Ganzheitliche Begleitung bei Diabetes Typ 2
Der 45-jährige Patient kommt mit der Diagnose Diabetes mellitus Typ 2 in meine Praxis. Er möchte wissen, ob er diese Erkrankung homöopathisch begleiten und ich ihm bei der notwendigen Lebensstiländerung helfen kann.
Vorgeschichte
Der Hausarzt stellt die Diagnose aufgrund der vorherrschenden Symptomatik (u. a. ständige Müdigkeit, Leistungsminderung, vermehrtes Wasserlassen, starkes Durstgefühl). In der Blutuntersuchung fällt ein stark erhöhter HbA1c-Wert auf (10 statt < 6 bei Gesunden). Beim Diabetologen erhält der Patient eine Diabetes-Schulung. Er wird darüber aufgeklärt, wie sich seine Ernährung auf den Blutzucker auswirkt, wie er sich künftig ernähren sollte und dass er seine Blutzuckerwerte durch Bewegung verbessern kann. Außerdem wird ihm gezeigt, wie er seinen Blutzucker selbst messen kann.
Schulmedizinisch besteht die Therapie aus Ernährungsumstellung (kohlenhydratreduziert, ballaststoffreich) mit dem Ziel einer Gewichtsreduktion, regelmäßiger Bewegung, Alkohol- und Nikotinkarenz. Falls diese Maßnahmen nicht ausreichen sollten, wird meist Metformin eingesetzt mit dem Ziel, den Langzeitzuckerwert HbA1c < 6,5 zu bringen.
Anamnese
Während des ausführlichen Anamnesegesprächs gesteht der Patient, dass die Diagnose Diabetes für ihn ein Schock sei. Er bezeichne sich selbst als Genussmensch und fürchte nun, den Rest seines Lebens Medikamente nehmen und auf alles verzichten zu müssen, was ihm schmecke. Außerdem habe er seit langer Zeit keinen Sport mehr getrieben; er könne sich nicht vorstellen, wie er wieder sportlich aktiv werden könnte.
Ich versuche, mit nochmaliger Aufklärung gegenzusteuern: Diabetiker dürfen heute alles essen, solange sie ihren Blutzucker kontrollieren und gut eingestellt sind.
Der Patient wiegt 110 kg bei 185 cm und möchte sein Gewicht unter 100 kg bringen. Als sportliche Aktivität wären anfangs regelmäßiges Spazierengehen oder Walking ausreichend. Der Gedanke daran, die Ernährung umzustellen, fällt ihm schwer, da er vermutlich Stress und Kummer mit Essen kompensiert.
Homöopathie
Hier kommt der homöopathische Ansatz ins Spiel. Mir ist es wichtig, herauszufinden, was genau ihn stresst und bekümmert, wie er damit umgeht, was er dagegen tut und wie wirksam diese Kompensationswege sind.
Im Laufe des Gesprächs erfahre ich, dass der Patient, der als Maschinenbauingenieur ein Team in einer großen Firma leitet, beruflich unter starkem Erfolgsdruck steht. Er fühlt sich zerrissen zwischen den Anforderungen seiner Vorgesetzten und dem, was sein Team tatsächlich leisten kann. Auch seine Ehefrau und seinen Vater, der nebenan wohnt, empfindet er als sehr dominant und fordernd. Dieser über lange Zeit anhaltende Stress hat bereits einmal zu einem Burnout geführt. Zwar hat er sich davon während eines mehrwöchigen Aufenthalts in einer psychosomatischen Klinik erholt und ist jetzt stabiler; jedoch muss ich ihm aufzeigen, dass langanhaltender Stress den Cortisolspiegel im Körper ansteigen lässt und dadurch ein Diabetes gefördert wird.
Verlauf
Bei der Auswahl des passenden homöopathischen Mittels sehe ich den psychischen Druck,
die ständigen Forderungen und Demütigungen durch vermeintlich nicht erfüllte Anforderungen als wegweisend. Daher entscheide ich mich zunächst für Staphisagria C30 als Einmalgabe.
Nach vier Wochen sehe ich den Patienten wieder. Er wirkt deutlich positiver und hat bereits etwas Gewicht verloren. Er berichtet, dass er sich inzwischen mit der Diagnose abgefunden und seine Ernährung auf mehr Gemüse und weniger Brot und Kuchen umgestellt habe. Nach dem Abendessen mache er immer einen Spaziergang. Ich ermuntere ihn, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen.
Im weiteren Verlauf des Gesprächs zeigt sich jedoch, dass er seelisch noch immer leidet und Staphisagria noch keine entscheidende Veränderung gebracht hat. Wir sprechen jetzt über seine Kindheit, und der Patient berichtet vom Verlust seines geliebten Hundes. Er war 11 Jahre alt, als er mit seiner Familie umziehen musste – den Hund durfte er nicht mitnehmen. Als er davon berichtet, verwendet er den Kosenamen des Tieres und hat dabei Tränen in den Augen. Bisher habe ich den Patienten als sehr sachlichen, wenig emotionalen Menschen erlebt; doch jetzt entsteht bei mir der Eindruck, einen Nerv getroffen zu haben. Auch wenn dieses Erlebnis viele Jahre zurückliegt, wurde es vom Kind als traumatisch erfahren und vermutlich nie wirklich verarbeitet. Ich entscheide mich daher für eine Einmalgabe von Natrium muriaticum C200 aufgrund des alten, „eingemauerten“ Kummers.
Ausblick
Nach weiteren vier Wochen erscheint der Patient in wesentlich stabilerer psychischer Verfassung. Sein Gewicht ist weiter gesunken, mit einer kleinen Dosis Metformin und seiner veränderten Ernährung beträgt der HbA1c jetzt 5,8 – was einem Normalwert entspricht. Der Diabetes ist somit gut eingestellt.
Beruflich und privat hat er Entscheidungen getroffen und umgesetzt. So hat er in seiner Firma die Abteilung gewechselt; zwar verdient er jetzt etwas weniger, fühlt sich aber deutlich wohler und entspannter. Mit seiner Frau hat er einige klärende Gespräche geführt und sich seinem Vater gegenüber erstmals durchgesetzt. Er hat jetzt das Gefühl, sein Leben langsam in den Griff zu bekommen.
Seit unserem Ersttermin sind mittlerweile zwei Jahre vergangen. Der Patient hält sein Wunschgewicht und der Diabetes ist weiterhin gut eingestellt. Psychisch geht es ihm nach eigener Aussage gut.
Fazit
Bei einer chronischen Erkrankung wie Diabetes mellitus ist eine schulmedizinische Behandlung meist unumgänglich, wenn andere Maßnahmen, z. B. mehr Bewegung und Ernährungsumstellung, allein nicht zu einem zufriedenstellenden Ergebnis führen (hier: gute Einstellung des Blutzuckers). Unsere Hauptaufgabe als Heilpraktiker liegt in diesen Fällen in der seelischen Unterstützung und Motivation. Das passende homöopathische Mittel kann deutlich dazu beitragen, dass der Patient die Energie und Kraft findet, um die nötigen Veränderungen umzusetzen.
