigenen Hochsensibilität umzugehen. Laut Dr. Aron sind etwa 15-20 % der Bevölkerung hochsensibel. Bis heute wird kontrovers darüber diskutiert, ob der tatsächliche Anteil höher oder niedriger ausfällt.

Hochsensitivität ist keineswegs ein Phänomen unserer Zeit. Wir können sie nach Dr. Aron als spezifisches Temperament begreifen, bei dem es zu einer erhöhten Reizwahrnehmung und -verarbeitung kommt. Hochsensible Menschen (highly sensitive persons, HSP) nehmen deutlich mehr Reize aus ihrer Umgebung auf. Sie spüren ihre Umwelt intensiver und feiner. Dabei können der Seh-, Hör-, Tast- und/oder Geruchssinn besonders stark ausgeprägt sein. HSP können ausgeprägt empathisch sein sowie eine hohe Intuition bis hin zum „Siebten Sinn“ aufweisen. Teilweise reagieren sie auf eine bestimmte Art von Reizen oder Reizkombinationen extrem (akustisch, visuell, olfaktorisch, gustatorisch, taktil). So kann schon etwas lautere Musik Stress auslösen, eine bestimmte Melodie aber auch tief berühren und zu Tränen rühren.

Persönlichkeitsmerkmale

Die Persönlichkeit von HSP zeichnet sich durch verschiedene Charakteristika aus. Im Folgenden seien einige Tendenzen bei Kindern beschrieben. Das bedeutet nicht, dass all diese Punkte bei jedem Kind gleich stark ausgeprägt sein müssen.

Hochsensible Kinder

  • haben eine feine Sinneswahrnehmung
  • haben oft einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn
  • wollen nicht in Schubladen gesteckt werden
  • haben ihre eigenen Prinzipien und leben konsequent danach
  • neigen dazu, mit dem System in Widerstand zu gehen und zu rebellieren
  • fühlen sich von anderen Kindern oftmals nicht verstanden und tendieren dazu, Einzelgänger zu sein
  • können sich schwer mit Unterrichtsthemen identifizieren, die das Schulsystem lehrt
  • wissen, dass es mehr gibt als das, was sie mit den Augen sehen
  • können gegenüber einzelnen Nahrungsmitteln überempfindlich sein

Hochsensitive Kinder können für ihre Familie, Erzieher und Lehrer sowohl Segen als auch große Herausforderung sein, je nachdem, in welchem Umfeld sie aufwachsen. Wenn sie Ermutigung erfahren und Verständnis, dann werden sie lernen, ihre Gaben zu schätzen und wohlwollend in die Gemeinschaft einzubringen. Wächst ein Kind jedoch in einem Umfeld auf, in dem es angepasst sein soll und zu funktionieren hat, besteht die Tendenz zu Trotz, Wut und Rebellion. Es ist wichtig, dass hier ein Umdenken stattfindet.

Kinder als Symptomträger im Familiensystem

Wenn es in der Familie Streitigkeiten zwischen den Eltern gibt oder andere Probleme vorhanden sind, z.B. Scheidung, finanzielle Probleme oder Existenzängste, so machen Kinder durch ihre Reaktionen auf sich aufmerksam. Sie reagieren mit Symptomen. Es kann sein, dass die Kinder krank werden oder Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Sie „übernehmen“ die Probleme ihrer Eltern, um eine Lösung zu finden. Kinder mit Hochsensibilität spüren die Stimmungen anderer noch intensiver und werden damit noch rascher zum Symptomträger.

Fallstudie

Die Mutter des 10-jährigen Niklas kommt zu mir wegen der Lernschwierigkeiten ihres Sohnes und dessen übertriebener Angst vor Hunden. Im Erstgespräch lernt sie meinen Therapiehund Alvo kennen und ist von seiner liebenswürdigen Art angetan.

Anamnese

Niklas‘ Eltern sind verheiratet, sein Vater leidet an einer Krebserkrankung. Er selbst besucht eine sonderpädagogische Einrichtung. Die Hochsensibilität des Jungen zeigt sich in einer taktilen Überempfindlichkeit; schon das kleinste kratzende Kleidungsstück stört ihn immens. Außerdem weist er eine visuelle Hypersensibilität auf. Er sieht viele Dinge, die ein anderer gar nicht bemerken würde. Zugleich hindert ihn seine detailorientierte visuelle Wahrnehmung daran, einen Überblick zu gewinnen.

Therapieansatz

Alles, was die Wahrnehmung des Jungen fördert und dabei helfen kann, verschiedene Eindrücke (Nah- und Fernsinne) unter einen Hut zu bekommen, kann Niklas helfen. Genau das ist das Ziel der Sensorischen Integration. Sie ist für alle Kinder wertvoll, v.a. für hochsensible. Sie bringt die verschiedenen Reize aus den sensorischen Systemen zusammen. Sobald die Integration gelingt, fallen bestehende Auffälligkeiten und Überreizungen weitgehend weg. Dann haben die Kinder eine gute Basis, um ihre Wahrnehmungen besser zu kanalisieren und mit ihren besonderen Fähigkeiten zurechtzukommen.

Gemeinsame Arbeit

Mit Niklas mache ich von Anfang an Sensorische Integration auf dem Bauernhof. Dabei geht es darum, ihn anzuleiten, einzelne Sinne zu fördern und ein Gleichgewicht zwischen ihnen herzustellen. Dafür gehe ich u.a. mit Niklas und Alvo, meinem Therapiehund, zum Graspflücken. Niklas konzentriert sich auf das Pflücken, dabei vergisst er seine Angst vor dem Hund. Danach lasse ich ihn mein Pferd Cosimo putzen. Dabei hat er eine ganz andere sensorische Wahrnehmung als beim Graspflücken. Den Hund binde ich dabei an der Boxentür an, und Niklas schaut immer wieder neugierig zu ihm.

In der nächsten Stunde spiele ich mit dem Jungen Memory auf dem Boden und lasse Alvo von der Leine. Der Hund kommt dazu und „spielt“ mit, indem er eine Karte klaut, diese anknabbert und mit den Karten Schlittschuh fährt. Niklas lacht und entspannt sich mehr und mehr.

Auf die beschriebene Weise baue ich meine Stunden auf dem Bauernhof auf und biete Niklas immer wieder neue Möglichkeiten, seine Sinne zu erfahren. Einmal miste ich mit ihm den Pferdestall aus, wo er riechen und fühlen kann. Ein anderes Mal lasse ich ihn einen Schubkarren schieben und Heu auf der Gabel transportieren. Dies alles fördert die Sinne und das Gleichgewicht. Niklas erlebt, dass er alles richtig macht und dass er richtig ist – genau so, wie er ist. Bei allen Tätigkeiten ist Alvo dabei.

Ausblick

Seiner Mutter gebe ich von Anfang an nach jeder Stunde eine Rückmeldung. Ich teile ihr mit, welches Potenzial ich bei Niklas entdecke und fördere. Sie beginnt, ihr Kind mit neuen Augen zu sehen, seine Fähigkeiten zu erkennen und zu schätzen. Inzwischen sind 1,5 Jahre vergangen. Niklas kommt einmal im Monat zu mir. Er sagt, dass Alvo sein bester Freund sei, kuschelt mit ihm und umarmt ihn.

Mit der Mutter führe ich noch immer regelmäßig Elternberatungen. Inzwischen gewichtet sie mehrere Aspekte in ihrem Leben neu, auch hinsichtlich der Krankheit ihres Mannes. Die Lernschwierigkeiten und die Hundeangst ihres Sohnes eröffnen ihr einen neuen Weg, mit ihrem eigenen Leben umzugehen. Während Niklas‘ Mutter sich mit ihren eigenen Themen zu befassen beginnt, entspannt sich ihr Sohn spürbar. Er ist nun nicht mehr der Symptomträger im Familiensystem.

Optimale Begleitung durch Sprache

Hochsensible Kinder nehmen aufgrund ihrer feinen Antennen Nuancen deutlicher wahr als andere, dies zeigt sich auch in der Kommunikation. Sie spüren, ob jemand ehrlich ist oder nicht, und haben eine feine Wahrnehmung für die Stimmigkeit einer Botschaft. Auch Diskrepanzen zwischen Wörtern und Mimik werden sofort analysiert. Sie erspüren sogar Emotionen in der Sprache. Wir können ihnen nichts vormachen. Es ist entscheidend, ehrlich mit ihnen zu sein.

Hochsensible Kinder benötigen in ihrer Umgebung verständnisvolle und informierte Menschen, die wissen, wie ein gemeinsames und bedürfnisorientiertes Miteinander gelingen kann. So kann ein Pädagoge z.B. sagen: „Ich habe heute schlecht geschlafen. Aber jetzt bin ich für dich da.”

Alltagstaugliche Tipps

Die Kinder sind aufgrund der auf sie einströmenden Reizflut häufig überfordert. Gut ist, was sie und ihr System entlastet. Dazu gehört alles, was ihnen Halt und Struktur gibt. Die nun folgenden Anregungen gelten für den Kindergarten ebenso wie für die Schule und das Elternhaus. Es ist wichtig, dass sowohl Erzieher als auch Eltern die Bedürfnisse hochsensibler Kinder kennen und beachten. Das sollte ebenso selbstverständlich werden wie wir inzwischen auf Rechts- und Linkshänder achten.

Struktur, Ordnung und Abläufe

Hierbei geht es um ganz konkrete Dinge, wie z.B. einen Wochenplan mit Überblick für die Aufgaben und Ereignisse an allen Wochentagen. Praktische Ordnungssysteme helfen den Kindern, Struktur zu entwickeln und sie vor Reizüberflutung zu schützen. Beispiele:

Tagesstruktur Montag ist Turntag, Dienstag Waldtag, Mittwoch ist gesundes Frühstück etc.

Garderobensituation Sie stellt für diese Kinder oft eine Reizüberflutung dar. Alternative: Einzelne Kinder mit einer Mitarbeiterin zum Anziehen schicken.

Dekoration Ein Zuviel an Dekoration kann hochsensible Kinder überfordern, so genügen z.B. an Karneval Girlanden an der Tür.

Hinter Türen Spielsachen können in geschlossene Schränke gegeben werden mit einem einfarbigen Vorhang darüber.

Ankündigungen Spezielle Ereignisse sollten im Vorfeld angekündigt werden.

Reizreduktion zuhause

Kinder mit Hochsensibilität reagieren häufig empfindsam auf Elektrosmog und andere Störfelder. Eltern können nach Möglichkeit darauf achten, dass sie ihr Zuhause zu einer Wohlfühl- und Erholungsoase machen. Es lohnt sich, fachlichen Rat einzuholen, z.B. von einem Feng-Shui-Berater oder Baubiologen.

Um eine Reizüberflutung zuhause zu vermeiden, kann vieles auch selbstständig umgesetzt werden:

  • Akustische Reize minimieren (Musik beim Essen oder Lernen weglassen)
  • Weniger Aktivitäten am Wochenende und in der Freizeit planen
  • Entspannung in der Natur und mit Tieren
  • Bei den Hausaufgaben die Füße auf ein Kastanien- oder Kirschkernkissen stellen (Propriozeption als Grundlage für leichtes Lernen)
  • Reizreduktion durch Ordnung: geschlossene Schränke, nur wenige Spielsachen im Raum (visuell hochsensible Kinder profitieren von Ordnung)
  • Bewegungsmöglichkeiten einbauen (z.B. Hängematte im Zimmer)

Gute Erdung und Schulung der Körperwahrnehmung

Es ist wichtig, dass Eltern Kinder mit Hochsensibilität in der propriozeptiven Wahrnehmung stärken, und zwar mit allem, was dazugehört: Anregungen für das Gleichgewicht, Eigenwahrnehmung bei Wind und Wetter u.v.m. Dabei geht es darum, dass das Kind sich selbst spürt. Ich empfehle zuerst, die Nahsinne zu stabilisieren, z.B. Purzelbäume machen, sich in eine Hängematte, zwischen zwei Matratzen oder in ein Kastanienbad legen. Kinder spüren sich bei körperlichen Tätigkeiten deutlich besser. Eltern können ihre Kinder bei den alltäglichen Arbeiten im Haus und Garten mithelfen lassen. Das Kind kann beim Saugen und Staubabwischen helfen. Auch hier spürt es sich. Dazu kommt ein weiterer Aspekt: Das Kind fühlt sich dabei wichtig und entwickelt ein gesundes Selbstwertgefühl. Es erfährt und erlebt, was es alles kann. Mögliche schlechte Noten in der Schule haben dann nicht mehr oberste Priorität.

Achtsamkeit bei Nahrungsmitteln

Hochsensitive Kinder können die zahlreichen sensorischen Informationen noch schlecht verarbeiten. Dies ist eine Belastung für sie. Zusätzliche Störfaktoren können den Organismus überfordern. Dazu gehören Lebensmittel, die sie nicht vertragen, z.B. Milch oder Weizen. Diese und andere Nahrungsbestandteile sowie Zusatzstoffe können zu Unverträglichkeiten und Allergien führen, was sich dann in Juckreiz oder körperlicher Unruhe äußern kann. Auf eine abwechslungsreiche, vitalstoffreiche Ernährung sollte geachtet werden. Bei ihnen spielt die Gabe von Omega-3-Fettsäuren eine besonders wichtige Rolle. Etwaige Nährstoffmängel können über verschiedene Verfahren ausgetestet werden. Wenn die Ernährungssituation ausbalanciert ist, können sich die Kinder wieder auf das Wesentliche konzentrieren und kommen mit ihren verschiedenen Wahrnehmungen deutlich besser zurecht. Mit der Zeit lernen sie, mit ihrer Hochsensibilität umzugehen, dann vertragen sie auch wieder mehr Lebensmittel.

Fazit

Hochsensibilität ist eine wertvolle Gabe. Wissen Eltern, Pädagogen und Therapeuten um die Zusammenhänge, so können sie betroffene Kinder in ihrer persönlichen Entwicklung stärken. Vor allem für diese ist es wichtig, in einem sicheren und geborgenen Umfeld aufzuwachsen, sodass sie ihr volles Potenzial entfalten können. Grundsätzlich ist es aber nie zu spät, um zu lernen, wie man am besten mit seiner eigenen hohen Sensitivität zurechtkommt. Daher begleite ich in meiner Praxis nicht nur Kinder, sondern auch hochsensible Erwachsene auf dem Weg, ihr Leben zu meistern.

Karten-Tipp
Sabine Rogg
Heilsame Wörter
Eigenverlag

Sabine Rogg
Pädagogin (Erwachsenenbildung und Frühpädagogik), Psychologische Beraterin, Coach, Sprach- und Kommunikationstrainerin, Fachkraft für tiergestützte Intervention
info@sabinerogg.de

Fotos: © pictworks I adobe.stock.com

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