
Trauer ist ein schwieriges Gefühl. Sie zu verdrängen, ist keine Lösung, da sie sich in diversen Kontexten zeigen kann. Eine kunsttherapeutische Begleitung ermöglicht einen tieferen Zugang zu den damit verbundenen Gefühlen und bietet über die mentale Auseinandersetzung mit Bildern einen Ausweg, auch neue Lösungsmöglichkeiten für eine niederdrückende Situation im Leben unserer Klienten. In diesem Artikel stelle ich Anregungen und Optionen anhand eines Praxisfalls vor.
TRAUER IN UNSERER GESELLSCHAFT
Trauer wird nicht gerne gesehen. Schnell wird jemand, der traurig ist, konfrontiert mit Sätzen wie „Das wird schon wieder“, „Sieh doch mal das Positive daran“, „So schlimm ist es doch gar nicht“ oder „Stell dich nicht so an“. Oft mit der – meist uneingestandenen – Absicht, dass Traurigkeit und Schmerz möglichst schnell vorbei sein sollen und der Tröstende sie nicht mehr ansehen und mitfühlen muss.
Auch gesamtgesellschaftlich wird der Trauer kaum noch Raum gegeben. Galt früher das Trauerjahr bei einem Todesfall in der Familie oder im Freundeskreis, so gesteht das heutige Arbeitsrecht gerade einmal drei Tage Sonderurlaub im Fall eines verstorbenen Ehegattens zu. Danach soll wieder zum „business as usual“ zurückgekehrt werden. Kann der (Berufs-) Alltag – wider Erwarten – doch nicht so schnell wiederaufgenommen werden, bietet die ICD-10 einen Monat nach dem Verlust noch die Möglichkeit, eine Anpassungsstörung (F43.2) zu diagnostizieren.
VON KLEINEN UND GROSSEN VERLUSTEN
Unser Leben ist geprägt von vielen kleinen Verlusten, die wir oft nicht als solche wahrnehmen – dennoch geschehen sie: Unser Lieblingscafé schließt, der geschätzte Kollege verlässt die Firma, oder die Nachbarn, mit denen man sich so gut verstanden hat, ziehen um. All diese Verluste sollten entsprechend betrauert werden. Die meisten jedoch werden beim Thema „Trauer“ an die großen Verluste im Leben denken, z. B. den Tod eines Menschen oder das Ende einer romantischen Beziehung. Denken Sie aber auch an andere einschneidende Veränderungen im Leben, z. B. das Ende einer langjährigen Freundschaft oder der Auszug der Kinder aus dem Elternhaus. Auch diese Erfahrungen sind mit starken Verlustgefühlen verbunden und können einen Menschen in Trauer stürzen. Um diese zu bewältigen, eignen sich kunsttherapeutische Methoden sehr gut.
FALLSTUDIE
Frau S. kenne ich bereits aus einem meiner Kurse zur Stressund Burnout-Prävention. Nun möchte sie Einzelsitzungen bei mir. Sie wisse nicht, was plötzlich mit ihr los sei. So unkonzentriert und konfus wie momentan kenne sie sich gar nicht. Als ich während der Anamnese nach besonderen, einschneidenden Ereignissen in ihrem Leben frage, legt sie mit brüchiger Stimme offen: „Ich bin entlassen worden.“ Frau S. erzählt, dass die Entscheidung aus betriebsinternen Gründen getroffen worden sei. Dies kam für sie äußerst überraschend, niemand hätte Andeutungen gemacht, auch nicht ihr Mentor im Betrieb. Im Gegenteil: Sie sei in jeder Hinsicht unterstützt und gefördert worden, habe sich immer gut mit ihren Kollegen verstanden. Ich frage sie, wie es ihr damit ginge. „Ich weiß nicht, irgendwie so gar nicht“, lautet ihre Antwort.
Wieder ins Gefühl kommen
Die Klientin wirkt farb- und teilnahmslos, als sie zur nächsten Sitzung kommt. Auf meine Frage, wie sie sich fühle, antwortet sie: „Leer.“ Ich biete ihr an, zusammen ein Aquarellbild zu malen, was sie trotz geäußerter Zweifel annimmt. Wir verwenden eine Nass-in-Nass-Technik. Dieses Verfahren ist gut geeignet, um mit den eigenen Gefühlen wieder in Kontakt zu kommen und sie – ebenso wie die Aquarellfarben auf dem nassen Papier – fließen zu lassen.
Nachdem ich erste Impulse in hellem Gelb gesetzt habe, arbeitet Frau S. allein am Bild weiter. Sie greift meine Anreize auf und lässt weitere bunte Farbflächen entstehen, die teilweise ineinanderlaufen. Nach einiger Zeit feuchtet sie einen Schwamm an, geht mit ihm über das Blatt und wäscht die feuchten Aquarellfarben mehr und mehr aus. Zum Schluss sind die meisten Farben nur noch zu erahnen. Nur in einer Ecke des Blattes lässt die Klientin einzelne Flächen stehen. Traurig, aber mit klarem Blick sagt sie: „Ja, so fühle ich mich gerade. Plötzlich sind alle Farben weg.“
Gefühle zum Ausdruck bringen
Zur nächsten Sitzung eine Woche später erscheint Frau S. angespannt und unruhig. Ich spreche sie darauf an, und sie berichtet von den geplanten Umstrukturierungen in ihrer Abteilung, von denen sie während ihres Ausstandes erfahren hat. Dabei redet sie sich immer mehr in Rage, sodass ich ihr vorschlage, zu diesem Thema ein Bild mit Pastellkreiden zu malen. Vorteilhaft hierbei ist, dass man die Farbe direkt in der Hand hält und diese unmittelbar auf das Papier auftragen kann. Außerdem bedarf es einer gewissen Anstrengung, um ausreichend Farbe aufzubringen, wodurch sich aufgestaute Energie gut „ausagieren“ lässt.
Frau S. stimmt sofort zu. Mit schnellen und kräftigen Bewegungen werden die Pastellkreiden in Rot, Orange und Gelb mit der Breitseite über das strukturierte Papier geführt. Einige Bereiche verreibt sie, anschließend setzt sie mit Schwarz Akzente und zeichnet ein paar Teufelchen dazu. Als sie ihr fertiges Bild betrachtet, muss sie grinsen: „Ja, so ist es gut. Jetzt geht es mir besser.“ Wir vereinbaren unsere nächste Sitzung für zwei Wochen später.
Orientierung finden
Die Klientin wirkt beim nächsten Mal still und in sich gekehrt. Seit gut zwei Wochen ist sie arbeitslos und ohne gewohnte Tagesstruktur. „Es ist schon komisch“, meint sie, „so gar nichts mehr zu müssen.“ Da ich Rat- sowie Orientierungslosigkeit bei Frau S. spüre, schlage ich ihr die Arbeit mit Bildkarten vor, die gut für Neuorientierungen und Standortanalysen geeignet sind (hier:„Wegekarten“ von schluessel & blume®). Hierbei geben die Karten eine gewisse Ordnung und Struktur vor, an der sich die Klientin orientieren kann. Sie willigt ein und schaut das Kartenmaterial mit dem Auftrag durch, eine Karte für ihre aktuelle Situation herauszusuchen, und bis zu fünf Karten, die sie emotional besonders ansprechen.
Nachdem sie fünf Karten herausgenommen hat, bekommt sie die Aufgabe, sie so auf einem DIN-A2-Blatt anzuordnen, dass es für sie stimmig ist. Nach einiger Zeit des Ausprobierens hat sie die für sie richtigen Positionen der Bildkarten gefunden. Nun sollen die freien Zwischenräume so gestaltet werden, dass Verbindungen zwischen den einzelnen Karten entstehen. Dafür schlage ich Frau S. Ölkreiden vor, sie möchte jedoch lieber mit Blei- und Buntstiften arbeiten.
Ihre aktuelle Situation spiegelt sich für Frau S. in einer Karte mit einem schiefen, sechsarmigen Wegweiser wider. Sie platziert diese in die Mitte der unteren Bildhälfte. Zwei als negativ empfundene Karten mit kahlen Bäumen und felsigem Berg kommen an den linken Bildrand. Zwei positiv empfundene Karten mit Blumenwiese und grüner Flusslandschaft legt sie in die Mitte der rechten Bildhälfte. Die dritte positive Karte, ein voll belaubter Baum inmitten einer sechsarmigen Wegkreuzung und umgeben von grünen Wiesen, legt Frau S. in die Mitte des Blatts. Dabei seufzt sie: „Jetzt dort zu sein, wäre schon schön.“
Nun zeichnet sie mit Bleistift die Wege von dieser Kreuzung ausgehend weiter: Nach rechts findet ihre Fortführung Anschluss an die beiden anderen positiven Karten. Der Weg nach links hin zu den beiden negativen Karten scheint durch eingezeichnetes Gestrüpp fast nicht begehbar, bekommt aber in der Mitte des Weges eine Abzweigung nach oben. Die beiden nach oben führenden Wege gehen weiter und enden im Nichts. Bei der Farbgebung mit den Buntstiften wird die direkte Umgebung der Wegkreuzung kräftig und farbintensiv gestaltet. Je weiter sich die Klientin davon entfernt, desto blasser werden die Farben, und die nach oben führenden Wege bleiben eine Bleistiftzeichnung.
Positionierung
Nach der Fertigstellung erläutert mir Frau S. die Bedeutung: Der linke Bildbereich stehe für sie für „das Karriere-Machen“, so wie bei ihrer verlorenen Arbeitsstelle. Zum rechten Bereich möchte sie in ihrem Leben hin, aber im Moment sei es noch nicht so weit. Der Baum in der Mitte der Wegkreuzung stehe für Freude, Lebendigkeit und Chancen.
Ich frage die Klientin, wo sie im Moment am liebsten in ihrem Bild wäre, und bitte sie, eine Ich-Figur dorthin zu stellen und zu spüren, wie es sich hier für sie anfühlt. Sie stellt die Figur sofort in die Mitte auf den Baum, spürt in sich hinein und strahlt: „Das fühlt sich richtig gut an.“ Anschließend probiert sie mithilfe der Figur auch die anderen Bereiche aus. Es wird für sie klar, welcher Bereich für sie aktuell infrage kommt, wohin sie möchte und wohin nicht. Zum Abschluss stellt sie die Ich-Figur auf den Baum und meint: „Dort möchte ich bleiben.“ Für sie bedeute das auch, sich erst einmal in Ruhe beruflich umzusehen und auch offen zu sein für ungewöhnliche Angebote. Zuversichtlich verlässt sie die Praxis.
Wackeliger Neubeginn
Frau S. kommt nun ein- bis zweimal im Monat in meine Praxis. Sie hat in der Zwischenzeit eine neue Stelle gefunden, wo es ihr gut gefällt. Nach sieben Monaten fühlt sie sich allerdings „sehr gefrustet“, was sie selbst nicht verstehen kann, da eigentlich alles gut sei. Wir forschen nach. Es entsteht ein „Frust und Wut“-Bild mit Pastellkreiden, das ihr aber nicht die erhoffte Lösung und Erleichterung bringt. Es wird deutlich, dass Frau S. sehr an ihrem verlorenen Arbeitsplatz hängt und diesem nachtrauert. Ich schlage vor, sich diese Situation noch einmal genauer anzuschauen. Wir vereinbaren wieder wöchentliche Termine.
Der Blick zurück
In der nächsten Sitzung bitte ich Frau S., sich nochmals in die vorherige Arbeitsstelle einzufühlen, und zwar zu einem Zeitpunkt, „als noch alles gut war“. Aus diesem Gefühl heraus soll sie eine Collage gestalten. Sofort beginnt sie mit großer Freude, diese anzufertigen. Ähnlich wie Bildkarten, geben Ausschnitte aus Zeitschriften sowie Magazinen bereits eine gewisse Struktur und Stimmungen vor, welche die Klientin für sich nutzen kann.
Nachdem ihre Collage fertig ist, erklärt Frau S. die einzelnen Elemente: Junge Leute, die sich enthusiastisch über einen Konferenztisch beugen, stehen für die sehr gute und effektive Zusammenarbeit mit ihren Kollegen. Die Skyline von New York repräsentiert ihre Geschäftsreisen, ein Sonnenuntergang am Strand mit Palmen die Trips, die sie mit ihrem Partner oder Freunden unternommen hat. Entspannt feiernde junge Menschen unter freiem Himmel stellen ihr Lebensgefühl dar. Insgesamt wirkt die Collage sehr entspannt, aber auch dynamisch und lebendig. Die Besprechung führt dazu, dass Frau S. ihre Bildabsicht – und somit auch sich selbst und ihre Wahrnehmung – bestätigt findet. In guter Stimmung verabschiedet sie sich.

Entfallene Zukunft
In der folgenden Sitzung arbeiten wir an ihrem Thema weiter: Ich bitte die Klientin, ein Bild zum Thema „Was hätte sein sollen?“ zu gestalten. Frau S. fertigt eine Collage an, die mit Ölkreidezeichnungen ergänzt wird. Hier stellt sie sich in verschiedenen Führungspositionen dar, mit Auszeichnungen und Preisen, und – etwas kleiner – im Urlaub an einem Südseestrand mit eigener kleiner Familie. Ein Sinnbild für die große Bedeutung der Karriere, des beruflichen Aufstiegs und des damit verbundenen Prestiges für Frau S. Beim Betrachten des Bildes wird sie sehr still. „Sie haben mir meine Zukunft genommen“, bemerkt sie schließlich. Schmerz und Trauer darüber sind ihr deutlich anzusehen.
Ich frage sie, ob sie „Das, was jetzt ist“ malen möchte. Die Klientin nickt stumm und gestaltet ein Bild mit Ölkreiden. Nachdem das Blatt fast vollständig mit Bauschutt und Häuserruinen ausgefüllt ist, tritt Frau S. zurück und betrachtet ihr Werk. Auf die Frage, wo sie selbst im Moment in ihrem Bild wäre, malt sie sich in bunten Farben auf einem kleinen Schutthaufen hockend, das Gesicht weinend in den Händen verborgen, dazu. Erneut betrachten wir ihr Werk aus einiger Entfernung. Plötzlich lächelt sie: „Da fehlt noch etwas.“ Sie ergänzt eine kleine Blume, die aus dem Schutt emporwächst, und ein paar freundliche und fröhliche Leute in bunten Farben. Nach einer kurzen Nachbesprechung geht die Klientin sichtlich gelöst nach Hause.
Ausblick
In der nächsten Sitzung betrachten wir noch einmal die Bilder. Frau S. berichtet, dass unsere letzte Sitzung lange nachgewirkt habe. Auch die Rolle ihres Mentors sei ihr noch einmal bewusst geworden, wie viel er ihr bedeutet habe und dass Enttäuschung und Schmerz wegen seines Verhaltens groß seien. In den folgenden Sitzungen bearbeiten wir ihre Beziehung zu ihm, wodurch sich vieles für Frau S. relativiert und sie ihre frühere Stelle gut abschließen kann.
FAZIT
Vor allem negative Gefühle (hier: Trauer) werden oft ignoriert oder verdrängt, da sie mit seelischem Schmerz einhergehen, den viele nicht spüren möchten. Die verdrängten Gefühle existieren jedoch im Unterbewusstsein weiter und rauben fortlaufend Kraft und Energie. Daher ist es wichtig, diese zu bearbeiten und zu verarbeiten.
Die Kunsttherapie bietet eine große Bandbreite an Einsatzmöglichkeiten. So lassen sich mit ihrer Hilfe Ressourcen stärken, Gefühle wieder zugänglich machen, Konflikte aufdecken und lösen. Zukunftswünsche und -visionen können sichtbar gemacht werden. Zudem ist Kunsttherapie mit ihren nonverbalen Ausdrucksmöglichkeiten immer dann ein probates Mittel, wenn Situationen unsere Klienten „sprachlos“ machen.
