aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 1/2009
Evolutionsbiologisch gesehen: Der Bauch lebt im Neandertal!
Warum wir unter so vielen ernährungsbedingten Krankheiten leiden
und was geändert werden sollte
Dr. rer. nat. Sabine Paul
Der engagierte Konzertpianist hatte innerhalb weniger Wochen stark abgenommen, quälte sich mit Durchfällen und chronischer Müdigkeit.
Für seine noch junge Karriere wurde der Leistungsabfall bedrohlich, die körperlichen Beschwerden lösten ernsthafte familiäre
Probleme und schließlich auch Existenzangst aus. Eine Reihe von Besuchen bei Spezialisten führte dann zur entscheidenden Diagnose:
Zöliakie – eine chronische Entzündung der Dünndarmschleimhaut, hervorgerufen durch das in glutenhaltigen Getreidesorten wie Weizen,
Roggen, Dinkel und Hafer enthaltene Klebereiweiß. Eine ursächliche Therapie gibt es nicht – der Patient muss sich daher für den Rest
seines Lebens glutenfrei ernähren, wenn er das Auftreten der unangenehmen Symptome verhindern will. Trotz aller Einsicht in diese
Notwendigkeit fällt dem jungen Mann die Ernährungsumstellung sehr schwer.
Nahrungmittelallergien
treten bei 40 % der Bevölkerung
auf
Von einer ähnlichen Problematik sind sehr
viele Menschen betroffen. Die Ursachen
von Magen-Darm-Beschwerden sind allerdings
vielfältig – und zudem unterschiedlich
häufig in der Bevölkerung verteilt.
Etwa einer von zweihundert Menschen
ist in Deutschland von Zöliakie betroffen.
Noch häufier sind in Mitteleuropa
verzögerte Nahrungsmittelallergien, die
schätzungsweise bei 40% der Bevölkerung
auftreten. An einer Fruktose-Malabsorption
leiden etwa 30 bis 40% und an
einer Laktose-Intoleranz ca. 10 bis 15%.
Warum sind Magen-Darm-Probleme
so häufig, aber auch Übergewicht und
verschiedene Allergien? Und warum sind
die häufig notwendigen Ernährungsumstellungen
so selten erfolgreich, sei es bei
Diäten oder bei anderen medizinischen
Indikationen? Die Deutsche Gesellschaft
für Ernährung stellt nach mehr als 50
Jahren Aufklärungsarbeit enttäuscht fest,
dass ihre Appelle und Anstrengungen nicht
fruchten: (Nicht nur) die Deutschen essen
nach ihrer Einschätzung zu fett und zu
salzig, zu wenig Obst und Gemüse. Allen
guten Vorsätzen zum Trotz kommen Menschen
offensichtlich kaum gegen bestimmte
Nahrungspräferenzen an. Ernährungswissenschaftler,
Mediziner, Soziologen und
Gesundheitspolitiker können das Problem
derzeit nicht lösen. Könnte es sein, dass
ein entscheidender Faktor bislang nicht
beachtet wurde?
Evolutionsbiologisch auf andere
Ernährung programmiert
Unterstützung bei der Lösung dieser
Rätsel könnten die Fachkreise bei einem
der bedeutendsten Biologen finden:
Charles Darwin, dessen Geburtstag sich
dieses Jahr zum 200. Mal jährt. In seinem
berühmten Werk “Über die Entstehung
der Arten durch natürliche Zuchtwahl”
beschrieb er vor 150 Jahren die Grundprinzipien
der Evolution. Demnach sind
oder waren alle erblichen heutigen
Merkmale und Verhaltensanlagen von
Organismen nützlich, da sie zu einer
bestimmten Zeit einen Überlebens- bzw.
Reproduktionsvorteil darstellen. Dies führt
dazu, dass langfristig körperliche Merkmale
und Verhalten optimal an ihre Funktion
in einer bestimmten Umwelt angepasst
sind. Ändert sich die Umwelt, können aber
auch andere Eigenschaften vorteilhaft
sein und die bisherigen Merkmale oder
Verhaltensweisen einen Nachteil darstellen.
Nicht nur im Darwin-Jahr 2009 lohnt
daher der Blick auf die evolutionsbiologischen
Zusammenhänge von Ernährung,
Stoffwechsel, Zivilisationskrankheiten und
Verhaltensbarrieren (1).
Die Menschheitsgeschichte ist von
ca. zwei Millionen Jahren Jäger- und
Sammler-Dasein in der Altsteinzeit (Paläolithikum)
geprägt. Die Ernährung dieser
Zeit lässt sich inzwischen sehr gut rekonstruieren.
Dabei fällt auf, dass sie sehr
vielfältig war: Neben Fleisch, Fisch (und
die heute für mitteleuropäischen Küchen
eher ungewohnten Insekten, Schlangen
und Weichtiere) bestand der Großteil der
Nahrung aus Früchten, Nüssen, Samen,
Beeren, Wurzeln, Knollen, Blättern, Blüten
und Pilzen. Durchschnittlich war etwa ein
Drittel der Nahrungsquellen tierischen
und zwei Drittel pflanzlichen Ursprungs
(2). Außerdem erhitzten die Jäger und
Sammler seit mindestens 800.000 Jahren
(vermutlich sogar seit 1,8 Millionen Jahren)
ihre Nahrung. Dadurch erschlossen
sie sich neue Nahrungsquellen, die roh
nur schwer verdaulich oder giftig wären
(3). Insgesamt entwickelten die Menschen
in dieser Zeit also ein Nährstoff-Optimierungsprogramm:
Die kontinuierliche
Suche nach einer sehr vitamin- und mineralstoffreichen
Kost mit vielen Ballaststoffen
und einem verhältnismäßig hohen
Proteinanteil.
Nur die beste Nährstoffversorgung
sicherte das Überleben
und die erfolgreiche
Reproduktion.
Im Lauf von Hunderttausenden von Jahren
bildeten unsere Vorfahren ein immer größeres
Hirnvolumen aus – der Energiebedarf
stieg daher stark an, denn das Gehirn
verbraucht am meisten Energie unter
allen Organen: ca. 20 bis 30%. Überlebensvorteile
hatten daher diejenigen, die
besonders energiereiche Nahrungsquellen
fanden. Unter den Nährstoffen ist Fett
der energiereichste. Mit 9 kcal / Gramm
hat Fett mehr als doppelt soviel Energie
wie Proteine und Kohlenhydrate. Zusätzlich
waren aber auch Nahrungsquellen
gefragt, die schnell Energie zur Verfügung
stellen können – und das sind vor allem
die einfachen Kohlenhydrate wie Glukose,
die im Stoffwechsel sofort zur Energiegewinnung
genutzt werden können. Insgesamt
entstand daher eine Geschmackspräferenz
für Quellen, die viel und / oder
schnelle Energie liefern, also ein Energie-
Maximierungsprogramm. Allerdings war
dieses Ernährungsprogramm nur unter
ganz bestimmten Umweltbedingungen
erfolgreich:
Die Lebensweise der Jäger
und Sammler war von Bewegungsaktivität
und körperlicher
Anstrengung geprägt.
Analysen der altsteinzeitlichen Skelette ergaben,
dass der Körperbau etwa heutigen
Profisportlern entsprach. Der Energiebedarf
war also nicht nur auf Grund des
zunehmenden Gehirnvolumens und der
großen Muskelmasse sehr hoch, sondern
auch auf Grund der energieaufwändigen
Lebensweise.
Divergenz von Genetischem
Programm und Nahrungsangebot
hat einen hohen Preis
Nach dem Ende der letzten Eiszeit begann
vor etwa 10.000 Jahren die Neolithische
(jungsteinzeitliche) Revolution: Die
Menschen wurden sesshaft und stellten
ihren Nahrungserwerb auf eine völlig
neue Grundlage um: auf Ackerbau und
Viehzucht. Kohlenhydrate wurden nun in
großem Stil nutzbar gemacht durch den
Anbau von Getreide. Als weiteres energiereiches
– und vor allem von den Jahreszeiten
unabhängiges – Nahrungsmittel
setzte sich Milch immer weiter durch. Vor
etwa 5.000 Jahren kam die Verwendung
von gepressten Pflanzenölen in größeren
Mengen und seit 500 Jahren die Gewinnung
von Zucker hinzu. Das altsteinzeitliche
Energie-Maximierungsprogramm blieb
auch weiterhin in Kraft: Wer Zugang
zu energiereichen Nahrungsquellen hatte,
profitierte vor allem bei schlechten Ernten
oder grassierenden Krankheiten und hatte
höhere Überlebens- und Reproduktionschancen.
Überraschenderweise führte diese neue
Ernährungsform aber nicht zu einer
verbesserten Gesundheit. Die Körpergröße
der Menschen nahm ab, es finden sich
signifikant mehr Schäden an den Zähnen
im Vergleich mit Jäger- und Sammlerkulturen.
Knochen- und Gelenkentzündungen
konnten von Paläopathologen nachgewiesen
werden, ebenso Hautkrankheiten und
eine erhöhte Sterblichkeit. Diese Funde
sind eindeutige Hinweise auf eine Fehl- und
Mangelernährung (4).
Vor gut 175 Jahren setzte dann ein weiterer
großer Umbruch ein: die Industrielle
Revolution. Sie bewirkte einerseits eine
starke Industrialisierung bei der Nahrungsmittelverarbeitung,
andererseits kam es
durch Hygienemaßnahmen, die Einführung
der Anästhesie in der Chirurgie und dem
Einsatz von Antibiotika zunächst zu einer
steigenden Lebenserwartung. Allerdings
veränderten sich die Haupttodesursachen.
Starben die Jäger- und Sammlergesellschaften
meist an Infektionskrankheiten,
durch Kindersterblichkeit und akute Verletzungen,
so fallen moderne Menschen in
der Regel chronischen Krankheiten zum
Opfer: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs
und Diabetes. Inzwischen sinkt die Lebenserwartung
sogar wieder, wie in den USA
seit dem Jahr 2000 in der Gruppe der unter
54-jährigen nachgewiesen wurde (5).
Wie konnte es innerhalb von nur 10.000
Jahren – und insbesondere in den
letzten 150 Jahren – zu solch drastischen
Veränderungen kommen? Evolutionsbiologisch
kann dies mit der Diskordanz- oder
Fehlanpassungs-Theorie erklärt werden:
Körperliche Gesundheit setzt
voraus, dass die genetischen
Anlagen eines Organismus
und seine Umwelt zusammen
passen.
Die den Körper und das Verhalten der
Menschen prägenden Gene haben sich
im Lauf von zwei Millionen Jahren an das
Leben als Jäger und Sammler bestmöglich
angepasst. Die moderne Ernährung unterscheidet
sich jedoch stark davon. Während
sich unsere Gene in den letzten 10.000
Jahren kaum verändert haben, bilden
unsere Nahrung und unsere Lebensweise
in vielerlei Hinsicht eine neue Umwelt. Die
notwendigen genetischen Anpassungen,
um die – evolutionär gesehen – neuen
Lebensmittel schadlos in großen Mengen
nutzen zu können, sind in diesem kurzen
Zeitraum größtenteils noch nicht erfolgt.
Kurz gesagt: Heute treffen paläolithische
Gene auf neolithische Ernährung und
Lebensweise – sie passen nicht mehr
zueinander, woraus sich eine Fehlanpassung
entwickelt, die zu gesundheitlichen
Problemen führt.
Schlechter Rat macht krank
Die offiziellen Ernährungsrichtlinien
propagieren viele Vollkornprodukte, Milch,
Obst und Gemüse, mäßig Fleisch, wenig
Fette und Zucker als gesunde Ernährung
für die Industrienationen. Eine optimale
Zusammensetzung der Makronährstoffe
werde mit ca. 53% Kohlenhydraten, 16%
Protein und 31% Fett erreicht (6). Diese
Vorgaben passen aber in vielerlei Hinsicht
nicht zu unserem paläolithischen Erbe
und zu unseren Nahrungspräferenzen.
Man kann daher sogar so weit gehen zu
behaupten, dass die Richtlinien nicht den
natürlichen Bedürfnissen der Menschen
entsprechen und damit letztlich sogar
krank machen können. Warum?
Die Zusammensetzung der Makronährstoffe
lag im Paläolithikum im Mittel bei
etwa 41% Kohlenhydrate, 37% Protein
und 22% Fett. Die heutigen Ernährungs-
Empfehlungen weichen davon deutlich
ab und führen zu einer starken Verlagerung
hin zu Kohlenhydraten und Fett. Die
vorherrschenden industriell gefertigten
Lebensmittel erleichtern zusätzlich den
umfänglichen Konsum von einfachen
Kohlenhydraten (Auszugsmehl, Zucker)
anstelle komplexer Kohlenhydrate aus
Gemüse und Früchten. In der Folge kommt
es häufig zu Störungen wichtiger Stoffwechselvorgänge:
z. B. chronisch überhöhte
Blutzucker- und Insulinspiegel mit Auswirkungen
auf den Kohlenhydratstoffwechsel,
der sich mit Diabetes mellitus und
Krebserkrankungen bemerkbar macht.
Die suboptimale Nährstoffsituation wird
auch durch die veränderte Beschaffenheit
unserer Nahrungsquellen verschärft.
Anstelle von Wildtieren und -pflanzen
werden heute in ihren Eigenschaften
veränderte Zuchttiere und Zuchtpflanzen
verwendet. Zudem werden Fette gehärtet
und in Formen überführt, die es natürlicherweise
nicht gibt, große Mengen an
raffiniertem Zucker und raffinierten Pflanzenölen
stehen zur Verfügung, Kochsalz
wird bei mehr als 90% aller industriell
verarbeiteter Nahrungsmittel zugegeben.
Ein typisches Beispiel ist auch das veränderte
Fettsäuremuster unserer Nahrung.
Bei den für den Körper wichtigen mehrfach
ungesättigten Fettsäuren hat sich das
Verhältnis in ungünstiger Weise hin zu den
pro-entzündlichen Omega-6-Fettsäuren
verschoben (Verhältnis Omega-6 zu Omega-3 im Paläolithikum etwa 2:1, heute
10-20:1). Störungen des Fettstoffwechsels
führen häufig zu Übergewicht und
Herz-Kreislauf-Erkrankungen (7). Hinzu
kommen Schädigungen der Darmflora
durch einseitige Ernährung, die Dysbiosen,
Mykosen und Mineralstoffmangel auslösen
können. Die Proteinunterversorgung
kann sich schließlich mit negativen Konsequenzen
bei der Neurotransmitterbildung
(die aus Aminosäuren erfolgt) bemerkbar
machen – ein möglicher Ausgangspunkt
für die Zunahme von Depressionen und
Konzentrationsschwächen.
Milch und glutenhaltige Getreide sind
heute Basis der Standard-Ernährungspyramiden,
waren aber als Nahrungsquellen
für Jäger und Sammler nahezu unbekannt.
Wie im Eingangsbeispiel der Zöliakie
gezeigt wurde, aber auch von den noch
häufiger vorkommenden verzögerten
Nahrungsmittelallergien bekannt ist,
können glutenhaltige Getreide massive
Darmschäden verursachen. Auch Milch ist
nicht problemlos verträglich. Ursprünglich
war der Zustand der Milchzuckerunverträglichkeit
verbreitet: Jäger und Sammler
bildeten nur während der Stillzeit das
Enzym Laktase, welches den Milchzucker
spaltet und verdaulich macht. Nach
Ende der Stillzeit wurde die Bildung der
Laktase eingestellt, da sie nicht weiter
benötigt wurde – andere Milchquellen
als Muttermilch waren nicht vorhanden.
Erst mit Beginn der Viehhaltung vor rund
8.000 Jahren breitete sich in Zentral- und
Nordeuropa die Fähigkeit aus, die Laktase
bis ins Erwachsenenalter aktiv zu halten
und so die Milch der Nutztiere als weitere
Energiequellen nutzen zu können (8).
Dass die meisten Menschen
in Mitteleuropa inzwischen
Milch vertragen, ist eines der
sehr wenigen Beispiele einer
genetischen Anpassung in
den letzten 10.000 Jahren
und deutet auf einen enormen
Selektionsvorteil hin.
Allerdings sind trotz überbordender Angebote
an Milch und Milchprodukten noch
immer ca. 15% der Bevölkerung Laktoseintolerant
– in anderen Ländern der Erde
ist die Laktose-Intoleranz noch weiter
verbreitet, teilweise bis über 90%.
Autoaggressive Erkrankungen wie Allergien
stehen ebenfalls mit der Ernährung
im Zusammenhang. Interessanterweise
reagieren die meisten Allergiker kaum
auf paläolithische Nahrungsquellen wie
Fleisch, Salat, Gemüse etc., jedoch überproportional
häufig auf Proteine, die erst
seit dem Beginn von Ackerbau und Viehzucht
in großen Mengen verzehrt werden
(Kuhmilch, Hühnerei, Getreide) oder sogar
erst vor wenigen Jahrhunderten aus anderen
Regionen eingeführt wurden (z. B. die
Erdnuss aus Südamerika). Auch bei den
immer bekannter werdenden verzögerten
Nahrungsmittelallergien (die Beschwerden,
meist Magen-Darm-Probleme, treten
mehrere Stunden oder Tage nach dem
Verzehr auf) findet man die meisten
Reaktionen bei den evolutionär neuen
Lebensmitteln: Kuhmilch, Hühnerei und
glutenhaltige Getreide. Nach Schätzungen
der British Allergy Foundation sind ca.
40% der Bevölkerung in Mitteleuropa
von dieser Problematik betroffen.
Evolutionär betrachtet liegt die Ursache
für viele der heutigen Stoffwechselstörungen,
Magen-Darm-Beschwerden und
Allergien in der weitgehenden Inkompatibilität
der modernen Ernährung mit
den genetisch fixierten Nährstoff- und
Energieprogrammen. Mit diesem Wissen
ließe sich die menschliche Ernährungsweise
theoretisch an eine ihren natürlichen
Bedürfnissen entsprechende und gesundheitsförderliche
Form anpassen. Erfahrungsgemäß
stößt man bei Ernährungsumstellungen
aber auf die Problematik,
dass Menschen eine ausgeprägte Vorliebe
für fette und zuckerreiche Nahrungsquellen
haben – eine Auswirkung unseres
seit fast zwei Millionen Jahren genetisch
fixierten Energie-Maximierungsprogramm,
das mit der Gehirnentwicklung im Zusammenhang
steht. Es ist also nicht einfach
eine Charakterschwäche, wenn Menschen
den Verlockungen von Kuchen, Torten,
Süßigkeiten, Softdrinks und Hamburgern
erliegen. Menschen sind sozusagen auf
Fett und Zucker programmiert, weil diese
Nahrungskomponenten in Mangelsituationen
der Vergangenheit einen Überlebensvorteil
darstellten – allerdings in
einer Umwelt, die durch deutlich höhere
körperliche Leistung gekennzeichnet
war als heute. Inzwischen sind fett- und
kohlenhydratreiche Nahrungsmittel kein
Mangel mehr, sondern im Überfluss
vorhanden, ein zusätzlich stark ausgeprägter
Bewegungsmangel führt damit zu
einer Energie-Disbalance. Die aktuellen
Folgen sind u. a. die rasante Zunahme
an Übergewicht, vor allem bei Kindern
und Jugendlichen, gefolgt von Diabetes
mellitus Typ II und koronaren Herzerkrankungen.
Aber Ernährungsempfehlungen
zur drastischen Fett- und Zuckerreduktion,
die die noch immer vorhandene Präsens
des Energiemaximierungs-Programms
einfach ignorieren, werden scheitern.
Glücklicherweise liefert das Wissen um die
evolutionären Zusammenhänge dennoch
einen Ausweg aus erfolglosen Ernährungsprogrammen.
Einwände oder Ausreden?
Mit Blick auf die Evolutionsbiologie
ist offenkundig: Unser paläolithisches,
genetisch fixiertes Ernährungsprogramm
passt nicht zur heutigen Umwelt und Lebensweise.
Die typischen Krankheiten der
modernen Zivilisationen sind die Folge.
Gelegentlich wird der Einwand erhoben,
dass diese Erkenntnis nichts anderes als
eine nostalgische “Paläo-Fantasy” sei,
dass man doch gar nicht genau wisse,
wie Ernährung und Lebensweise in der
Altsteinzeit wirklich aussahen, es sich also
um eine Art Steinzeitmärchen handele. Außerdem
habe die Evolution in den letzten
10.000 Jahren nicht still gestanden – also
seien auch Anpassungen an die neolithischen
Nahrungsmittel zu finden.
Natürlich ist es schwieriger, aussagekräftige
Daten zur Ernährung in der Altsteinzeit
zu sammeln als heutige Ernährungsgewohnheiten
zu studieren. Dennoch gibt
es eine umfangreiche Datenlage sowohl
durch fossile Funde als auch von rezenten
Jäger- und Sammlerkulturen. Außer der
Ausbildung einer Laktose-Toleranz (die
aber weltweit immer noch nicht vollständig
ist) sind bislang kaum nennenswerte
Beispiele für genetische Anpassungen
an die neolithische Ernährung bekannt.
Momentan sprechen alle Daten dafür,
dass sich die genetische Konstitution eben
nicht in größerem Ausmaß an die neue
Ernährung angepasst hat. Dies könnte
zukünftig zwar möglich sein, jedoch sind
die evolutionären Zeiträume, in denen dies
geschieht, so lang, dass wir diese Entwicklung
nicht mehr miterleben werden.
Auffällig ist auch, dass die Kritiker der
evolutionären Ernährungstheorie noch
keine Alternative aufbieten können, um
die beschriebenen Phänomene umfassend
und stringent erklären zu können – z. B.
warum wir heute an spezifischen Krankheiten
leiden oder warum ganz bestimmte
Allergene dominieren. Die Erklärung ist mit
einem evolutionären Ansatz jedoch sehr
gut möglich. Der “Paläo-Fantasy”-Vorwurf
erscheint daher vielmehr als Ausrede denn
als überzeugendes Argument – vielleicht
auch benutzt, um Fehler in der Ernährungspolitik
nicht offen legen zu müssen.
Zwei Alternativen stehen zur Verfügung,
um den aktuellen Gesundheitsproblemen
zu begegnen:
- weiterhin ratlos abwartend und mehr
schlecht als recht die offiziellen Ernährungsempfehlungen
umzusetzen und undifferenziert an die vorherrschende Form
von gesunder Ernährung zu glauben oder - mit evolutionsbiologischem Wissen
Ernährungsprogramme zu formulieren, die
den natürlichen menschlichen Bedürfnissen
und Präferenzen entsprechen und
damit eine hohe Chance auf erfolgreiche
Umsetzung haben.
PaläoPower: Wie Ernährung
erfolgreich umgestellt werden
kann
Menschen haben im Lauf ihrer evolutionären
Geschichte zwei unterschiedliche
Ernährungsprogramme entwickelt. Das
Nährstoff-Optimierungsprogramm führte
zu Vielfalt, Qualität, einer ausgewogenen
Mineralstoff-, Vitamin- und Proteinversorgung.
Die daraus entstehende Vitalität,
die in zwei Millionen Jahren erfolgreichen
Überlebens im Paläolithikum entwickelt
wurde, ist unsere “PaläoPower”, die
wiederentdeckt werden sollte. Gleichzeitig
existiert aber auch ein Energie-Maximierungsprogramm,
welches eine starke
Präferenz für fett- und kohlenhydratreiche
Nahrungsmittel ausgebildet hat. Beide
Programme waren unter paläolithischen
Bedingungen erfolgreich und wurden über
Lust- / Unlustgefühle bei der Auswahl der
Nahrungsmittel umgesetzt.
Nach Lust und Laune essen
ist daher sehr wichtig –
jedoch im Bewusstsein, dass
die Energiemenge nicht mehr
limitiert ist und die Nahrungsquellen
heute nicht immer
die beste Qualität haben.
Welche Komponenten sollte daher ein
erfolgreiches Programm zur Ernährungsumstellung
unter evolutionsbiologischem
Aspekt umfassen?
- Die Zusammensetzung der Nahrungsmittel
sollte sich an den paläolithischen
Vorgaben orientieren: im Mittel bei etwa
41% Kohlenhydrate, 37% Protein und
22% Fett. Bevorzugte Quellen sollten
Gemüse, Salat, Früchte, Nüsse und Pilze
(insgesamt etwa zu zwei Dritteln) sowie
Fleisch, Fisch, Meeresfrüchte (insgesamt
etwa ein Drittel) sein. - Auf die individuelle Verträglichkeit
unserer Nahrungsmittel sollte intensiv
geachtet werden. Dazu zählen vor allem
glutenhaltige Getreide, Milch und Hühnerei. - Vielfalt und Qualität (artgerechte
Tierhaltung, Urformen etc.) sollten im
Vordergrund stehen, um die Nährstoffe in
optimaler Zusammensetzung zu erhalten.
Möglichst frische, naturbelassene und
wenig industriell verarbeitete Nahrungsquellen
sollten den höchsten Anteil
ausmachen. - Die Energiebalance sollte durch körperliche
Bewegung, bevorzugt im Freien,
gefördert werden. - Die genetisch fixierte Vorliebe für
fett- und kohlenhydrat- / zuckerhaltige
Speisen muss ernst genommen und diese
Nahrungsquellen angemessen zugelassen
werden. Verbote und zu starke Restriktionen
sind kontraproduktiv und werden
erfolglos bleiben. - Gemeinsam genießen statt verbieten:
Entscheidend ist es, Genuss – möglichst
auch in Gemeinschaft – zu erzeugen.
Genuss macht Familienmitglieder, Freunde
und Arbeitskollegen zu Mitstreitern im
sozialen Umfeld, die zur erfolgreichen
Umsetzung entscheidend beitragen.
Die größten Schwierigkeiten bei der Umsetzung
dieser Forderungen bereiten die
Anforderungen des modernen Alltags: Der
Bedarf an einfacher, schneller, unkomplizierter
Nahrungsaufnahme – auch auf
Reisen – wächst, während das Angebot
in Supermärkten, Restaurants, Rast- und
Tankstellen kaum den oben geforderten
Aspekten entspricht und derzeit noch
einiges an Eigeninitiative abverlangt.
Andererseits ist es häufig einfacher als gedacht,
auf natürliche Weise zu genießen.
Inzwischen finden sich glücklicherweise
immer mehr hochwertige Nahrungsmittel
und schmackhafte “PaläoPower”-Rezepte,
die oft ohne Gluten, Milch und Ei auskommen.
Auf eine kurze Formel gebracht
lautet das Erfolgsgeheimnis natürlicher,
gesundheitsförderlicher und genussvoller
Ernährung:
Evolutionsbiologie der
Menschen verstehen –
konsequent anwenden –
und genießen.
Dr. rer. nat. Sabine Paul
ist Molekular- und Evolutionsbiologin
mit interdisziplinärer Promotion
zur Technikfolgenabschätzung.
Sie ist seit 1999 als Leiterin
des wissenschaftlichen Marketings
verschiedener Unternehmen tätig
und arbeitet zudem als freiberufliche Wissenschaftsautorin,
Referentin und Trainerin insbesondere
zu den Themen Gentechnik,
evolutionäre Ernährung, evolutionäre
Medizin und evolutionäre
Psychologie. Aktuelle Publikation:
Der Darwin-Code (siehe Lit.).
Literaturhinweise
- 1. Junker, T., S. Paul. Der Darwin-Code: Die
Evolution erklärt unser Leben. C.H.Beck Verlag,
München, 2009, ), www.darwin-code.de - Eaton, S.B., M. Konner. Paleolithic
nutrition – a consideration of its nature
and current implications. The New England
Journal of Medicine 312:283-289, 1985 - Wrangham, R., N. Conklin-Brittain. Cooking
as a biological trait. Comparative Biochemistry
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