aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 2/2016
Zhineng Qigong und der Weg des Bewusstseins
„Zhineng Qigong ist tief in der Erde verwurzelt zu sein und hinauf in den blauen Himmel zu wachsen … Ruhe … Freude und Leichtigkeit … Ganz-Sein … achtsam bei sich selbst sein … bewusst sein … frei sein … leben … lieben … lächeln!“
So fühlt man sich – von Anfang an. Was dieses besondere Qigong zu einer der effektivsten medizinischen Qigong-Formen macht, ist, dass es sich um eine „offene“ Form handelt, was bedeutet, dass der Praktizierende von Anfang an lernt, mit seinem inneren Qi (Lebensenergie) und gleichzeitig dem äußeren Qi umzugehen. „Qigong“ übersetzt man allgemein als „Arbeit/Übung mit der Lebensenergie“ – „zhi-néng“ lässt sich frei als „intelligent“ übersetzen.
Dr. Pang Ming, der Begründer des Zhineng Qigong, wurde Ende der 1970er-Jahre vom chinesischen Gesundheitsamt beauftragt, eine Qigong-Form für das Volk zu entwickeln, die „gesund“ sei. Das war ein großer Schritt nach vorne, denn über Jahrhunderte lang waren zahlreiche Übungen des Qigong einzig den Mönchen, den Kämpfern und der Kaiserfamilie Chinas vorbehalten. Da Dr. Pang Ming TCM-Arzt, Physiker und Großmeister des Qigong war, entwickelte er mit dem Zhineng Qigong eine Form, welche die meisten bereits existenten oder ebenfalls in der Entwicklung begriffenen Qigong-Formen weit in den Schatten stellte. Womit keinesfalls die Wirksamkeit anderer Qigong-Wege geschmälert werden soll. Die Auswahl ist umfangreich und jeder, der sich auf den Weg zu sich selbst macht, wird eine passende Form finden. Sie alle sind gut und verfolgen das gleiche Ziel: Dem Menschen seine Ganzheit bewusst zu machen, indem er sich selbst „bewegen“ muss, um den Umgang mit Qi, der Lebensenergie, zu trainieren – jede Qigong-Form vermittelt diesen Inhalt auf ihre Art und Weise.
Der Weg im Zhineng Qigong ist nur direkter, denn die Form setzt sich aus den Schlüssel- Elementen sämtlicher Qigong-Formen zusammen. Man übt mit geschlossenen(!) Augen, was den Effekt hat, dass „Zhineng Qigong der schnellste Weg ist, sich mit sich selbst zu verbinden“ – wie es eine meiner Schülerinnen einst treffend ausdrückte. Es lohnt sich, diesen Weg für sich selbst zu entdecken. Denn, dass Qigong weit mehr ist, als lediglich ein Entspannungstraining, zeigt sich im Zhineng Qigong bei regelmäßiger Praxis recht bald und deutlich.
Körper- und Bewusstseinstraining
„Man muss erst den Körper bezwingen, bevor der Geist still wird und sich entwickeln kann“ – diese Worte hört man häufig in den asiatischen Kampfsportarten, aber auch in den sanfteren Bewegungsformen Qigong und Tai Chi, die eine der 5 Säulen der TCM (Traditionelle Chinesische Medizin) darstellen. Im Qigong ist allerdings weniger von einem „Bezwingen des Körpers“ die Rede – genau das Gegenteil ist der Fall: Der Körper „fließt“ nach einiger Übungszeit mit. Die Aufmerksamkeit ist beim Qi, Fokus ist der Blick nach innen. Es wird von innen heraus geübt, was für uns Westeuropäer eine reelle Veränderung darstellt, da wir uns ja in der Vorstellung verloren haben, alles Gesunde komme von außen und den Körper könne man mittels starkem „Willen“ trainieren. „Jein“ lautet die Antwort. Betrachten wir es einmal genau: Wie sehen die Bewegungen im Qigong aus? Sie sind weich und fließend, was bedeutet, dass körperliche Kraft, gewollt und erfolgsorientiert angewandt, hier auf gar keinen Fall die Basis sein kann. Die fließenden Bewegungen im Qigong haben also eine andere Quelle, die nur innerlich gefunden werden kann: Stille und Ruhe sowie das wahre Selbst, unseren universellen, einzigartigen Kern. Sich immer verfeinernde Achtsamkeit und klarer werdendes Bewusstsein sind unsere Begleiter zur Quelle. Die Körperbeherrschung, die hinter diesen geschmeidigen Bewegungen liegt, ist also echtes mentales Training. Qigong lässt sich mit dem Tanzen vergleichen: Ein guter Tänzer ist mit Leib und Seele dabei. Er hört die Musik und drückt sie durch seinen Körper aus. Ebenso ist es im Qigong: Erst wenn wir unsere eigene innere Melodie hören können, vermag unser Körper sie auszudrücken. Je tiefer wir in uns gehen, je weiter wir uns ausdehnen und uns mit dem Hun Yuan Qi (dem körpereigenen, dem Außen-Qi, und noch weiter empfunden dem universellen, kosmischen Qi) verbinden, desto natürlicher und freier vermag Qi zu fließen. Es ist genau dieser Qi-Fluss, der die Bewegungen im Qigong so sanft erscheinen lässt. Bis dahin ist es ein gutes Stück Weg.
Das Zhineng Qigong unterteilt diesen Weg in drei Level, und man beginnt natürlich am Besten im Level I. Warum? Weil die Kernaussage der Bewegungsabläufe richtig ist. Wir müssen erst einmal ein Gefühl für unseren Körper und vor allem für unser Innerstes gewinnen. Das ist leichter gesagt als getan, denn um diese Wahrnehmung zu erreichen, ist es notwendig, den Geist (= Gedanken und Gefühle) zur Ruhe zu bringen – was bedeutet, dass dieses Fokussieren des Geistes eine sehr hohe Konzentration erfordert. Wenn wir einem Menschen sagen, er möge sich „auf etwas“ konzentrieren (z.B. auf ein Buch, eine Aufgabe, eine Bewegung, eine Tätigkeit) vermag er das zwar eine Weile umzusetzen, jedoch ist es etwas ganz anderes, wenn wir ihn auffordern, diesen Fokus „in etwas“, nämlich „in sich selbst“ zu lenken – wir erzeugen hiermit sogleich ein Gefühl, eine Wahrnehmung, die schlicht und ergreifend anders ist. Mit dieser „Aufforderung“ beginnen die Übungen im Zhineng Qigong, Level I.
Level I Da die Übungsleiter und Lehrer ihren Schülern bei der Übungspraxis Visualisierungen schenken und diese mit positiven Affirmationen versehen, während die Gruppe mit geschlossenen Augen den Anleitungen ihres Coaches folgt, wird deutlich, dass im Zhineng Qigong auch westliche, gängige Methoden wie „Autogenes Training“, „Muskelanspannung nach Jacobson“, Affirmationen und natürlich auch Meditation zugrunde liegen. Methoden, die wiederum ihren Ursprung in den daoistischen und/oder buddhistischen Formen wie Qigong oder Yoga haben – das Rad dreht sich, und das ist auch ganz gut so. Sobald eine Übung beginnt, werden im Zhineng Qigong die Augen geschlossen, der Blick richtet sich automatisch nach Innen und nun beginnt sie, die Reise zu sich selbst, in seinen innersten Kern. Das ist das wohl Aufregendste, was jeder Mensch überhaupt erfahren kann.
Dass währenddessen auch der Körper trainiert wird, ist ein erwünschter „Begleiteffekt“. Der Fokus liegt im Zhineng Qigong von Anfang an im Körper und ist nicht auf die Bewegungen ausgerichtet – im Gegenteil, diese erfolgen während der Praxis beiläufig automatisch. Selbstverständlich wird ein Bewegungsablauf vorab erklärt und genau aufgezeigt, doch während der Übung sind die Augen geschlossen und der Lernende wird dahingehend „geschult“ bzw. „angeleitet“, im eigentlichen Qigong-Zustand in seinem Körper innerlich zu verweilen, um den Fluss der Lebensenergie Qi wahrzunehmen und zu spüren. Hier beginnt der erste Schritt zur Kultivierung des Bewusstseins, des Respekts für den eigenen Körper, seine Gesundheit und das eigene Sein – und was das überhaupt alles zusammen ist, wie es sich anfühlt, die Einheit von Körper, Geist und Seele. Die Wahrnehmung beginnt, man spürt den Qi-Fluss, man spürt – vielleicht zum allerersten Mal in seinem Leben – die eigene Körpermitte, das untere Dantien (größtes Energiezentrum des Körpers).
Diese Erfahrungen und noch einige mehr machen das Level I des Zhineng Qigong aus. Die „Lift Chi Up Pour Qi Down-Methode“, „Qi anheben und ausgießen“) ist die Basisübung dieses Levels. Aus dieser Übung leiten sich diverse andere ab, die dabei hilfreich sind, das Verinnerlichen des jeweiligen Gongs (Übung) zu fördern, sodass der Körper es ausdrücken kann.
Level II ist so geartet, dass allein die Körperübungen wesentlich körperintensiver sind als im Level I. Der Praktizierende hat keine Chance sie effektiv auszuüben, wenn der Geist nicht fokussiert im Körper verbleibt. Womit wir bei der Herausforderung Nummero zwei wären: Die Fokussierung des Geistes. Einige Elemente dieses Levels können bereits in das erste Level integriert und mit geübt werden. Doch das gesamte Level II, auch „Body and Mind“-Form genannt, benötigt den meditativen Qigong-Zustand, was bedeutet, dass Achtsamkeit, Wahrnehmung und Bewusstsein schon wesentlich spürbarer präsent sind. Die innere Stille zu erhalten und den Fokus auf das Empfinden des Qi-Flusses zu lenken, während der Körper intensive Übungsabläufe praktiziert, ist der Status des Level II im Zhineng Qigong. Im Alltag ändert sich für den Praktizierenden gleichsam die Wahrnehmung für seine Ernährungs- und Lebensgewohnheiten und er befindet sich allgemein im ausgeglichenen Zustand. Die Selbst-Reflexion hat eingesetzt.
Anmerkung: Es ist zwar selten, aber es kommt schon einmal vor, dass ein Praktizierender aus Zufall mit dem zweiten Level zuerst konfrontiert ist. Damit hat er natürlich gut zu tun – jedoch die inhaltliche Wirkung, die rasche Fokussierung des Geistes, ist präsent und übt ebenfalls wohltuenden Einfluss auf den gesamten Menschen aus. Dennoch kommt der Übende nicht darum herum, irgendwann ins Level I zu wechseln, weil ihm sonst inhaltlich etwas fehlt. Die Übungen des Level II werden zwar als sehr effektiv wahrgenommen, andererseits wird unbenennbar etwas vermisst, was dazu führen kann, dass sich im Menschen das Empfinden entwickelt, die Übungen seien nicht ganz „rund“. Wir kommen also um die Inhalte der einzelnen Level langfristig nicht herum – egal, womit wir beginnen.
Im Level III ist es keine Frage mehr, ob der Geist ruhig und fokussiert ist – ohne geht es nicht. Den meditativen Qigong-Zustand herbeizuführen, also in den Zustand der inneren Leere- und Nicht-Leere hinein zu gleiten, stellt kein ernsthaftes Problem mehr dar – ihn zu erhalten hingegen schon. Level III des Zhineng Qigong ist darauf ausgerichtet, die Organe zu erreichen und die Meridiane (Energieleitbahnen im Körper) in Balance zu bringen, damit die Lebensenergie Qi frei fließen kann. Wir lernen hier u.a. den bewussten Umgang mit Emotionen, denn jedes Organ ist mit einer Emotion verbunden. Beispiel Leber: Die Emotion der Leber ist die Wut, der Ärger, die Enttäuschung. Ein „Durchgangsgefühl“, so bezeichnet man die Emotionen, die uns stets nur vorübergehend heimsuchen, darf nicht zu lange in uns verweilen und unseren Geist beherrschen. Denn sonst sorgt es für jede Menge Dysbalancen, also Unordnung, was zu manifesten Erkrankungen in unserem körperlichen und inneren System Mensch führen kann.
Hier, im Level III, lernen wir, diese Emotionen bewusst hervorzurufen und aufzulösen. Das Bewusstsein ist inzwischen sehr präsent. Da die Organe tief im Körperinneren liegen, sind auch das Bewusstsein und die Achtsamkeit äußerst klar und verfeinert, denn anders erreicht man diese Tiefe gar nicht. Qi folgt dem Gedanken – immer. Je klarer und ruhiger der Geist, desto tiefer vermag Qi zu fließen. Die Körperübungen werden durch das Chanten von Silben unterstützt, welche Schwingungen im Körper hervorrufen, die sowohl den Geist in der Stille halten als auch dafür sorgen, dass Qi die Tiefe der Organzellen erreicht. Die Körperübungen unterstützen diesen Prozess. Die Selbstheilungskräfte erlangen ihre natürliche Fähigkeiten zurück und werden durch die eigene Präsenz während der Übung verstärkt. Was jedoch viel wichtiger ist: Hier bekommen wir immer mehr Zugang zu unserem Unterbewusstsein. Unsere „außergewöhnlichen Fähigkeiten“, wie die Chinesen diesen Vorgang gern bezeichnen, wachsen. Wir werden sensibel für die Vorgänge und Reaktionen, die in unserem Organismus stattfinden und können sie positiv beeinflussen.
Zusammenfassung
Das Erlernen des Level I (mitsamt einigen Elementen des Level II) ist für jeden Menschen zwischen 3 und 99 Jahren geeignet. Egal ob krank oder gesund, trainiert oder untrainiert, sitzend, stehend oder liegend: Dieses Level ist hocheffektiv und vollkommen ausreichend, um das Leben aus der Tiefe heraus zu bereichern, ungünstige Lebensumstände intensiv zu verbessern, um sich in seiner Haut wieder wohlzufühlen. Genesungsprozesse beschleunigen sich, einzelne Blockaden lösen sich auf und der Geist beruhigt sich zusehends – wir werden innerlich und äußerlich klarer, beweglicher und stabiler. Auch für Kinder sind die Übungen des ersten Levels sehr fördernd und positiv für ihre persönliche Entwicklung. Es gibt „Zhineng Qigong für Kinder“, was bereits sehr beliebt in Kindergärten und Schulen eingesetzt wird. Auch Lernprobleme verbessern sich durch die bewusste Schulung des Geistes und das Körpertraining sichtbar. Für Kinder und Jugendliche ist Zhineng Qigong ein unbezahlbares „Werkzeug“, eine Praxis für das gesamte Leben.
Körperlich erhält die Praxis des Zhineng Qigong den Rücken beweglich und stabil. Sowohl in der Prophylaxe und Erhaltung der Rückengesundheit als auch in der Regeneration und nach Operationen lassen sich durch die Übungen hervorragende Erfolge erzielen. Die Gelenke öffnen sich zu einer guten Beweglichkeit und Durchlässigkeit, Erkrankungen wie Rheuma oder Arthritis werden erträglich und die Schmerzen verringern sich. Neurologisch beruhigt sich das System. Bei Patienten, die an MS (Multiple Sklerose) oder Morbus Parkinson leiden, lassen die meist lästigen Beschwerden spürbar nach und der Allgemeinzustand sowie das Wohlbefinden kräftigen sich von innen heraus. Chronische Erkrankungen erzielen für jeden Betroffenen spürbare Erfolge durch die Zhineng Qigong-Praxis. Es würde zu weit führen, sämtliche chronischen Erkrankungen aufzuführen, doch ich kann aus Erfahrung sagen, dass z.B. die Remissionsphase bei Morbus Crohn durch Zhineng Qigong sehr gut gehalten werden kann, ebenso wie Schübe deutlich erträglicher werden. Das Immunsystem wird gestärkt und häufig auch zum ersten Mal mit körpereigenen Informationen versehen. Stoffwechsel und Organtätigkeiten finden wieder in ihren natürlichen Fluss zurück. Das Gehirn profitiert ebenso wie bei den reinen Meditationsformen mit am meisten, denn die Fokussierung und Stille des Geistes stärkt die Merkfähigkeit und trainiert durch Achtsamkeitsförderung die notwendige Balance zwischen innen und außen, zwischen Herzund Kopfzentrum. Die Zhineng Qigong-Praxis erreicht uns als ganzen Menschen und sorgt dafür, dass wir die häufig verloren gegangene Wahrnehmung, als Mensch eine Einheit zu sein, wieder finden und dabei uns selbst begegnen. Zhineng Qigong ist ein Geschenk für jeden von uns.
Wo und wie kann ich mich zum Übungsleiter oder Lehrer ausbilden?
In Deutschland werden an den Paracelsus Schulen in Hamburg, Kiel, Oldenburg, Saarbrücken, Ulm und Augsburg Ausbildungen zum Zhineng Qigong-Übungsleiter oder Medizinischem Qigong-Lehrer angeboten. Beide Ausbildungen schließen mit einer schriftlichen und praktischen Prüfung ab. Zukünftige Zhineng Qigong-Übungsleiter und -lehrer sollten ein gutes Fundament nachweisen können, das sie bei den jeweiligen Ausbildungen vermittelt bekommen. Weiterhin sollten Sie in der Lage sein, achtsam und sanft durch die einzelnen Übungen zu leiten und gegebenenfalls Korrekturen ausführen können. Am Ende der Ausbildungen erhalten die Teilnehmer das Zertifikat der Paracelsus Schulen entsprechend ihrer Ausbildungsrichtung. Beide Ausbildungen befähigen die Absolventen, Zhineng Qigong nach erfolgreichem Abschluss als Übungsleiter oder Lehrer in eigenen Seminaren, Workshops oder in Einrichtungen wie der Volkshochschule, Gesundheitszentren etc. anzubieten. Für die Fortsetzung der Ausbildung in den einzelnen Leveln und deren Vertiefungen ist jeder Übungsleiter und Lehrer selbst verantwortlich.
Der Weg im Zhineng Qigong beginnt mit einem ersten Schritt und hört eigentlich niemals auf. Wenn das Bewusstsein erst einmal da ist, dann möchte es sich entfalten und wir erkennen, was wir so lange Zeit vermisst haben. Wir „wachsen“ und entfalten uns mit … so einfach ist das.
C.-Andrea Lippert
Entspannungs-, TCM- und Zhineng Qigong-Therapeutin, naturheilkundliche Kosmetikerin, GuaSha Facial Harmony Practioner, Autorin, Dozentin an den Paracelsus Schulen
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