aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 1/1999
Multiple Persönlichkeitsstörung – Dissoziative Identitätsstörung – Teil 2
Deutsche Paracelsus Schulen Hannover | |
Teil 2 4.0 Anamnese und Exploration Die Diagnose Dissoziativer Störungen gilt im allgemeinen als ziemlich schwierig, da Multiple eine Fülle unterschiedlichster Symptome aufweisen. Im ersten Gespräch mit der Klientin bewerte ich den Entschluß zu einer psychotherapeutischen Beratung als positiv, da Multiple allgemein sehr mißtrauisch sind. Das Mißtrauen entsteht dadurch, daß sie Außenreizen oft hilflos ausgeliefert sind, sie erleben plötzliche und von ihnen nicht kontrollierbare, oft nicht einmal durchschaubare “Switche”, von “Personen”. Deshalb testen Multiple, bevor sie sich als solche zu erkennen geben, ihr Gegenüber oft sorgfältig und lange aus. Auch erkenne ich als positiv für die Behandlung an, daß die Klientin schon Erfahrung mit anderen Therapeut/-Innen gemacht hat. Die vorhergegangenen Therapien sind im allgemeinen hilfreich, da sie zum einen auf die Funktionalität der Klientin ausgerichtet waren und zum anderen auf die jetzt einsetzende Behandlung vorbereiteten. In der ersten Therapie wurde der frühe sexuelle Mißbrauch erkannt und eine Multiple Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Um diese Diagnosestellung zu überprüfen, versuche ich im Verlauf des diagnostischen Interviews durch einfühlsames Befragen der Klientin, aufmerksames Zuhören sowie intensives Beobachten die evtl. vorhandene “multiple Tarnkappe” zu durchschauen und “Switches” zu erkennen. Denn nur dadurch und durch zusätzliche formelle diagnostische Instrumente kann eine Multiple Persönlichkeitsstörung diagnostiziert werden. Für eine saubere DIS-Diagnose sollte man sich also Zeit lassen und Einzelbeobachtungen nicht überbewerten, weder pro noch Contra. Schließlich müssen nicht alle, die eine Dissoziierungsstörung aufzeigen, auch Multiple sein. Zusätzlich ist es ratsam, die klinischen Instrumente der DE-Skala oder das SCID-D einzusetzen. Natürlich ist es nicht einfach, so einen Fall zu bearbeiten, wenn wesentliche Voraussetzungen wie das direkte Gespräch und der persönliche Eindruck nicht gegeben sind. Aus den eben genannten Gründen ist es auch unmöglich, nach dem Erstgespräch eine solche Diagnose zu stellen. Tatsächlich kann ich erst dann eine MPS diagnostizieren, wenn ich mit den Alternativpersonen gesprochen habe. Das heißt also, wenn spontan oder bei Aufforderung an mindestens zwei verschiedenen Zeitpunkten immer ein charakteristischer “Wechsel” im Ausdruck, in der Mimik, Gestik, der Stimmlage etc. auftritt, sodaß die andere Person beim nächsten und übernächsten Mal “wiedererkannt” wird, kann man die deutliche Vermutung haben, daß die Betreffende multiple ist. Insofern muß einiges als hypothetisch angenommen werden. Um dem Thema gerecht zu werden, gehe ich – zumindest bis auf weiteres – von der Diagnose der MPS aus und begründe im weiteren Verlauf, wie ich darauf komme. Also nehme ich an, daß die 23-jährige Frau K. sich in meiner Praxis in einer konzentrierten face-to-face Situation befindet. Während des diagnostischen Interviews achte ich auf eine Veränderung der “Physiologie” (hier im Sinne des NLP gebraucht, d.h. als Konstellation von Wahrnehmungs-, Denk-, Fühl- und Verhaltensmustern, die äußerlich als Mimik, Gestik, Haltung, Atemmuster, Durchblutung etc. beobachtbar wird). Da die Klientin mir gegenüber schon äußerte, daß sie multiple sei, nehme ich nicht an, daß das “System” sich zu sehr gegen Entdeckung zu schützen versucht. Des weiteren kommt es häufig während eines längeren Gespräches zu sog. Beinahe-“Switches”, die durch einen geschulten Beobachter erkannt werden können, auch wenn der aktuelle “Host” eine Unterdrückung versucht. Als zusätzlichen Vorteil sehe ich die Länge des Gespräches an, da es für die Klientin unter diesen Voraussetzungen schwieriger ist, ihre “multiple Tarnkappe” aufrecht zu erhalten. Andere Innenpersonen könnten versuchen zu beobachten, was “draußen” geschieht und an der “Gastgeberin” vorbeihuschen, sodaß es zu den “Wechseln” kommen kann. In den Antworten von Frau K. findet sich bereits der Ansatz für eine mögliche Diagnose. Zur weiteren Exploration erweisen sich die von Ross in seinem Lehrbuch über MPS aufgrund einer Reihe von Studien über multiple “unspezifische” (nicht im engeren Sinne für die Störung typische) Merkmale als hilfreich:
Die von ROSS genannten Kriterien sind so umfassend, daß sich mit ihrer Hilfe sehr gut vorhersagen läßt, ob jemand Multipel ist. 4.1 Verhaltensanalyse So ein Trauma ist eine schreckliche, überwältigende Erfahrung, der das Kind nicht ausweichen kann, gegen die es nicht ankämpfen kann, die seine bis dahin in einer psychischen Entwicklung gewonnenen Abwehrmöglichkeiten eindeutig übersteigt und eine Todesnäheerfahrung erlebt. Eines der schwersten Traumata ist die Erfahrung sexueller Gewalt, da sie nicht nur psychisch verheerend ist, sondern auch die körperliche Integrität des Kindes zerstört. Das gesamte ICH, das dem Trauma ausgesetzt war, wird mit einer amnestischen Barriere vom Rest der Persönlichkeit abgespalten. Es gibt dann eine “Person”, die das Trauma erlebt hat und eine “Person”, die es nicht erlebt hat. Oft finden solche Identitätsspaltungen bereits während der Traumatisierung aufgrund der Unerträglichkeit des Erlebten statt. So kann es mehrere “Personen” geben, die jeweils nur einen Teil des Traumas erlebt haben. Der an Frau K. begangene sexuelle Mißbrauch durch den “ältlichen” Vater, und den Schwager, vermutlich aber auch durch andere Personen, überfluteten und traumatisierten sie. Die Bewältigungssysteme eines Kindes sind in diesem Alter noch nicht so stark ausgebildet, um sich selbst “helfen” zu können. Außerdem war “niemand da”, der Frau K. damals rettete, tröstete oder das nicht Verkraftbare gar erklärte. Ein Kind kann, wie schon erwähnt, am höchsten Punkt seines überflutenden Traumas den Hauptabwehrmechanismus, die Dissoziation, um zu überleben, einsetzen. Um seine eigene Identität vor dem Zerfall zu schützen, schafft die Psyche des Kindes eine dissoziative Barriere, es entsteht ein alternatives ICH. Diese alternativen Persönlichkeitsanteile halfen und helfen Frau K., weitere seelische und körperliche Verletzungen zu ertragen. Da die Mutter im Fallbeispiel nur soweit erwähnt, daß sie ihre Tochter nicht verstand, hat sie ihr vermutlich auch nicht helfen können. Somit wurden die frühen Dissoziationen von Frau K. auch nicht wahrgenommen. Frau K. oder einige stabile Persönlichkeitsanteile verfügen über gute Selbsthilfefähigkeiten. So suchte sie aus eigenem Antrieb nach therapeutischen Hilfen. Aber auch der Entschluß, wieder zur Schule zu gehen, um das Abitur nachzumachen, bestätigen die Selbsthilfefähigkeiten. 4.2 Entwicklungspsychologische Betrachtung Um sich entfalten zu können, brauchen Kinder die Achtung und den Schutz ihrer Mütter und/oder Väter, die sie ernst nehmen, lieben und ihnen ehrlich helfen, sich zu orientieren. Werden Mädchen statt dessen sexueller Gewalt ausgeliefert und somit verraten, betrogen und manipuliert, so wird ihre körperliche, seelische und geistige Integrität verletzt bzw. zerstört. Die Verletzung bzw. Zerstörung ihrer Integrität äußert sich insbesondere in Verhaltensänderungen oder -auffälligkeiten bzw. psychosomatischen Erkrankungen. Sie glauben, daß ihr Überleben davon abhängt, daß sie aufgezwungener Weise schweigen und das Geheimnis bewahren müssen. So sind sie im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos und entwickeln als Reaktion auf ihre traumatischen Erfahrungen Überlebensstrategien, um diese mit möglichst geringem Schaden zu überstehen, den Kern ihres Selbst und dessen lebenswichtigen Komponenten zu schützen und unverletzt zu erhalten. Jedes Mädchen reagiert unterschiedlich auf ihre sexuellen Gewalterfahrungen und entwickelt eigene Überlebensstrategien, wie z.B. die Spaltung in mehrere Persönlichkeiten. Gemeinsam sind betroffenen Mädchen bestimmte Grundgefühle: Vertrauensverlust, Sprachlosigkeit, Schuldgefühle, Schamgefühle, Ohnmachtsgefühle, Zweifel an der eigenen Wahrnehmung und Angstgefühle (Vergl. Britta Woltereck: Ungelebtes lebbar machen. Donna Vita, 1994). 5.0 Diagnose Nach dem ausführlichen Kapitel der Anamnese und Exploration läßt sich nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen eine Verdachtsdiagnose stellen. Verdachtsdiagnose deshalb, da ich anhand eines Fallbeispieles nicht in den persönlichen Kontakt mit der Klientin komme und deshalb einige Fragen offen bleiben. Bei Frau K. liegt eine dissoziative Persönlichkeitsstörung (multiple Persönlichkeit-ICD 10: F44.81) aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1) mit Neigung zur dissoziativen Fugue (F44.1) vor. Mein Vorschlag einer Behandlungsform ist eine ambulante, hochfrequente Einzelpsychotherapie. Das bedeutet ca. 2 Stunden in der Woche (im Schnitt je 50 Minuten). Die Zahl der wöchentlichen Sitzungen soll den funktionellen Status und die Stabilität der Klientin widerspiegeln. Eine Psychotherapie mit einer Multiplen dauert mit Sicherheit mehrere hundert Therapiestunden. Realistisch sind 4 – 8 Jahre. Fortsetzung in Heft 2/1999 |