100000 Milliarden Mikroorganismen befinden sich auf und in jedem menschlichen Körper, der selbst wesentlich weniger
Zellen vorweisen kann. Am Ende bestehen wir gerade einmal zu 10% aus uns selbst, die restlichen
90% kommen
irgendwie von außen. Schon allein das Mikrobiom des Darms umfasst dabei 500-1000 verschiedene Arten an
Mikroorganismen, die entweder Symbionten (z.B. E. coli) oder Parasiten sind (z.B. Clostridien, zum Glück obligate
Anaerobier), zum größten Teil aber Kommensalen, die einfach nur mit uns zusammenleben. Sie haben Vorteile, und uns
kann‘s vermutlich egal sein. Ich schreibe deshalb „vermutlich“, weil die Erforschung des Darms – wie überhaupt des
menschlichen Mikrobioms – fortschreitet und das Wissen darüber noch lange nicht vollständig ist. Die Interaktionen
sowie Querverbindungen sind undurchschaubar vielfältig.
Der relativ unbekannte Ausdruck „Kommensalismus“ (Tischgenossenschaft) bezeichnet im Übrigen eine Form der Interaktion zwischen Individuen verschiedener Arten – in unserem Fall zwischen Mensch und Mikroorganismus – die für Angehörige der einen Art positiv und für diejenigen der anderen Art neutral ist. Dennoch können diese Mikroben pathogen und ganz gemein werden, wenn es etwa zur Gewebezerstörung kommt (z.B. im Anschluss an eine Operation), ein Immundefekt besteht oder unsere Darmflora durch Antibiotika gestört wird.
Die eigentliche Transformation eines Kommensalen in einen Parasiten können wir jedoch erst im Nachhinein nur vermuten. Wir sehen dann z.B. im Laborbefund, dass da etwas ganz schlimm aus dem Ruder gelaufen ist, aber wir wissen oft nicht mehr, was. „Nicht mehr“ deshalb, weil der Auslösereiz
oft schon Jahre in der Vergangenheit liegen kann. Und dann wundern wir uns darüber, dass ein Mensch z.B. eine Autoimmunerkrankung bekommt und unser hochkompetentes Immunsystem eigenes, lebenswichtiges Gewebe angreift. Zurück bleiben u.U. Narben, und im schlimmsten Fall verlaufen solche Krankheiten tödlich. Killed by friendly fire. Das ist doch der schiere Wahnsinn!
Wenn ich mir diese Verläufe auf Körperebene anschaue, wird mir deutlich, dass wir auch in anderen Bereichen bisweilen an der Grenze zur Überreaktion leben: So wie der eigene Körper danebenschießt, so kippt auch unsere gesamte Gesellschaft aufgrund von Furcht und Hysterie. Ähnlich wie im antiken Athen sogar ein Tempel für den unbekannten Gott erbaut wurde, aus Angst, man könnte einen aus dem Pantheon übersehen und verärgert haben.
Dass wir uns richtig verstehen: Ich weiß, dass Autoimmunerkrankungen, z.B. die Sklerodermie, Multiple Sklerose oder der Systemische Lupus erythematodes, einen tödlichen Verlauf nehmen können. Und auch, dass weltweit jedes Jahr Zehntausende Kinder an den Folgen einer Maserninfektion sterben. Was soll man da sagen?! Da ich mehrfacher Vater bin, komme ich nicht umhin, mich zu fragen, wie ich wohl reagieren würde, wenn mein Kind eine dieser Diagnosen erhielte, und ich weiß die Antwort: Ich wäre entsetzt. Mosaische Gelassenheit und Härte hätte ich dann nicht mehr, auch meine Ausbildung würde mir nicht weiterhelfen. Ich wäre konfrontiert mit dem Widerspruch zwischen meinen inneren Werten und meiner intuitiven Reaktion als Vater. Also doch besser gleich das Risiko minimieren?
Zum Glück können wir mithilfe der Labordiagnostik eine Verdachtsdiagnose verifizieren oder falsifizieren. Genauso können wir den Erfolg einer Behandlung labortechnisch nachweisen. Soll-Werte stimmen mit den Ist-Werten überein, oder sie tun es nicht. Dennoch bleibt ein Laborbefund immer nur eine Momentaufnahme oder ist im schlechtesten Fall nicht einmal aussagekräftig.
Wir leben in einem Kosmos zwischen unsichtbaren Welten und nur schwierig nachweisbaren Erkrankungen einerseits und modernen, hochentwickelten (labor-)medizinischen Möglichkeiten andererseits, was es uns unüberschaubar schwer macht, eine allgemeingültige Antwort zu finden auf die Fragen, die sich daraus ergeben. Sollen wir impfen, was das Zeug hält? Sollen wir doch eher früher als später ein Antibiotikum einnehmen, manchmal nur auf Verdacht, dass wohl etwas schiefgelaufen sein könnte? Oder sollen wir die Risiken und Nebenwirkungen in Kauf nehmen und auf das Beste hoffen?
Wenn mein Sohn mich nach einer Antwort fragen würde, müsste ich sagen: Ich weiß es nicht, das muss jeder für sich selbst entscheiden. Der einzige Ausweg, der mir bleibt, ist die Annahme, dass ich für mein Leben selbst verantwortlich bin. Es ist mir nicht mehr möglich, die Verantwortung an jemanden abzugeben, der sich in mir und meinem Leben nicht auskennt. Aber diese Einstellung teilen wir nur noch mit wenigen Menschen, was das Leben anspruchsvoll macht.
Und wollen Sie jetzt wissen, wann ich das letzte Mal ein Antibiotikum genommen habe? Vor 50 Jahren.

Thomas Schnura
Psychologe M.A., Heilpraktiker und Dozent
Thschnura@aol.com