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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 6/2016

Fallstudie aus der psychotherapeutischen Praxis: Schwere Anpassungsstörung

Cover

Patientin

Anna, 30 Jahre

Anamnese

In meine Praxis kommt eine junge, sehr schlanke Frau. Im Gespräch ist sie klar, strukturiert und offen. Sie wirkt konstruktiv und hat eine hohe Therapiemotivation.

Anna war als Kind wohlbehütet aufgewachsen, hatte eine Ausbildung zur Arzthelferin abgebrochen, war als junge Frau ins Drogenmilieu hineingerutscht, hatte sich in einen Zuhälter verliebt und im Alter von 18-22 Jahren als Hure gearbeitet. Es erfolgte eine Abtreibung in Holland. Anna wurde von ihrer Familie vom Zuhälter freigekauft.

Sie lebt mit ihrem Freund (Vater des 1 1/2-jährigen Sohnes) seit drei Jahren zusammen. Die Beziehung ist in dieser Zeit nur manchmal harmonisch.

Zu den geschiedenen Eltern hat sich der Kontakt verschlechtert. Eine Aussage ihres Vaters belastet Anna schwer. Bei einem Besuch hatte er ihr gesagt: „Es ist nicht schlimm, dass du als Hure gearbeitet hast.“ Sie hatte seinerzeit auf diese Aussage nicht reagiert.

Vor einigen Monaten hatte Anna auf dem Handy ihres Lebenspartners ein Nacktbild ihrer Freundin entdeckt und herausgefunden, dass die beiden ein Verhältnis haben. Daraufhin erfolgte eine Trennung von ihrem Lebenspartner für sechs Wochen. Die gesamte Situation trägt dazu bei, dass die Klientin zurzeit zum Stresstrinken neigt. Sie hat Angst vor dem Alleinsein, Angst vor Trennung.

Anna hat folgende Ziele:

  • Sie möchte lernen, sich selbst wieder wertzuschätzen.
  • Sie will arbeiten gehen und auf eigenen Beinen stehen.
  • Sie möchte das „Bild von der Straße“ loswerden (sie träumt jede Woche davon).
  • Sie möchte Rachegelüste gegenüber ihrer Ex-Freundin loswerden.
  • Sie möchte so sein wie früher: bescheiden, ehrlich, kommunikativ.

Verdachtsdiagnose

Schwere Anpassungsstörung, F 43.2

Therapie

1. Sitzung: Anna wählt eine erlebte Situation der Ruhe aus, in der sie völlig entspannt war. Diese verankere ich bei ihr in einem leichten Trancezustand. Bei der künftigen Bearbeitung von inneren Bildern, die sie belasten, kann dieser Ruheanker genutzt werden, wenn sie aufgeregt ist.

Ich führe Anna in die Aussage ihres Vaters hinein: „Es ist nicht schlimm, dass du als Hure gearbeitet hast.“ Vorher vermittle ich ihr, dass sie als erwachsener Mensch schon viel erlebt hat und deshalb – einfach aus ihrem Erfahrungsschatz heraus – einen großen Korb an Verhaltensmöglichkeiten besitzt, aus dem sie jederzeit auswählen kann. Ihr Unbewusstes wird ihr also im Trancezustand Möglichkeiten anbieten.

Sie erlebt die Situation beim Besuch des Vaters noch einmal als Film und reagiert unmittelbar auf seine Aussage. Sie sagt „Ich gehe“ und geht. Ihr jüngeres „Ich“, das sie als Film noch einmal erleben konnte, reagierte jetzt anders. Anna streckt auf dem Klientensessel die Arme aus, holt ihr jüngeres „Ich“ aus dem Film heraus und legt es sich auf ihren Körper. Sie integriert damit ein neues, selbstbewusstes Verhalten.

2. Sitzung: Anna erzählt, dass sie sich im Umbruch befindet. Sie will sich weiter entwickeln, ist ehrgeiziger geworden und hat regelmäßigen Kontakt zu ihrer Mutter. Sie möchte das „Bild von der Straße“ loswerden. Im Trancezustand sieht sie, wie sie in ihrer „Arbeitskleidung“ vor dem Spiegel steht. Sie macht sich davon ein Bild und hängt es im Wohnzimmer auf. Dann lässt sie das Bild verschwinden, bis nur noch die weiße Wand zu sehen ist.

3. Sitzung: Anna geht es gut, sie arbeitet als Gebäudereinigerin. Sie ist selbstbewusster geworden, das „Bild von der Straße“ ist weg, sie träumt nicht mehr davon. Anna möchte die Rachegelüste zur Ex-Freundin (Affäre ihres Lebenspartners) loswerden. Dazu hat sie ein bestimmtes Bild im Kopf: Sie und ihr Lebenspartner sitzen im Wohnzimmer und schauen gemeinsam mit der Freundin einen Film. Die Freundin ist sturzbetrunken und torkelt. Ich führe Anna in einem leichten Trancezustand in dieses Bild hinein. Sie schmeißt die Freundin raus und schließt die Tür. Dieses neue Verhalten ihres jüngeren „Ichs“ integriert sie auf dieselbe Art und Weise wie in der 1. Sitzung.

4. Sitzung: Annas Mutter ist stolz auf sie. Innerhalb der Familie wird registriert, dass sie ein ganzes Stück selbstbewusster geworden ist. Ihre Partnerschaft läuft besser, ihr Lebensgefährte will sich mehr an der Erziehung des gemeinsamen Sohnes beteiligen. Ihre Arbeit ist anstrengend, aber macht ihr Spaß.

Vor der letzten Sitzung erfolgt gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten eine von mir gestaltete „moderierte Paartherapie“. Jeder der Partner muss schriftlich gestellte Fragen für sich beantworten und die Antworten im paartherapeutischen Prozess seinem Lebenspartner persönlich aber wertschätzend offenbaren. Gegenseitige Ansprüche, Erwartungshaltungen, Kränkungen und Enttäuschungen werden so deutlich. Es werden Vereinbarungen zum künftigen Zusammenleben getroffen. Es gibt konkrete Ergebnisse, die von mir protokolliert werden. Diese Dokumentation hängt Anna gerahmt in ihrem Korridor auf.

Abschlussgespräch: Anna meint, ihr Leben verläuft in guten Bahnen. Sie ist wieder „die Alte“. Ihr Arbeitgeber hat ihr die Objektleitung für mehrere Gebäude angeboten.

Fazit

Anna ist jetzt stark und selbstbewusst. Sie hat alle ursprünglich verfolgten Ziele erreicht. Das war nur möglich, weil es gelang, die entsprechenden belastenden Problemstellungen zu identifizieren und mit den dazugehörigen Bildern (und Gefühlen) zu verbinden. Hilfreich mag aber auch die Bereitschaft zu einer Paartherapie gewesen sein. Dort mussten beide Partner mit den gegenseitigen Offenbarungen auch ein Stück Leidensfähigkeit beweisen. Über Vereinbarungen ist der Konsens gelungen. Die Prognose ist günstig.

Rainer WieckhorstRainer Wieckhorst
Heilpraktiker für Psychotherapie mit Praxis in Reinbek, Experte für NLP, Angst- und Panikstörungen

info@balance-concept.de 

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