Übersicht dieser Ausgabe    Alle Paracelsus Magazine

aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 6/2015

Narzissmus – Sieh mich! Und sieh mich nicht.

Cover

© lunamarina - Fotolia.comDer Narzissmus ist janusköpfig. Was bedeutet das für unseren Umgang mit „narzisstischen Persönlichkeiten“? Und was bedeutet es für den Narzissten in uns?

Aus meiner Tätigkeit als Coach und meiner therapeutischen Arbeit als Gestalttherapeutin kenne ich die narzisstischen Anteile gut, die ein jeder in sich trägt, nicht zuletzt auch ich. Sätze wie „Mir konnte noch keiner helfen!“, „Sie haben ja keine Ahnung, wie schlimm das war!“ u.ä. begegnen mir regelmäßig. Superlative, Egozentriertheit, Kritik an der Person und Qualifikation des Gegenüber, Verachtung und Ablehnung kennzeichnen den Klienten mit narzisstischen Strukturen. Narzisstische Merkmale zeigen sich in unterschiedlichster Ausprägung. Von leichten narzisstischen Zügen reicht die Skala bis zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung, welche die ICD-10, das in Deutschland wichtigste Diagnoseklassifikationssystem der Medizin, mit folgenden Kriterien beschreibt:

Der Narzisst

  • hat ein grandioses Verständnis der eigenen Wichtigkeit (übertreibt etwa seine Leistungen und Talente, erwartet, ohne entsprechende Leistungen als überlegen anerkannt zu werden)
  • ist stark eingenommen von Fantasien grenzenlosen Erfolgs, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
  • glaubt von sich, „besonders“ und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder hochgestellten Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
  • benötigt exzessive Bewunderung
  • legt ein Anspruchsdenken an den Tag, d.h., er hegt übertriebene Erwartungen auf eine besonders günstige Behandlung oder automatisches Eingehen auf die eigenen Erwartungen
  • ist in zwischenmenschlichen Beziehungen ausbeuterisch, d.h., er zieht Nutzen aus anderen, um eigene Ziele zu erreichen
  • zeigt einen Mangel an Empathie, ist nicht bereit, die Gefühle oder Bedürfnisse anderer zu erkennen, anzuerkennen oder sich gar mit ihnen zu identifizieren
  • ist häufig neidisch auf andere oder glaubt, andere seien neidisch auf ihn
  • zeigt arrogante, hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten

2015 06 Narziss2

Das DSM-V, das amerikanische Pendant für seelische Krankheiten, sortiert die narzisstische Persönlichkeitsstörung in das Cluster B: „dramatisch, emotional, launisch“. Weiter heißt es: „Personen mit dieser Cluster BPersönlichkeitsstörung haben ein extremes Verständnis davon, wie wichtig sie sind. Sie fordern und erwarten, von anderen bewundert und gelobt zu werden und können nur in beschränktem Umfang die Perspektiven anderer anerkennen.“

Doch nicht jedem Menschen mit narzisstischen Zügen ist eine narzisstische Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren. Meiner Erfahrung nach zeigt jeder Mensch in gewissen Kontexten narzisstische Verhaltensweisen und Reaktionen, wenn ihn Situationen und Begegnungen an gerade den Wunden seines Selbst berühren, an denen ihm schon früher ein liebevoller Spiegel gefehlt hat für die Erfahrung bedingungsloser Annahme. Jeder trägt einen Narzissten in sich, sage ich aus meiner therapeutischen Arbeit heraus. Und mit dem Narzissten im Klienten zu arbeiten, ist herausfordernd und lohnend zugleich. Denn wer sich seinem Narzissten stellt, der kann erkennen, wie wenig er für sein wahres Selbst geliebt wurde, sondern stattdessen nur für seine Leistung und das Ausbilden einer Ersatzpersönlichkeit zum Gefallen der Bezugspersonen, die ich „Maske“ nenne. Der kann wütend werden über Bezugspersonen, die (auch) so lieblos sein konnten. Der kann trauern darüber, dass er die bedingungslose Liebe, der er bedurfte, zu selten erfuhr. Der kann Verantwortung für sich übernehmen. Der kann beginnen, seine Maske abzulegen und sein wahres Selbst zu erkunden, sich selbst zu lieben und anzuerkennen, so wie er ist. Auch so narzisstisch. So voller Sehnsucht nach bedingungsloser Zuwendung und gleichzeitig so beschränkt auf oberflächliche Bewunderung. So unfähig Mitgefühl zu empfinden, Liebe zu geben und echte Beziehungen einzugehen.

Als Gestalttherapeutin glaube ich: Erst wer sich so annehmen kann, wie er ist, kann mehr werden als das. Wer erkunden lernt, was er fühlt und braucht, entwickelt sich wie von selbst weiter. Ein oft anstrengender, auch beängstigender Weg. Menschen mit ausgeprägten narzisstischen Eigenschaften sind selten beliebt. Und doch: Unter den bedeutendsten Menschen unserer und vergangener Zeiten finden wir viele Narzissten. Von Bewunderern umgeben, erreichen sie nicht selten Großes.

Wir brauchen nur die Magazine aufzuschlagen und finden sie gehäuft. Laut einer Studie sind Prominente in der Unterhaltungsbranche narzisstischer als andere Menschen und haben gerade deswegen bessere Karrierechancen in den Medien. Unangenehm im Umgang, aber man schmückt sich gerne mit ihnen. Nennen wir es nun Charakterschwäche oder Persönlichkeitsstörung. Von all den Medaillen mit deren zwei Seiten ist die des Narzissmus eine der begeisterndsten um abstoßendsten zugleich. Und die, die am meisten zu blenden vermag und deshalb so oft verkannt wird.

Nimm mich an und gib mich auf

Was bedeutet Narzissmus für den Betroffenen? Narzissmus isoliert und bringt große Beziehungsschwierigkeiten mit sich. Das mag paradox klingen, sind doch Narzissten oft charismatische Menschen, die andere anziehen. Die mangelnde Empathie und ihre Egozentriertheit allerdings machen sie annähernd unfähig, echte emotionale Bindungen einzugehen. Sie sind auf die Oberfläche festgelegt; Kollegen, Freunde, Partner kommen und gehen. Narzissmus verhindert das tiefste Metabedürfnis des Menschen nach Zugehörigkeit. Aus einer tiefen Verletzung dieses Bedürfnisses in der frühen Kindheit heraus hat sich der Narzisst (scheinbar) immun gemacht gegen ehrliche menschliche Zuwendung und Liebe. Er hat eine Mauer um sich errichtet, um keine weitere Verletzung mehr zuzulassen und sich nach innen selbst zu genügen. Doch ein Teil in ihm spielt da nicht mit, der hungert nach tiefer Verbundenheit mit anderen Menschen. So tut der Narzisst alles ihm Mögliche für sich und im Zweifel auch gegen andere, um großartig und bewundert zu sein, und wird daran doch nicht satt. Der Narzisst mag als Kind übrigens auch das andere Extrem erlebt haben: Überfürsorge, Überwichtigkeit, Überkontrolle. Auch dann ist er nie um seiner selbst willen geliebt worden, sondern nur für die Leistung, es seinen Bezugspersonen besonders recht gemacht zu haben. Im ständigen Fokus der Aufmerksamkeit wurde er kontrolliert, dirigiert und für enge Grenzen passfähig gemacht. Dafür erhielt er „Liebe“ im Überfluss und erwartet nun, dass dies ewig so weiterginge.

Beide Ausgangssituationen – eine emotional vernachlässigendes Umfeld und ein materiell überversorgendes Umfeld – können scheinbar nicht unterschiedlicher sein und sind doch so ähnlich: In beiden Umfeldern konnte der Heranwachsende sein wahres Selbst nicht oder nicht ungestört entwickeln. Es mangelt ihm an der Erfahrung, bedingungslos um seiner selbst willen geliebt worden zu sein, mit und für seine Bedürfnisse und Gefühle, seien sie auch noch so gegenläufig zu denen des Umfeldes. Ebenso wenig kann der Narzisst deshalb lieben. Auch nicht sich selbst. Ein Narzisst weiß, was er kann, aber nicht, wer er ist. Narzissmus steigert nur scheinbar den Selbstwert: Emotional erstarrt und erkaltet sind Narzissten enorm leistungsfähig, ehrgeizig, stark und können kämpfen. Sie sind selbstbewusst und stehen für sich ein. Sie setzen sich durch und geben nicht nach, sie fordern ihr „Recht“ und die Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Sie können andere verachten, zur Seite schieben und sich durchboxen. Narzissmus kann für einen Menschen ein hervorragender Partner auf dem Weg zum Erfolg sein, weil es den Narzissten vermeintlich nicht stört, wie viele Leichen seinen Weg pflastern.

Narzissmus stärkt – scheinbar!
Narzissten scheinen es zu verkraften, wenn in Artikeln geraten wird: „Falls Sie einen emotionalen Egoisten (gemeint ist der Narzisst) mit Paarungsabsicht treffen, gilt: Rennen Sie, so schnell Sie können!“

Hinter der Maske aber ist der Narzisst zutiefst verletzt und verletzlich. Mit dem Narzissten im Klienten zu arbeiten, ist herausfordernd, ja, und meiner Erfahrung nach lohnend.

Narzissmus schützt!
Die Stärke der unverletzlichen, großartigen Maske in einer Begegnung, auch in einer therapeutischen Begegnung, für etwas Ungewisses loszulassen, ist für Narzissten stark beängstigend. Eben diese Angst vor erneuter Vernichtung des eigenen Selbst schützt die narzisstische Struktur. Unter der Verachtung für alle anderen sitzt eine tiefe Verletzung, an der ein narzisstisch verletzter Mensch nicht berührt werden will. Deshalb kann er jeden mit seinem Hochmut und seiner Verachtung (Verachtung meine ich hier im Sinne der Grundemotionen nach Paul Ekman als Signal der Hierarchieklärung, der Abwertung des anderen zur eigenen Aufwertung) konfrontieren und abschrecken. Deshalb ist der Narzisst für sich, sein Umfeld und seinen Begleiter – gleichviel ob Berater, Coach oder Therapeut – auch so herausfordernd.

Narzissmus verdeckt!
Durch die ehrliche, emotionale Begegnung mit einem anderen mit seiner alten Verletzung konfrontiert, müsste der Narzisst all die Wut und Enttäuschung über den Mangel an Liebe spüren. Dann geriete nicht nur seine eigene Stabilität, sondern auch die seines (Herkunfts-)Systems in Gefahr. Außerdem würde er die große Sehnsucht nach wahrer Liebe spüren, und auch die schmerzt tief. Deshalb laden Narzissten – unbewusst – mit ihrer Arroganz und Egozentrik auf subtile Weise dazu ein, sie aufzugeben. So wiederholen sie ihr frühes Drama und bleiben in unangenehmen, aber vertrauten Beziehungsmustern.

Und nenn es nicht Narzissmus

Ein Beispiel aus meiner Praxis. Frau M., zunächst eine Coaching-Klientin, sucht Hilfe, weil sie es auf keiner Arbeitsstelle lange aushält. Die Vorgesetzten seien immer alle so unfair zu ihr, sie würden ihr wahres Potenzial gar nicht erkennen. Auch zwei selbstständige Tätigkeiten als Beraterin wären gescheitert, weil die Kunden sie und ihr Angebot einfach nicht richtig verstanden hätten.

Die Verachtung, die sie dabei offen zeigt, und das Betonen ihrer besonderen Fähigkeiten auch als Coach laden dazu ein, die gemeinsame Arbeit abzulehnen oder in die Konfrontation zu gehen. Schnell ist mir klar, das Coaching hier nicht angezeigt ist. Das teile ich ihr mit. Ich schildere ihr mein Bild von Veränderungsarbeit und Frau M. entscheidet sich für eine Therapie, für „den Weg in das Ungewisse“, wie sie es nennt. Die ersten Termine bestehen aus ausschweifenden Erzählungen, in denen sie sich und ihr Verhalten in den Mittelpunkt rückt. Sie möchte Bestätigung und Bewunderung. Das spiegele ich ihr zurück, woraufhin sie sofort meine Arbeitsweise mit mir diskutieren möchte – vor dem Hintergrund ihrer eigenen Weiterbildungen. Auch das spiegele ich ihr zurück – immer wieder. Eine Gratwanderung zwischen liebevollem Spiegel ihres Verhaltens und ihrer Motive und einen Machtkampf darum, wer recht hätte.

Gleichzeitig spreche ich an, wie angenehm ich andere Facetten empfinde, die ich auf der Metaebene an ihr wahrnehme. Wie mir ihre Neugier, ihre Fröhlichkeit, ihr südländisch angehauchter Charme, ihre Lust am Spiel und ihr Engagement für sich gefallen. Manches von dem blitzt nur kurz auf, so, als wolle es gesehen werden und doch wieder nicht. Dieses „Gesehenwerden“ ist ihr unangenehm, und auch das reflektieren wir. Mein Fokus liegt auf ihrem „wahren Selbst“ im Sinne ihrer Bedürfnisse und emotionalen Impulse. Dieses Selbst unterscheide ich vom Ersatzselbst im Sinne der Masken und Rollen, die sie erlernt hat. Das erkläre ich ihr. Sobald auch nur ein Fünkchen des wahren Selbst aufblitzt, hebe ich es hervor, zunächst vorsichtig, um sie nicht emotional zu überfordern oder ihr zu nahe zu treten und sie in die Flucht zu schlagen. Sehr bildhaft, mit Bodenankern, Puppen, Collagen und anderen „Experimenten“ erarbeiten wir zunächst, wie sie geworden ist, welche Rollen sie ausfüllt, welche Eigenschaften sie besonders entwickeln und welche sie unterdrücken lernen musste. Niemals spreche ich dabei mit ihr von Narzissmus. Schon der Begriff kann meines Erachtens das Bild einer unveränderbaren „Störung“ assoziieren, ein Bild, das dem Prozessgedanken und der Idee der organismischen Selbstregulierung der Gestalttherapie widerspricht. Der Idee, dass ein Mensch nicht gestört ist, sondern in bestimmten Kontexten mit einer gestörten Struktur reagiert. Und dass sich aus der liebevollen Annahme der störenden Struktur auch das Andere, scheinbar Fehlende wieder entwickeln könne. Die Stigmatisierung durch einen Krankheitsbegriff wie „narzisstische Persönlichkeitsstörung“ mag im Falle des Narzissten zudem noch als Bestätigung der Besonderheit wirken.

Ich zeige Frau M. immer wieder, dass ich bleibe – dass ich sie annehme, so wie sie ist. Und mich gleichzeitig genauso ernst nehme wie sie und wenn nötig klar und liebevoll abgrenze. Auseinandersetzungen, die Kritik an meiner Arbeit, ihre Neigung, mir die Schuld zu geben, all das konnte sie schließlich überwinden, weil unsere therapeutische Beziehung trug. Die Auseinandersetzungen reflektierten wir immer wieder. Damit bot ich ihr das an, was sie in ihrer kalten, leistungsorientierten Familie lange vermisst hatte: Bedingungslose Zugehörigkeit, sichere Grenzen und liebevolles Spiegeln. Ihre Zweifel und Selbstzweifel begleiteten sie über ein halbes Jahr. Immer wieder wollte sie kapitulieren und doch bleiben. Die Leere, die sie in sich fand, erschrak sie. Das Risiko war groß, dass sie auch diese wieder in eine narzisstische Extravaganz verwandelt hätte. Schließlich, als sie immer mehr sich selbst, ihre Gefühle, ihre eigenen Fähigkeiten, Wünsche, Bedürfnisse und Träume entdeckte, konnte sie auch das Alte, das Erlernte, die Überlebensstrategien als Ressourcen schätzen und integrieren. Ein Jahr lang beobachten, reflektieren, nachspüren, erkennen, ausprobieren, und wieder von vorn. In dieser Zeit ist sie nicht anders geworden, sondern mehr als bisher. Sie hat das Alte nicht abgeschnitten, sondern erweitert – wie von selbst hat sich Fehlendes ergänzt. Und eines hat Frau M. vielen anderen damit voraus: Sie hat ihre Narzisstin erkannt und integriert.

Die (laut ICD-10-GM und DSM-V) Persönlichkeitsstörungen entstehen nach dem interpersonellen Zirkel von Kiesler aus einer starken Einseitigkeit in der Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit. Kann die Persönlichkeit sich organismisch, selbstständig vervollständigen, so sagt die Gestalttherapie, wird der narzisstische (oder schizoide, histrionische, dependente etc.) Teil einer von vielen innerhalb einer vollständigen Persönlichkeit.

Der Coach/Therapeut als Narzisst

Wie gehen wir als Coaches und Therapeuten mit dem Narzissten in uns um? Natürlich gibt es auch hier Sonnen- und Schattenseiten. Mangelnde Empathie ist keine gute Basis für wahre Begegnung, obwohl trainierter Rapport (sozusagen als Ausdruck der eigenen Brillanz) gut möglich ist. Der übergroße Wunsch nach Bewunderung und die Überzeugung der eigenen Großartigkeit sind tolle Partner, um Bücher zu schreiben, in Interviews zu brillieren, Marktanteile zu erkämpfen und potenzielle Kunden zu begeistern. So mancher dieser Kunden mag sich dann später enttäuscht abwenden, wenn er bemerkt, dass er nicht um seiner selbst willen unterstützt wird, sondern nur, damit sein Heilungs- oder Entwicklungsweg dem anderen als Erfolg diene. Dafür findet der narzisstische Anteil im Coach oder Berater, den Guggenbühl- Craig den „Scharlatan“-Anteil nennt (Guggenbühl-Craig spricht hier generell vom Scharlatan-Helfer, unabhängig davon, welchen Persönlichkeitsanteil er gerade im Einzelnen beschreibt), kreative Wege, z.B. in allem einen Sinn zu suchen (der vor Schmerz schützt) und Ratschläge zu erteilen (die der Kompetenz des Fachmannes Ausdruck verleihen). So sehr der narzisstische Anteil beflügeln kann, er verhindert eine echte Begegnung. Und ich bin wie Carl Rogers und viele Kollegen nach ihm der Meinung, dass der empathische, authentische und wertschätzende Kontakt das eigentliche heilsame Agens in der Zusammenarbeit von Coach, Berater oder Therapeut und Klient ist.

Wer Menschen wirklich helfen will, muss sich meiner Meinung nach in der eigenen Therapie mit seinem Narzissten auseinandergesetzt, ihn erkannt und integriert haben. Sonst schadet er dem anderen mehr, als er ihn unterstützt. Ich kann mich nicht dagegen wehren, in den ICD-10-Kriterien gewisse Parallelen zu den zivilisierten Gesellschaften unserer Zeit zu erkennen. Neid, Arroganz, Hochmut und Mangel an Empathie sind für mein Empfinden das Kennzeichen der Leistungsgesellschaft und verantwortlich für Depressionen, Burnout, Angst- und Zwangsstörungen, Beziehungs- und Liebesunfähigkeit. Sind Erfolg, Macht, Brillanz und ideale Liebe nicht jene Werte unserer Zeit, die uns noch jedes Hochglanzjournal und so viele Seminartitel andienen? Geht es nicht allerorts darum, die eigene Ausstrahlung so zu trainieren, dass man größtmögliche Bewunderung und Aufmerksamkeit erntet?

Wie viele Kommunikationstrainings gibt es mit dem Ziel der Durchsetzung der eigenen Bedürfnisse? Lehren uns nicht charismatische Menschen für einen angemessenen Preis, wie besonders und einzigartig wir wären, wenn wir nur fest daran glaubten?

Und verspricht uns der Chirurg unseres Vertrauens nicht Schönheit – zu erschwinglichen Preisen? Ist es nicht der Mensch von heute, der fest davon überzeugt ist, dass der Homo sapiens das Ende der Evolution darstellt, die Krone der Schöpfung? Dass eine Entwicklung, die Milliarden Jahre andauert, in einem so einzigartigen, besonderen und intelligenten Beherrscher der Welt ihr Ende finden muss? Denn schließlich: Was könnte jetzt noch kommen?

Da weigere ich mich einfach, auch nur einen einzigen Menschen mit der Diagnose „Narzisstische Persönlichkeitsstörung“ abzustempeln.

Bianca Olesen Bianca Olesen
Heilpraktikerin für Psychotherapie und Gestalttherapeutin mit Praxis in Solingen, Trainerin und Coach im gemeinsamen Unternehmen mit ihrem Ehemann Henning Olesen
bianca@biancaolesen.de

Literatur

  • Ekman, Paul: Gefühle lesen. Spektrum Akademischer Verlag, 2. Auflage, 2010
  • Fiedler, P.: Persönlichkeitsstörungen. Beltz Verlag, 6. Auflage, 2007
  • Guggenbühl-Craig, A.: Macht als Gefahr beim Helfer. In: Psychologische Praxis, Bd. 45, 4. Auflage, Karger Verlag, 1983
  • Olesen, B.: Der Mensch hinter der Maske. Vom Umgang mit narzisstischen Klienten in Coaching und Beratung. Junfermann, Coaching fürs Leben, 10/2015
zurück zur Übersicht dieser Ausgabe
Paracelsus SchulenWir beraten Sie gerne
Hier geht's zur Paracelsus Schule Ihrer Wahl.
Menü