aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 4/2017
Glosse: Das Leben der Anderen
Letztens im Urlaub: Ein Gespräch, das ich nicht belauschte, eher zufällig mithörte. Sozusagen ein Mitschnitt oder gar ein Ausschnitt aus dem Leben der Anderen. So nehme ich aufgeschnappte Gesprächsfetzen immer wahr. Als eine kleine Sequenz aus dem Leben von Fremden. Nicht dass ich da absichtlich meine Ohren größer drehe. Allerdings, wenn sich mir was Schönes bietet, dann muss ich wahrlich zuhören. Wie als Kind, wenn wir nachts durch die Städte Richtung Urlaubsort gefahren sind und ich die Lichter hinter den Gardinen sah. Meine Fantasie war da rege im Austausch mit meinen Gedanken. Was für eine Familie wohnt dahinter und welch wichtiger Moment geschieht gerade? Das Leben der Anderen mit der eigenen Vorstellungskraft zu beleuchten ist besser als jeder Spielfilm im Fernsehen!
Zurück ins Jetzt. Mein Mann und ich saßen nun zur Mittagszeit in einem sehr schönen Restaurant. Nach einer anstrengenden Fahrradtour folgt immer das Ziel. Also das, was die Anstrengung rechtfertigt. Es gab viele Leckereien. Da mein Blutzuckerspiegel unterirdisch war – gefühlt definitiv, nicht diagnosemäßig kontrolliert – entschied ich mich für Kuchen. Ich sah dabei nicht auf die Uhr, denn im Urlaub trage ich keine Uhr. Auch wenn andere Menschen meinen, dass in diesen Momenten die Zeit schneller oder langsamer vergeht, kann ich dazu nur sagen: Ich habe alle Zeit der Welt! Besonders wenn ich keine Uhr trage. Übrigens: Im Alltag halte ich es genauso, weil mich das Uhrtragen immer dazu verleitet, auch darauf zu schauen. Wenn das geschieht, entsteht in mir spürbarer Druck. Entweder weil ich weiß, dass es knapp wird, oder weil ich schon wieder zehn Schritte weiter bin und staune, wie langsam doch die Zeit vergeht. Da beide Varianten mir und meinem Gemüt schaden, trage ich keine Uhr. Mit Stolz kann ich verkünden, dass ich ein sehr pünktlicher Mensch bin. Meine Vermutung liegt nah, dass durch das Weglassen der äußeren Uhr meine innere Uhr exakt funktioniert.
In diesem Moment erreichte mich folgende Konversation: Am Nachbartisch saß ein Ehepaar. Auch sie waren im Urlaub, schließlich hatten sie einen Fotoapparat dabei. Zudem schienen sie zu Fuß unterwegs gewesen zu sein. Das schlussfolgerte ich aus den Wanderschuhen und den Regenklamotten, die sie trugen.
Er: Oh, die haben aber viel Kuchen hier. Ob die hier selber backen?
Sie: Das weiß ich nicht. Woher auch. Schließlich bin ich das erste Mal hier.
Er: Ich glaube, ich nehme ein Stück Kuchen. Der sieht so lecker aus.
Sie: Es ist jetzt 11:30 Uhr. Da isst man zu Mittag und nicht Kuchen!
Er: Aber der Kuchen sieht wirklich lecker aus.
Sie: Kuchen gibt es erst um 15 Uhr. Nicht zur Mittagszeit.
Er: Aber ein Stück geht doch.
Sie: Nein. Zur Mittagszeit gibt es Mittag und zur Kaffeezeit Kuchen. Du kannst dir einen Kaffee bestellen. Wundere dich dann aber nicht, wenn du heute Abend nicht in den Schlaf findest. Schließlich gibt es um 15 Uhr Kaffee und Kuchen.
Am Ende bestellte der Mann sich wirklich keinen Kuchen, nur ein Getränk. Ich war kurz davor, aufzustehen und ihm ein Stück Kuchen zu holen. Einfach so. Zur Mittagszeit. Egal ob das nun einer gesunden Ernährung guttut oder nicht. Es gibt eben diese Momente, in denen Zeit und Disziplin eine untergeordnete Rolle spielen. Da gilt es, den Moment zu genießen, ohne Druck.
Nachdem ich nun unfreiwilliger Zuhörer dieses Dialoges wurde, begannen bei mir die Gedankenspiele. Das ist das Ding, dass sich wie Karussellfahren anfühlt und am Ende zu Kopfweh führt. Ich überlegte, was schwerwiegender war: Dass es Menschen gibt, die so laut reden, dass ich gar nicht weghören kann, oder dass es Menschen gibt, die anderen Menschen vorschreiben, was sie tun oder lassen sollten? In manchen Lebensphasen mag das sehr unterstützend sein, ein Kleinkind z.B. ist sehr unbedarft und kann Risiken nicht einschätzen. Da ist es wirklich hilfreich, einen Erwachsenen an seiner Seite zu haben, der einige Erfahrungen mehr gemacht hat. Oder als Jungerwachsener, wenn die ersten beruflichen Entscheidungen anstehen. Da können Eltern buchstäblich Mehrwert liefern. Oder im hohen Alter, wenn die Kraft nachlässt.
Aber doch nicht als Erwachsener, und schon gar nicht im Urlaub! In der Zeit, in der wir es uns gutgehen lassen sollten – unabhängig von Zeit und Raum. Ich meine, das war ein Mann im mittleren Alter. Er hat bestimmt die eine oder andere Idee vom Leben. Da wird er doch wohl entscheiden können und dürfen, ob er zur Mittagszeit einen Kuchen möchte oder nicht. Allein bei dem Gedanken daran muss ich unwillkürlich den Kopf schütteln. Manche verwechseln eine Partnerschaft ja gerne mit einem Gefängnis. Nun gut, dieser Mann sitzt anscheinend drin. Ob nun selbstgewählt oder von außen dazu gedrängt, da kann ich nur spekulieren.
Allerdings ist dieser Dialog auch eine schöne Metapher dafür, wie viele von uns sich von außen beeinflussen lassen, ohne wirklich auf die eigenen Bedürfnisse zu hören. Gerade jetzt im Sommer, wo die Bikinifigur gefordert wird, hören die Menschen auf die Versprechungen von Pulvern und anderen Diäten. Sie machen das, was andere sagen, ohne abzugleichen, ob sie das mögen oder nicht. So ein Verhalten findet ebenso bei Mode oder Kochen oder was auch immer statt. Wie traurig ist das! Da wird die digitale Welt nicht als Informationsgeber genutzt, sondern eher als Vergleichsportal. Am 24. April 2017 (lt. Aussage eines Radiomoderators) wurde der PC 36 Jahre alt. So jung und schon so verdorben! Mischt sich einfach in unser Leben ein und gibt vor, wie wir zu leben haben. Unfassbar, unerhört, kann ich da nur sagen.
Nun kann ich der Dame aus dem Restaurant auch zu Gute halten, dass sie sich um ihren Mann gesorgt hat. Vielleicht ist er krank, hat Diabetes oder eine Fettleber und kann sich alleine nicht zügeln. Unter diesen Umständen wäre ihre Vorgehensweise sehr liebevoll. Reine Hypothese!
Und während all meine Gedanken im Karussell Kreis fahren und sich eine Idee an die nächste reiht, wird mir plötzlich bewusst, dass es doch eigentlich sch…egal ist, warum das Gespräch so gelaufen ist. Die beiden werden schon wissen, was sie tun – hoffe ich. Allerdings geht es anderen Menschen ähnlich wie mir. Sie schnappen etwas auf und, anstatt nachzufragen, spinnen sie sich ihre eigene Geschichte drumherum. Erzählen sie dann dem Nachbarn und der wiederum seiner Kollegin. Und zack, ist eine „Stille Post“ im Umlauf. In Kindheitstagen fand ich das Spiel ganz amüsant. Heutzutage, wenn Erwachsene dieses Spiel spielen, erlebe ich, was das für Auswirkungen haben kann. Denn auch wenn der Mann nicht seinem Bedürfnis nach Kuchen nachgekommen ist, so gibt es doch Dinge in seinem Leben, die ich von außen gar nicht beurteilen kann – und nicht beurteilen darf. Je negativer das Ding dann losrollt, umso mehr Schaden kann es anrichten. Für die betroffene Person kann so viel Unheil entstehen. Psychisch wie physisch.
Meine Bitte nach dieser kleinen Geschichte: Kümmert euch um euch und eure Bedürfnisse. Unterstützt andere in der Erfüllung ihrer. Und unterlasst Vermutungen. Esst zur Mittagszeit Kuchen und nutzt die digitale Welt als Informationsquelle. Genießt euren Urlaub und hetzt nicht der Zeit hinterher. Und vor allem: Sprecht nicht so laut an euren Tischen über private Dinge. Sonst hören die Nachbarsleute mit und kreieren ihre eigene Geschichte um eure Fakten.
Sonnige Grüße, Eure Jana Ludolf
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Mediatorin und Familiencoach in Bad Blankenburg
Foto: © euthymia / Fotolia.com
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