aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 6/1997
Suizid-Prävention
Prüfungsarbeit der Paracelsus Psychotherapie Studentin Sigrid Kaußmann, Hildesheim, die uns die freundliche Erlaubnis zur Veröffentlichung erteilte. Die Arbeit wurde von der Prüfungskommission unter Vorsitz von Dr.W. Weishaupt und Prof. Dr. H.-U. Ahlborn mit “sehr gut” benotet
Der Fall:
Für die Abschlußarbeit ihres Psychotherapiestudiums wählte Kandidatin Sigrid Kaußmann das Thema Suizid und erhielt vorliegende Fallstudie (Fall 2) zur Lösung:
Frau R. ist 54 Jahre alt und seit einem Jahr verwitwet. Sie hat sich zur psychologischen Beratung angemeldet, da sie über den Tod ihres Mannes nicht hinwegkommen könne. Sie erzählt, wie sie ihn zuhause lange Zeit gepflegt hat, bis er schließlich seinem Krebsleiden erlag. Bei dieser Schilderung spricht sie leise und stockend, manchmal auffällig verlangsamt. Nach dem Tod ihres Mannes habe sie Depressionen bekommen und sich freiwillig zur stationären Behandlung in ein psychiatrisches Krankenhaus begeben. Dort habe sie starke Medikamente bekommen. Gespräche hätten dort nicht stattgefunden. Von ständigen Selbstmordphantasien gequält, sei sie schließlich dort aus dem zweiten Stock gesprungen. Nachdem sie körperlich wiederhergestellt gewesen sei, lebe sie jetzt wieder seit einigen Wochen zuhause bei ihrer 17jährigen Tochter in der gemeinsamen Wohnung, die sie im Haus der Schwiegermutter bewohnten. Im Grunde erinnere sie dort aber alles an ihren verstorbenen Mann, besonders wenn sie allein zuhause sei. Ihre Tochter habe sich wohl recht schnell mit dem Tod des Vaters abgefunden. Sie wolle ihre Tochter auch nicht mit ihren Gedanken belasten; sie könne ihr ja auch nicht helfen. Tagsüber gehe die Tochter zur Arbeit, und ihr sei dann immer sehr langweilig. Freunde habe sie keine bzw. keine mehr. Die früheren Bekannten ihres Mannes hätten sich schon während der Krankheit mehr und mehr zurückgezogen. So fühle sie sich wirklich einsam und wisse tagsüber nichts mit sich anzufangen. Sie würde gern etwas arbeiten, aber auf dem Dorf sei sie völlig abgeschnitten. So verbringe sie viel Zeit im Bett. Von einer Neurologin bekomme sie weiterhin starke Medikamente, von denen sie gern loskommen würde, da sie so viele Nebenwirkungen hätten und sie so apathisch machten. Am liebsten würde sie sich umbringen, aber das könne sie ihrer Tochter nicht antun.
Einleitung
Ich habe das Thema Suizidale gewählt, weil ich der Ansicht bin, daß bei jährlich rund 12.000 vollendeten Suiziden und etwa 250.000 Versuchen in der Bundesrepublik Deutschland hier präventiv noch vieles getan werden kann und muß. Im Gegensatz zu Beratungsstellen für Drogenabhängige/ Suchtkranke, für Erziehungsprobleme oder Partnerschafts- und Familienkonflikte haben Selbstmordgefährdete in Relation dazu nur wenige Anlaufstellen. In erster Linie bietet sich ihnen die Telefonseelsorge an. In einigen Großstädten gibt es Einrichtungen wie den mir aus Hildesheim bekannten Verein für Suizidprävention. Davon ausgehend, daß sich in der Absicht zur Selbsttötung nicht nur die unbeantwortete Kernfrage nach dem Sinn des Lebens verbirgt, sondern zumeist die Summe verschiedener und lang andauernder Konflikte bündelt, halte ich intensivere präventive Arbeit in diesem Bereich für dringend erforderlich. Zudem sehe ich in diesem hochsensiblen Betätigungsfeld eine echte und fordernde Aufgabe für Psychologische Berater.
Suizidabsichten und Versuche sind kein Spiel, sie sind todernst!
Der suizidale Mensch glaubt nicht an den Sinn seines Lebens, aber er glaubt an den Sinn seines Sterbens-Glaubte er wirklich an keinen Sinn mehr – er könnte eigentlich keinen Finger rühren und schon darum nicht zum Selbstmord schreiten.” (Viktor E. Frankl: “Das Leiden am sinnlosen Leben”).
Für Fall 2 habe ich mich entschieden, weil mir aus meiner persönlichen Erfahrung heraus der Umgang mit Tod und Trauer, mit Sterbebegleitung und trauernden Hinterbliebenen vertraut ist.
In Sterbebegleitung und Trauerarbeit sehe ich neben der Suizidprävention einen weiteren Schwerpunkt in der Tätigkeit als Psychologische Beraterin.
Und Fall 2 ist ein Fall, der sich durch unbewältigte Trauer zur affektiven Störung entwickelt hat.
Anamnese und Exploration
Es ist natürlich nicht ganz einfach, Fall 2 zu beurteilen, wenn wesentliche Voraussetzungen wie das direkte Gespräch und der persönliche Eindruck nicht gegeben sind. Insoweit muß einiges als hypothetisch angenommen werden. In der Annahme, daß die 54jährige Klientin Frau R. mir gegenüber säße, wähle ich den nachfolgend beschriebenen Weg:
In einem ersten Gespräch bewerte ich den Entschluß der Klientin zu einer psychologischen Beratung als positiv und versuche, durch einfühlsame Befragung und aufmerksames Zuhören, ihre Rückbesinnung auf ihre Lebens- und Krankheitsgeschichte zu erreichen. Ich verzichte zunächst darauf, Frau R. mit einem vorgedruckten Fragebogen zu versorgen, orientiere mich aber teilweise an dem von Arnold A. Lazarus (Arnold A. Lazarus: “Fragebogen zur Lebensgeschichte”) entwickelten Anamnese-Fragebogen sowie an dem ebenfalls von Lazarus stammenden BASIC-ID-Modell (Arnold A. Lazarus: ,,Multimodale Verhaltenstherapie”).
In der Interview-Situation verdichtet sich das Bild; das ambivalente Verhalten der Klientin wird transparent.
Sie würde
- gern arbeiten, aber auf dem Dorf sei sie völlig abgeschnitten
- gerne von starken Medikamenten loskommen, die die Neurologin ihr verschreibt
- sich am liebsten umbringen, könne das aber ihrer Tochter nicht antun
In den Antworten von Frau R. sowie auch in den wenigen Spontanäußerungen findet sich bereits der Ansatz für eine mögliche Diagnose.
Zur weiteren Exploration erweist sich die von Arnold A. Lazarus entwickelte Methode des BASIC-ID als hilfreich, um die verschiedenen Verhaltensebenen der Klientin zu erfassen und damit zu einer genaueren Diagnose zu gelangen.
B = behavior (Verhalten)
Zusammengesunkene Körperhaltung, fahrige, unsichere Gestik, leise, stockende Sprechweise, kaum Spontanreaktionen, insgesamt ambivalentes Verhalten
A = affects (Affekte/Gefühle)
Trauer, Depression, Isolation
S = sensations (Sinnesempfindungen)
Reduzierte Empfindungen, stumpfer Blick, Gleichgültigkeit gegenüber äußeren Anreizen und Umwelt
I=ideas (Vorstellungsbilder)
Erinnerungen an Vergangenheit/Pflege des kranken Mannes bis zu dessen Tod, Selbstmordphantasien
C = cognitions (Glaubenssätze)
Mangelndes Selbstwertgefühl, Unfähigkeit des Loslassens, Gefühl der Überflüssigkeit und Wertlosigkeit
I = interactions (Beziehungen)
Sozialbeziehungen schwer gestört beziehungsweise nicht (mehr) vorhanden. Keine eigenen Freunde. Trotz gemeinsamen Hauses mit Schwiegermutter und 17-jähriger Tochter keine innerfamiliären Kontakte
D = drugs (Drogen)
Klientin nimmt Psychopharmaka. Starke Nebenwirkungen. Angeblich Auslöser für Apathie
Mit den durch BASIC-ID ermittelten Fakten ist bereits eine wesentliche Grundlage für die Diagnose geschaffen. Der aktuelle Konflikt – unbewältigte Trauer, Zerbrechen des ursprünglichen Beziehungsgefüges, suizidale Ideen – mit den Begleiterscheinungen der Isolation und Antriebslosigkeit muß vor dem Hintergrund der Familiengeschichte von Frau R. gesehen werden.
Diese kann allerdings nach den für Fall 2 vorliegenden Angaben lediglich als vermutlich zutreffend betrachtet werden.
Mit heute 54 Jahren gehört Frau R. zur Generation der Kriegskinder. Es ist nichts darüber gesagt, wer ihre Eltern waren, ob sie Geschwister hatte oder wie sie aufwuchs. (Dies ließe sich durch einen Fragebogen “Lebensbericht” aufhellen.)
Es scheint so, als sei Frau R. schon in ihrer Kindheit eher unbeachtet gewesen und auch niemandem zur Last gefallen. Zwar muß dies auch unter gesellschaftspolitischen Aspekten und vor den Ereignissen eines Krieges gewertet werden. Viele Kinder jener Zeit wuchsen unter derartigen Bedingungen auf. Frau R. ist jedoch im Verlauf ihres Lebens auch als erwachsene Frau den Grundmustern treu geblieben. Sie hat geheiratet, eine Tochter geboren, im Haus der Schwiegermutter auf dem Dorf gewohnt, ihren krebskranken Mann bis zu dessen Tod gepflegt. Sie hatte und hat keine eigenen Freunde. Offenbar hat sie stets das getan, wovon sie glaubte, daß andere es von ihr erwarten. Zudem hat sie den ausgeprägten Gedanken, anderen – sogar ihrer eigenen Familie – mit ihren Sorgen und Nöten zur Last zu fallen. Frau R. kann weder loslassen noch sich abgrenzen. Eigene Bedürfnisse hat sie nicht zugelassen.
Zur entwicklungspsychologischen Einschätzung kann ebenfalls der bereits erwähnte Anamnese-Fragebogen von Arnold A. Lazarus zu Rate gezogen werden. Nach entwicklungspsychologischer Betrachtung ergeben sich bei Frau R. Mängel in nahezu allen Entwicklungsstufen mit deutlichen Schwerpunkten in der ödipalen Phase sowie der Phase der ICH-Findung (Pubertät).
Bis heute wartet die Klientin auf Lösungen von außen, stellt eigene Bedürfnisse zurück, kann Trennung nicht verarbeiten, hat kein eigenes Wertesystem.
Auch daraus wird das symbiotische Verweilen bei ihrem toten Mann erklärbar: Sie begegnet ihrer ureigenen Verlustangst dadurch, indem sie sich an das klammert, was bereits verloren ist. Das führt unweigerlich zur emotionalen Austrocknung, zu einem als leer und sinnlos empfundenen Leben.
In dieser Situation sind suizidale Ideen häufig: der Suizid wäre eine Möglichkeit, die vielen Probleme, die sich bei einem großen Verlust stellen, zu “lösen”. Die Anzahl der Menschen, die nach dem Tod eines nahestehenden Angehörigen aber wirklich Selbstmord begehen, ist nach Studien eher gering (Bowlby, J. “Loss, Sadness and Depression”, Hogarth Press London 1980).
Verena Kast schreibt in ihrem Buch “Trauern – Phasen und Chancen des psychischen Prozesses”:
“Die Wohnungen, die seit dem Tod des Betrauerten nicht verändert wurden, sind ein Bild für den Lebensstillstand des Trauernden. Die Ausstoßung aus der symbiotischen Situation erfolgt auch hier gerade dadurch, daß die Symbiose übertrieben wurde. Um mit dem Verstorbenen symbiotisch bleiben zu können, wird dieser meistens sehr idealisiert. Dadurch werden Aggressionen abgespalten, der Trauernde wird depressiv und sucht Hilfe. Indem Hilfe gesucht wird, tritt ein anderer Mensch ins symbiotische System ein. In solchen Fällen wird meistens die Hilfe eines Therapeuten gesucht.”
Im Therapieansatz muß daher von vornherein klar unterschieden werden zwischen dem Verstorbenen und dem Therapeuten: Die Abgrenzung muß im ersten Gespräch deutlich werden. Andernfalls ist Therapie unmöglich.
Diagnose
Nach dem ausführlichen Kapitel zu Anamnese und Exploration läßt sich die Diagnose in Kurzform abhandeln. Frau R. zeigt die typischen Merkmale eines Opfers mit geschwächtem ICH. Sie leidet an Störungen des Affekts, des Antriebs und der Handlungen. Die latent bereits vorhandene depressive Verstimmung ist durch den Tod des Partners aufgebrochen. Diese Gefühlsneurose äußert sich in der Fehlverarbeitung des aktuellen Konflikts. Frau R. hat bereits einen Suizidversuch unternommen und hat weiterhin Selbstmordgedanken.
Nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen liegt bei Frau R. eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome vor (F 32.2.).Teilweise sind auch die Kriterien für F 33.2.- rezidivierende depressive Episode – durch die gegenwärtige schwere Episode ohne psychotische Symptome erfüllt.
Die Behandlung von Frau R. ist dringend erforderlich, um den Weg in die anhaltende affektive Störung nach F 34.0.C zu unterbinden.
Hierfür ist gegebenenfalls die fachärztliche Betreuung der Klientin erforderlich.
So, wie Fall 2 sich darstellt, sollte es allerdings auch durch psychologische Beratung möglich sein, Frau R. geeignete Lösungswege zur Bewältigung ihrer Problematik aufzuzeigen:
Es gibt immer einen anderen Weg!
Therapieziele
1. Ziele des Klienten
Frau R. sucht trotz aller Unentschlossenheit einen Ausweg aus ihrem Dilemma. Ihr Ziel ist bisher nicht klar definiert: Leben oder Sterben? Sie will Klarheit, um die für sie richtige Entscheidung zu treffen. Ein Therapie-Kontrakt nach dem beiliegendem Muster kann die Klientin dabei unterstützen, ihre Ziele zu formulieren.
2. Ziele des Beraters
Der Suizidgedanke der Klientin ist nach dem Prinzip “Mehr desselben” (Watzlawick) unbedingt ernstzunehmen und der Todeswunsch zu respektieren. Es muß dem Berater bewußt sein, daß der Mensch in der Krise, “der springende Mensch” (Dörner/Plog: “Irren ist menschlich”),der immer zwischen Untergang und Neuanfang steht, als freier Mensch handelt.
Ziel der Beratung ist es also, dem Klienten Hilfestellung bei der Suche nach Lösungen zu geben. Die Entscheidung muß der Klient treffen. Ziel kann demnach nicht sein, Frau R. den Selbstmord auszureden, sondern Ziel muß es sein, ihr Denkanstöße zu geben für andere Wege als diesen “letzten Ausweg”.
Erst wenn die Klientin andere Wege gründlich durchdacht hat, kann sie sich frei für oder gegen das Leben beziehungsweise den Suizid entscheiden:
Auch, wenn du nichts mehr hast – Zeit hast du immer noch!
Therapieplanung
Rahmen
4-Punkte-Kurztherapie
- Klare und konkrete Definition des Problems Erkennung und Konkretisierung der Pseudo-Probleme (Erste Sitzung, siehe Kapitel Anamnese und Exploration)
- Untersuchung der bisher versuchten Lösungen (Kapitel Anamnese und Exploration: Freiwillige Behandlung in psychiatrischer Klinik, starke Medikation, Suizidversuch)
- Definition des Behandlungszieles Eigenverantwortliches Handeln und Leben der Frau R.; ICH-Stärkung (Kapitel Therapieziele)
- Festlegung und Durchführung eines Planes zur Herbeiführung der Lösung (Kapitel Maßnahmen und Methoden: Gewählt wird eine Mischform aus Gestalt- und Gesprächstherapie, Verhaltenstherapie sowie Elementen der Transaktionsanalyse)
Maßnahmen und Methoden
Als psychologische Beraterin schlage ich eine auf 12 Termine begrenzte Kurztherapie mit wöchentlichen Sitzungen sowie zusätzlich einen Gruppenlehrgang für Autogenes Training der Grund- und Aufbaustufe vor. Ziel ist es, einen neuen Weg zu weisen und Problemlösungen 2. Ordnung (Watzlawick) anzubieten. Das Problem wird damit nicht in seiner Ursache, jedoch in seiner Wirkung verändert und in einen neuen, weiteren Rahmen gestellt. Alte Muster und Wege klären sich dadurch quasi nebenbei. Die Klientin soll veranlaßt werden, den selbstgesteckten Bezugsrahmen zu verlassen und zu erkennen, daß sie die Lösung für sich nur finden wird, wenn sie ihre eigenen, vermeintlichen Grenzen verläßt. Zum besseren Verständnis lasse ich sie diese Aufgabe lösen:
Suche nach 4 geraden,
zusammenhängenden Linien,
die alle 9 Punkte berühren.
Zeichenstift in einem Zug führen
und nicht neu ansetzen!
Sie wird durch das überraschende Ergebnis unmittelbar erkennen können, daß sie die Lösung nicht findet, wenn sie Grenzen setzt, die nicht vorhanden sind: Solange sie den selbstgesteckten Bezugsrahmen nicht verläßt, bleibt sie in ihrem Problem stecken. Durch diese einfache Aufgabe wird deutlich, warum das Problem der Klientin andauert. Aber es wird auch klarer, was sich ihr ganz unerwartet und paradox an Chancen eröffnet.
Nach dieser Vorbereitung schließe ich mit der Klientin einen
7-Punkte-Kontrakt,
der als Non-Suizid-Vertrag eingehalten werden muß. Für die Klientin wird zunächst nur das Minimal-Ziel “Kein Selbstmord bis zur nächsten Sitzung” erkennbar. Die 7 Punkte sind zudem für sie einhaltbar:
- Bei lebensbedrohlicher Krise werde ich zunächst versuchen, mich mit einer Entspannungsübung (Autogenes Training, Atemübung) zu beruhigen
- Ich werde auf Gefühle achten und ihnen nicht ausweichen
- Ich darf weinen, auch, wenn andere Menschen meinen, ich hätte genug geweint
- Ich darf es mir dabei und danach bequem machen
- Ich darf mich verwöhnen und selbst liebhaben
- Ich werde eine (vorher festgelegte) Vertrauensperson anrufen oder besuchen, wenn es mir nicht besser geht
- Ich werde meinen Berater oder die Telefonseelsorge anrufen, wenn mein Vertrauter nicht erreichbar ist
Zu Punkt 1 dieses Kontraktes zeige ich der Klientin eine einfache und sofort nachvollziehbare Atemübung. Außerdem empfehle ich ihr, Autogenes Training in einem meiner Gruppenkurse zu erlernen.
Dies zielt darauf ab, die Ressourcen der Klientin zu reaktivieren und ihre Kraftquellen auszuloten. Frau R. wird nach ihrem bisherigen Verhaltensmuster diese Vorschläge sehr wahrscheinlich als die von ihr gewünschte Lösung von außen betrachten und entsprechend befolgen. Tatsächlich werden sich jedoch durch diese “Hausaufgaben” Schritt für Schritt Aktivitäten entwickeln, kleine Erfolgserlebnisse einstellen und letztlich Energien freisetzen lassen.
Im weiteren Verlauf der Beratungsgespräche werde ich der Klientin immer wieder Aufgaben stellen, die in Szenen nachgespielt (zum Beispiel innere Konferenz/Rollenspiel mit einem leeren Stuhl) oder in einer Klärungsliste schriftlich beantwortet und dann persönlich durchgesprochen werden.
So lasse ich Fragen nach eigenen Stärken beantworten und bestehe auf mindestens drei Nennungen. Zu beantworten sind auch Fragen nach den Schwachstellen (negativen Seiten) sowie nach den Zielen. Ganz direkt: Was ist Ihr Ziel? Wohin wollen Sie? Wie kommen Sie dahin?
Für erforderlich halte ich auch die Kontrollfrage:
“Wie sehr wollen Sie sich Ihrentwegen, wie sehr wegen der anderen umbringen?”
Dies löst die Grübelfrage “Warum?” auf und verändert sie in “Wie kann ich mich und mein Schicksal beeinflussen?” (Dörner/Plog: “Irren ist menschlich”)
Sollten die suizidalen Ideen der Klientin und der Wunsch nach Wiedervereinigung mit ihrem verstorbenen Mann anhalten, entschließe ich mich zu der radikaleren Form der Symptomverschreibung nach Watzlawick:”Dann tun Sie es.Aber diesmal so, daß es klappt!”
Parallel dazu gebe ich der Klientin zu bedenken, wie exakt ein Suizid geplant werden muß, damit er nicht nur einen weiteren Mosaikstein in einer Kette mißglückter Lösungsversuche darstellt. Ich bediene mich dazu einiger Anregungen von Rene Diekstra und Gary McEnery (“Der letzte Ausweg – Denkanstöße für Selbstmordgefährdete”). So soll die Klientin nicht einfach nur aus dem Fenster springen und sich körperliche Schäden zufügen wie schon einmal. Sie soll die Todesart nach Wirksamkeit wählen und zuvor noch einiges erledigen:
Wenn sie auch sonst nichts mehr hat, Zeit hat sie immer noch.
In dieser Zeit soll sie sich von ihr wichtigen Dingen und Orten persönlich verabschieden. Vor allem aber soll sie persönlich oder in Briefen von den Menschen Abschied nehmen, die zu ihrem Lebenskreis gehören.
Im Verlauf eines solchen Prozesses wird es der Klientin klar werden, daß Selbstmord das absolute Ende ist, daß nicht nur alle Sorgen und Nöte mit einem Schlag gelöst sind, sondern eben auch die schönen und positiven Erlebnisse für immer vorbei sind. Wenn sie in diesem Bewußtsein noch immer den Tod wählt, dann muß ich diesen Willen im Sinn der Selbstverantwortlichkeit der Klientin respektieren.
Schließlich leidet die Klientin nicht an der “wirklichen Wirklichkeit, sondern an ihrem Bild der Wirklichkeit” (Watzlawick).
Erfolgskontrolle
Die Erfolgskontrolle erübrigt sich eigentlich, wenn Frau R. am Ende der Beratungszeit ihr Suizidvorhaben nicht ausgeführt und zudem schrittweise ihre selbstgewählte Isolation verlassen hat.
Dennoch lasse ich sie in der letzten Sitzung noch einmal “Innere Konferenz” abhalten und ein Rollenspiel darstellen. So sehen sowohl die Klientin als auch ich, wie sich beispielsweise ihre Ansprache an einen leeren Stuhl in der Diktion gewandelt hat.
“Das Leben ist wie ein Garten,
wenn er blühen soll,
darfst du nicht vergessen,
das Unkraut darin zu jäten.”
(Si)
Schlußbetrachtung
Am Ende meiner Auseinandersetzung mit dem Thema Suizid und dem Fall 2 stehen für mich Worte von Paul Watzlawick, die keiner Ergänzung oder Interpretation bedürfen:
“Wann immer es dem Leidenden gelingt – sei es spontan oder durch Therapie -, den scheinbar allumfassenden Rahmen seiner Wirklichkeit zu verlassen, so ist das die Folge eines merkwürdigen und schwer zu beschreibenden Sprungs aus diesem Rahmen heraus, eines Sich-Hochziehens-an-sich-selbst das dem Kunststück des Barons Münchhausen in nichts nachsteht. Und ich würde sogar soweit gehen zu behaupten, daß das Wesen wirksamer Therapie im Herbeiführen dieses Kunststückes liegt – wie schockierend die orthodoxen Schulmeinungen diese Form der therapeutischen Intervention auch finden und daher semantisch vernebeln mögen.” (Paul Watzlawick: “Münchhausens Zopf”)
Sigrid Kaußmann, Jahrgang 1949, findet von jeher die Balance zwischen alltäglicher Hektik und tiefer innerer Ruhe wichtig. Seit mehr als 20 Jahren befaßt sie sich mit verschiedenen Formen der Meditation. Basis war das Autogene Training, das sie zunächst für sich und inzwischen auch für andere weiterentwickelte. So formuliert sie individuelle und klientenzentrierte Texte für Phantasiereisen, die sie auf Band spricht und mit Meditativer Musik unterlegt.
Außerdem kümmert sie sich im Rahmen psychologischer Beratung vor allem um Sterbebegleitung, um Trauernde und manchmal auch um Suizidgefährdete. Dies alles tut sie in ihrer Freizeit, wie sie auch das Studium an der Paracelsus Schule Hannover nach Feierabend absolviert hat.
Im Hauptberuf ist Sigrid Kaußmann seit fast 30 Jahren Redakteurin. Die erste Hälfte davon hat sie bei großen Tageszeitungen in Lokalredaktion und Feuilleton gearbeitet. Seit 15 Jahren leitet sie die Redaktion einer lokalen Wochenzeitung und schreibt selbst vor allem kommunalpolitische Kommentare, Glossen und Portraits von bekannten und unbekannten Menschen.
LITERATURVERZEICHNIS
- Paul Watzlawick, John H. Weakland, Richard Fisch: “Lösungen” Verl. Hans Huber Bern – Göttingen – Toronto, 5. Aufl. 1992
- Paul Watzlawick: “Münchhausens Zopf” Serie Piper, Piper-Verl. München – Zürich, 2. Aufl. 1994
- Paul Watzlawick: “Anleitung zum Unglücklichsein” Serie Piper, R. Piper+ Co. Verl. München, Neuausg. 1988, 40. Aufl. 1995
- Paul Watzlawick: “Vom Schlechten des Guten oder Hekates Lösungen” dtv, R. Piper + Co. Verl. München, dtv München, 2. Auf. 1995
- Klaus Dörner/Ursula Plog: “Irren ist menschlich” Psychiatrie-Verl. Bonn” 8. Aufl. 1994
- Rene Diekstra, Gary McEnery: “Der letzte Ausweg – Denkanstöße für Selbstmordgefährdete” Kabel Verl. Hamburg 1992
- Verena Kast: “Trauern – Phasen und Chancen des psychischen Prozesses” Kreuz Verl. Stuttgart, 10. Aufl. 1989
- Viktor E. Frankl: “Das Leiden am sinnlosen Leben” Herder Spektrum, Herder-Verl. Freiburg – Basel – Wien, Neuausgabe/5. Aufl. 1991
- Henner Ertel: “Das Buch der Erkenntnis – Wissen aus dem Unbewußten” 19 Econ-Verl. Düsseldorf-Wien- New York -Moskau 1992
- Friedemann Schulz von Thun: “Miteinander reden” Band 1 Allgemeine Psychologie der Kommunikation, Störungen und Klärungen rororo-Sachbuch, Rowohlt Reinbek bei Hamburg, Original 1991, 450. – 9.Tsd. 1994
- Friedemann Schulz von Thun: “Miteinander reden” Band 2 Differentielle Psychologie der Kommunikation, Werte und Persönlichkeitsentwicklung rororo-Sachbuch, Rowohlt Reinbek bei Hamburg, Original 1989,140.- 169.Tsd 1993
- WHO (Weltgesundheitsorganisation): “lnternationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10” Verl. Hans Huber Bern – Seattle 1994
- Claudia Blindauer: “Psychiatrie in Frage und Antwort” Jungjohann Verl. Neckarsulm – Lübeck -Ulm, 2. Aufl. 1995
- Selvini/Palazzoli: “Die psychotischen Spiele in der Familie” Klett-Cotta Stuttgart 1992 (Original 1988 Mailand)
- Rüdiger Rogoll: “Nimm dich wie du bist – Einführung in die Transaktionsanalyse” Herder-Verl. Freiburg – Basel – Wien, 21. Aufl. 1990
- Claude Steiner: “Wie man Lebenspläne verändert – Das Skript-Konzept der Transaktionsanalyse” Original Grove Press New York 1974, Deutsche Erstausgabe Jungfermannsche Verl.sbuchhandlung Paderborn 1982, Deutscher Taschenbuch-Verl. München, 2. Aufl. dtv 1993
- Steffen Fliegel/Martin Zeitelberger: “Stichwort Verhaltenstherapie – Theorie und Praxis der Verhaltenstherapie” Heyne Verl. München 1994
Als NACHSCHLAGEWERKE wurden u.a. benutzt:
- Arnold A. Lazarus : “Fragebogen zur Lebensgeschichte” Übers. und erweitert von Zimmer/Echelmeyer, DGTV Tübingen Liz. 1978
- Arnold A. Lazarus : “Multimodale Verhaltenstherapie” Aus dem Amerikanischen von Stifter/Stiksrud, Asanger Verl. 1978
- Arnold A. Lazarus : “Angewandte Verhaltenstherapie” Aus dem Amerikanischen von Gudrun Theusner-Stampa, Klett-Cotta Stuttgart 1976
- Oerter/Montada: “Entwicklungspsychologie” Psychologie Verl.sunion Weinheim, 2. neu bearbeitete Aufl. 1987
- Carl Huter: “lllustriertes Handbuch der Menschenkenntnis” Siegfried Kupfer Carl-Huter-Verl. Schwaig i Nürnberg, 8. verbesserte Aufl. 1981
- Sigmund Freud: “Abriß der Psychoanalyse/Das Unbehagen der Kultur” Fischer Bücherei Frankfurt, Band 47,Aufl.258.- 270.Tsd. 1965
- C. G. Jung: “Welt der Psyche” Kindler Verl. München 1965
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