Ein 51-jähriger Klient sucht Beratung wegen Abgrenzungsschwierigkeiten, welche sich in Grübeln, Selbstzweifeln und Konflikten äußern. Er berichtet von starken Herausforderungen in diversen Lebensbereichen, die er genauer ergründen möchte. Trotz umfangreicher Beratungserfahrung fehlen ihm geeignete Bewältigungsstrategien.
GENOGRAMMARBEIT
Ein Genogramm ist eine schematische Darstellung verwandtschaftlicher Zusammenhänge, die inhaltlich weit über einen Stammbaum hinausgeht. Erfasst werden neben Beziehungen wiederkehrende Konstellationen, Verhaltensmuster etc. Das Genogramm des Klienten verdeutlicht dessen aktuelles Lebensumfeld: geschieden, erwachsene Kinder und ein Enkelkind, zu denen kein Kontakt besteht. Im fragmentarisch abgebildeten Herkunftssystem zeigen sich erste Bezüge zu seiner Problematik: Er erlebt seine Eltern als übergriffig und kann sich ihnen gegenüber kaum behaupten. Auf einem Flipchart visualisieren wir seine Herausforderungen mit spontan assoziierten Unterthemen. Hierbei kann der Klient klar angeben, dass ihn die Beziehung zu seinen Eltern aktuell am meisten belastet.
ONLINE-AUFSTELLUNG
Da wir zunächst virtuell arbeiten, nutzen wir das Online-Systembrett (DSGVO-konform). Wir befinden uns dabei in einem virtuellen Raum mit einem Tisch und animierten Figuren, die sich in verschiedenen Farben erzeugen lassen. Der Klient kann seine Figuren selbst erstellen und deren Größe anpassen, sie verschieben, eine Innensicht aus der Figur heraus anwenden und Hilfsmittel (z. B. Steine, Ringe) benutzen. Die Aufstellung des Herkunfts- und Gegenwartssystems hilft dabei, das verinnerlichte Bild des Klienten zu externalisieren. So wird das Genogramm zum Leben erweckt.
Zentrale Erkenntnisse:
Das Verhältnis zu den Eltern ist seit jeher unterkühlt.
Im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder fühlte er sich bereits als Kind ungeliebt und kritisiert, wie adoptiert. Dies verdeutlicht die Positionierung der Figuren.
Die Eltern waren zum Zeitpunkt der Geburt des Klienten sehr jung. Er entwickelte die Überzeugung, ungewollt gewesen zu sein. Nichts, was er tut, genügt ihnen.
Bis heute erfährt er Kritik, Dominanz und Bevormundung, v. a. seitens des Vaters.
Die einzige positiv assoziierte Verbindung im Herkunftssystem ist die Urgroßmutter, deren Lebensweisheiten ihn stark geprägt haben (wichtige Ressource).
Die eigenen Kinder haben den Kontakt abgebrochen, weil sie sich bevormundet fühlen. Diese auffällige Parallele zur eigenen Eltern-Kind-Dynamik kann der Klient nur schwer annehmen.
ERSTE VERÄNDERUNGEN
Aus der Aufstellung ergeben sich klare Handlungsfelder: Der Klient priorisiert die Abgrenzung von den Eltern und die Loslösung aus der gefühlten Kind-Rolle. Drei Wochen später berichtet er von einem Treffen mit den Eltern, bei dem er ein „auf wundersame Weise“ verändertes Verhalten des Vaters feststellt. Dieser gibt sich zurückhaltender, nicht mehr grenzüberschreitend mit ungebetenen Ratschlägen und Kritik. Der Klient beschreibt sich selbst als ruhiger. Er spürt im Kontakt mit seinem Vater keinen Trigger mehr. Das Thema mit echten Stellvertretern zu vertiefen, ist der nächste Schritt.
DURCHBRUCH
Die Präsenz-Aufstellung findet in einem Gruppenseminar statt. Die Teilnehmer sind sich fremd und kennen die jeweiligen Anliegen nicht. Der Klient schildert, dass er seinen „Knoten mit den Eltern lösen“ möchte, da seine Kinder dasselbe Thema auf ihn bezogen leben. Er spricht die Parallele, mit der er anfangs Probleme hatte, offen an. Es kommt zu einer tiefgreifenden Erfahrung: Seine „Eltern“ treten ihm gegenüber wohlwollend und beschützend auf. Obwohl sie durch ihre Lebensumstände zum Zeitpunkt seiner Geburt und seines Aufwachsens in einer schwierigen Lage waren, zeigt sich die Liebe beider Elternteile zu ihm. Schließlich können Gefühle ausgesprochen werden, und die Aufstellung endet in Annahme und Verbundenheit.
VERLAUF UND AUSBLICK
Der Klient kann sich seither gut von seinen Eltern abgrenzen, Spannungssituationen gehören der Vergangenheit an. Dadurch rückt das Verhältnis zu seinen eigenen Kindern in den Vordergrund, das sich nun als sehr belastend darstellt. In einer weiteren Aufstellung werden wir dies betrachten.
FAZIT
Aufstellungsarbeit externalisiert erfolgreich das innere Hadern mit einem Thema und führt zu überraschenden Erkenntnissen. Themen lösen sich im Prozess nach dem Zwiebel-Prinzip: Hat man eine Ebene bearbeitet, wird die nächste sichtbar. Mein Vorgehen orientiert sich an Elementen der systemischen und gestalttherapeutischen Arbeit.
Hinweis zu Online-Angeboten: Neben der Nutzung (rechts-) sicherer und zertifizierter Audio- und Videokonferenzplattformen gilt im virtuellen Raum dasselbe wie in Präsenz: Ich habe gegenüber den Klienten eine Sorgfaltspflicht. Nicht nur muss ich genau einschätzen können, welche Interventionen ich dem Einzelnen zumuten kann, ich muss auch über ein methodisches Sicherheitsnetz verfügen.
SEMINAR-TIPP
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