aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 1/2011
Der „sanfte“ Ruck
Osteopathische Behandlung verhaltensauffälliger Kinder
Nach verschiedenen Untersuchungen werden heute über 20% aller Kindergartenkinder als verhaltensauffällig eingestuft, davon gelten mindestens 5% als behandlungsbedürftig. Die Symptome sind vielfältig und können sich körperlich (z.B. Essstörungen), psychisch (z.B. Depressivität, Konzentrationsstörungen) oder sozial (z.B. Aggressivität, Schüchternheit) äußern.
Eine klare Abgrenzung, wo die Norm aufhört und auffälliges oder problematisches Verhalten anfängt, ist kaum möglich. Definitionsversuche bezeichnen ein Verhalten als auffällig, das den Betroffenen und sein Umfeld dauerhaft belastet, einer Situation nicht angemessen ist und die Entwicklungsmöglichkeiten des Betroffenen behindert. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass der kulturelle und zeitgeschichtliche Kontext sowie die konkrete Situation und die subjektive Vorstellung des Beobachters entscheidend sind für die Definition dessen, was normgerecht ist. Verhaltensweisen, die z.B. vor 50 Jahren als auffällig galten, können im heutigen Kontext als normal gelten. Ebenso kann das, was der eine als gewöhnlich erachtet, für den nächsten bereits außergewöhnlich sein.
Diese definitorischen Schwierigkeiten und die subjektive Herangehensweise äußern sich zum Beispiel in der Debatte zum Thema „Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts-) Syndrom“ (AD(H)S), der heute neben Aggressionsstörungen meist diagnostizierten Verhaltensauffälligkeit bei Kindern. ADHS beschreibt ein ausgeprägt unaufmerksames, impulsives und hyperaktives Verhalten. Während es von einigen als Modediagnose für lebhafte Kinder abgetan wird, deren Behandlung sich auf die Gabe von Methylphenidat (Ritalin®) und ggf. eine unterstützende Verhaltenstherapie beschränkt, sehen andere darin ein komplexes Krankheitsbild, das schon seit Langem bekannt ist und viele Symptome erklärbar macht.
Das Gleichgewicht des Kindes ist entscheidend
In meiner langjährigen Arbeit mit Kindern hat sich als wichtigstes Indiz für eine Verhaltensauffälligkeit das Gleichgewicht des Kindes herauskristallisiert. (Eine Ausnahme bilden hier häufig zerebrale Teilleistungsstörungen!) Wenn das Kind nicht ausgeglichen ist und sich nicht wohl fühlt, baut es Frustrationen auf und entwickelt oder verstärkt Symptome. Kommt die Diagnose „verhaltensauffällig“ hinzu, wird das Kind zudem Opfer von Stigmatisierungen, Bloßstellungen und Hänseleien, die seinen Leidensdruck noch vergrößern. Deshalb ist es wichtig, schnell zu reagieren, damit Selbstwahrnehmung und Verhaltensweisen nicht weiter negativ beeinflusst werden.
Als Osteopathin arbeite ich manualtherapeutisch, beziehe aber nicht nur den Körper des Patienten, sondern auch seine geistige und emotionale Ebene sowie sein gesamtes Umfeld in die Therapie mit ein. Dies ist vor allem bei verhaltensauffälligen Kindern von großer Bedeutung.
Ursachen von Problemverhalten
Sucht man nach den Ursachen, muss man von einer Multikausalität ausgehen, in der körperliche, soziale und emotionale Faktoren zusammenwirken. Oftmals spielt die Familie eine wichtige Rolle für die Ausbildung von Verhaltensauffälligkeiten. Im Extremfall kommen die Eltern ihrer erzieherischen Funktion nicht nach und leben den Kindern abweichendes Verhalten vor: Kommunikationsstörungen, Ehekonflikte oder Vernachlässigung können bewirken, dass Kinder durch extremes Verhalten versuchen, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Überbehütung und Verwöhnung verhindern die Reife und Selbstständigkeit des Kindes, ein inkonsistenter Erziehungsstil ohne Regeln führt häufig dazu, dass Kinder nicht lernen, mit Grenzen umzugehen. Zum Teil haben Eltern selbst nie gelernt, dass Regeln und Konsequenzen wichtig und für ein soziales Miteinander wesentlich sind.
Emotionale Ursachen wie Ängste, häufig hervorgerufen durch Traumata, können zu Verhaltensweisen wie Einnässen führen oder Depressionen hervorrufen. Daneben gibt es auch körperliche Ursachen, Dysfunktionen, die solche Verhaltensauffälligkeiten bewirken. Häufig handelt es sich um Folgen einer schwierigen Geburt, z.B. Spannungen, die durch Kompressionen im Geburtskanal auf den Schädel und die Wirbelsäule übergingen. So können Nackenverspannungen der Grund für Schlafstörungen sein und Fehlspannungen im Schädelbereich, z.B. Konzentrationsschwächen, erzeugen.
Solche körperlichen Fehlspannungen nehmen dem Kind Kraft: Der Körper muss mehr Energie aufwenden, um trotz dieser negativen Spannungen zu funktionieren. Diese Energie fehlt dann für andere Aktivitäten – das Kind zieht sich zurück oder es kämpft gegen den Energiemangel an und wird aggressiv.
Für die Therapie ist es wichtig, diese 3 Bereiche – physisch, psychisch und sozial – zusammenzuführen und zu behandeln, da sie miteinander zusammenhängen und sich oftmals gegenseitig bedingen. Die Osteopathie versucht, als sanfte Diagnose- und Behandlungsmethode mit ihrer ganzheitlichen Herangehensweise genau dies zu leisten.
Wie hilft Osteopathie bei Verhaltensauffälligkeiten?
Je nach Fall kann die Osteopathie unterstützend wirken oder alleinige Therapie sein – das hängt letztendlich von den Ursachen ab, die die Störungen hervorrufen. Daher ist eine gründliche Anamnese besonders wichtig. Dabei wird nicht nur die Krankengeschichte, sondern auch die soziale und familiäre Situation, Verhalten in Kindergarten/Schule und Zuhause erfragt. Die anschließende körperliche Untersuchung zeigt dann, ob weitere Therapeuten hinzugezogen werden müssen. Handelt es sich bei den vorhandenen osteopathischen Dysfunktionen um den Kern des Problems, kann die Behandlung einen gravierenden Umbruch in der Symptomatik des Kindes zeigen. In anderen Fällen ist es angeraten, nicht zu schnell vorzugehen. Ich möchte diese beiden Ansätze an 2 Fallbeispielen verdeutlichen.
Fall 1: ADHS
Eine Mutter brachte ihren 5½ Jahre alten Jungen in meine Praxis. Das Kind war sehr aggressiv, unruhig und nicht in der Lage, mit anderen Kindern zu kommunizieren oder zu spielen. Es ging darum, ob dieses Kind überhaupt in die Schule gehen kann, da es für seine Kindergartengruppe nicht tragbar war. Zu dem Zeitpunkt war der Junge bereits aus dem regulären Kindergarten entlassen und sollte in einen Sonderkindergarten und später auf eine Sonderschule wechseln. Der Junge hatte bereits mit 3 Jahren eine Therapie mit Ritalin begonnen und später noch andere Medikamente bekommen. Diese hatten allerdings nach einer kurzfristigen Wirkung von etwa 4 bis 6 Wochen immer wieder zu einer Verschlechterung geführt, so dass er keine Medikamente mehr bekam und deshalb extrem hyperaktiv war.
Während der einstündigen Behandlung wehrte sich der Junge so stark, dass ihn seine Mutter festhalten musste. Trotzdem war es wichtig, die Blockaden freizulegen und so die Selbstheilungsprozesse des Körpers zu aktivieren. Wie es bei ADHS-Patienten öfters der Fall ist, hatte er Fehlspannungen im Kopfbereich, und zwar im Bereich der Schädelbasis. Der Junge spürte, dass ich an seine Schwachstellen herankam.
Nach der Behandlung war er völlig verwandelt: Er stand von der Liege auf, nahm mich in den Arm, setzte sich dann an den Tisch und begann friedlich und ruhig zu spielen. Heute geht er wieder in den Kindergarten, ist sozial kompatibel, nicht auffällig und braucht keine Medikamente. Ich behandle ihn alle 6 bis 8 Wochen, damit er sein inneres Gleichgewicht behält und immer mehr zu sich findet. Seine Mutter sagt, es sei wie ein anderes Leben mit ihrem Kind. Wir werden die Abstände zwischen den einzelnen Sitzungen immer weiter verlängern, mit dem Ziel, nur noch bei Bedarf zu behandeln.
Fall 2: Traumata
Ganz anders musste im zweiten Fall vorgegangen werden. Mir wurde ein Mädchen überwiesen, das ihre Beine nicht mehr spürte und an den Rollstuhl gefesselt war. Die ärztlichen Untersuchungen waren alle unauffällig gewesen. Die osteopathische Untersuchung wies auf ein Trauma im Unterkörper hin. Wie sich herausstellte, war das Mädchen von ihrem Vater vergewaltigt worden. Die traumatische Erfahrung hatte sich in den Körperstrukturen des Mädchens regelrecht manifestiert. Als zusätzliches Symptom nässte sich das Mädchen ein, sobald sie dem Vater begegnete.
Die Patientin wurde 9 Monate lang psychotherapeutisch und osteopathisch behandelt. Dabei ging es darum, die traumatisierte Körperstruktur begleitend zum psychotherapeutischen Zugang behutsam zu befreien. Dies konnte nur langsam geschehen, um das Kind nicht plötzlich allen verdrängten Gefühlen auf einmal auszusetzen. Mittlerweile ist das Mädchen 13 Jahre alt, kann mit dem Geschehenen umgehen, wieder gehen und entwickelt sich insgesamt gut.
Weitere Anwendungsgebiete
Diese 2 Beispiele zeigen, dass die Osteopathie, auch zusammen mit anderen Therapieformen, gute Ergebnisse in der Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten erzielen kann, dass aber ihre Behandlung ebenso individuell ausfallen muss wie die Geschichte des Patienten. Vor allem bei so jungen und oftmals „schwierigen“ Patienten ist große Behutsamkeit und Sorgfalt unabdingbar. Ist man sich dessen bewusst, ist die Osteopathie eine Methode, die sich in besonderem Maße dafür eignet, Kinder sanft und nebenwirkungsarm zu behandeln, ihnen ihr Gleichgewicht wiederzugeben und sie darin zu unterstützen, ihren Weg zu finden.
Neben den bereits genannten Anwendungsgebieten sind Schlaf- und Konzentrationsstörungen hervorzuheben, bei denen eine osteopathische Behandlung ebenfalls gute Resultate erzielen kann. Daneben können durch das Lösen von Fehlspannungen bestimmte Formen von Depressionen behandelt werden, die auf einem Energiemangel basieren. Bei hormonell bedingten oder umfassenderen psychischen Störungen bietet sich die Osteopathie eher als begleitende Maßnahme an, die das allgemeine Befinden und den Stoffwechsel verbessern kann. Auch bei Stottern kann die Osteopathie andere Therapieansätze unterstützen.
Birgit Beinborn
D.O.® M.R.O.®, Osteopathin in eigener Praxis bei Nürnberg, Mitglied im Verband der Osteopathen Deutschland (VOD), mehrfache Buchautorin