aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 3/2016
Faszien-Yoga
Revolutionäre neue Ansätze für die integrale Yogapraxis
Öffnen wir ein Yogabuch aus den 1950eroder 1960er-Jahren, so finden wir Abbildungen einzelner Körperhaltungen, die heute in dieser Form nicht mehr durchgeführt werden: zu große Belastungen für die Gelenke, nicht wirbelsäulengerecht, zu statisch etc. Seitdem haben neue Forschungen und viele Erfahrungen unser Wissen vom Yoga erweitert und die Yogapraktiken verändert.
Reformieren aktuelle Forschungen den Yoga?
Ein neuer, integraler Ansatz könnte die traditionellen Yogamethoden reformieren. Die Erkenntnisse aus der Faszienforschung bestätigen nicht nur die bekannten körperorientierten Yogamethoden, sie zeigen auch Wege auf, diese noch zu verbessern. Faszien- Yoga verspricht eine Steigerung durch die ganzheitliche Synthese der guten Qualitäten des Hatha-Yoga mit den aktuellen Ergebnissen der Wissenschaft.
Was hat Leonardo da Vinci mit den Faszien zu tun?
Bekannt sind die Faszien seit vielen Jahrhunderten, jedoch hatte man ihnen wenig Beachtung geschenkt. Rein äußerlich betrachtet sind es unscheinbare Strukturen, die als räumlich trennende, seröse Häute Muskeln und innere Organe umhüllen. Faszien schützen die Knochen und umgeben Gehirn und Nerven. So wurden sie lange Zeit nur als eine Art „Verpackungsmaterial“ angesehen. Wie konnte es passieren, dass Faszien nur in ihren äußeren Formen definiert wurden, über ihre Funktionalität jedoch kaum etwas Differenzierteres bekannt ist?
Leonardo da Vinci erforschte und zeichnete als einer der Ersten fasziale Strukturen – das war um 1500. Bis in unsere Zeitepoche hinein untersuchte man bindegewebige Strukturen an Verstorbenen mit der historischen Methode des Sezierens. Welche Erkenntnisse dürfen wir aber über funktionelle Zusammenhänge erwarten, wenn wir totes Gewebe untersuchen? Jeder, der sich an die Arbeit oder einen Besuch im Anatomiesaal erinnert, weiß um diesen gravierenden Unterschied: Lebendiges Gewebe ist mit verstorbenem nicht vergleichbar und reagiert völlig anders.
Wer arbeitet eigentlich mit lebenden Faszien?
Sowohl in der Sportmedizin wie auch in den Trainingswissenschaften sind die Faszien sehr populär geworden. „Gewebe des Lebens“, so werden die faserreichen, oft netzartigen Strukturen von vielen Medien benannt. Der Titel lässt Rückschlüsse auf die Wertigkeit zu.
In Körpertherapien bzw. in körperorientierten Methoden – etwa bei Osteopathen, Physiotherapeuten, Rolfern, Masseuren und Yogalehrern – gehört die manuelle Arbeit an bindegewebigen Strukturen zum „täglich Brot“. Hier werden die physischen Ausdrucksformen der Wechselwirkungen zwischen Körper und Psyche in vivo beobachtet, erfühlt, ertastet. (Physische Aktionen wie auch physiologische Zustände beeinflussen Emotionen, Gedanken und Einstellungen. Im Umkehrschluss erzeugen Gefühlszustände reaktive Veränderungen in Körpergeweben.) Eine gestresste fasziale Struktur fühlt sich verhärtet, widerstandsfähiger an und kann unter manuellen Einwirkungen mit Schmerzen reagieren. Mit diesen Reaktionen arbeitet man im Yoga und in anderen „Mind-Body-Medizin-Konzepten“.
Aktuelle Forschungen entdecken Jahrhunderte alte Irrtümer
Vielleicht war es die Ignoranz der Anatomen und Chirurgen, die diesem „Verpackungsmaterial“ bestenfalls eine untergeordnete Bedeutung zuerkannten, die dazu beigetragen hat, dass bis in die heutige Zeit so wenig über die funktionellen Zusammenhänge des Fasziensystems geforscht wurde. Zum Teil ist dieses Versäumnis sicher den damals noch nicht vorhandenen Untersuchungsmethoden geschuldet. So können innovative Techniken, die Mikro-Endoskopie etwa, seit Kurzem mit hochauflösenden Mikrokameras Filmaufnahmen von Zwischenzellräumen und der Mikrozirkulation innerhalb bindegewebiger Strukturen in vivo liefern.
Unlängst fanden Biomediziner Mengen von Sinnesrezeptoren, besonders Schmerz- und Bewegungsrezeptoren (Nozi- und Propriozeptoren), in faszialen Geweben. Die Mehrzahl dieser Rezeptoren sind nach aktuellen Forschungsergebnissen in den Faszien verortet. Damit ist das fasziale Körpernetzwerk dichter mit Sinnesrezeptoren ausgestattet als die Muskulatur. Schmerz- und Raumwahrnehmung entstehen demnach in den faszialen Strukturen und weniger in den Muskeln! Dies eröffnet nicht nur eine neue Sicht auf therapeutische Maßnahmen, es wird vielmehr eine Neubewertung der Rolle der Faszien in der Schmerzentstehung notwendig machen.
Darüber hinaus: In seinen funktionellen Anteilen ist das Bindegewebe sogar das Sinnesorgan, das Eigenwahrnehmung im Sinne von Körperbewusstsein überhaupt erst möglich macht! Es kommuniziert mit einer Vielzahl immunologischer Faktoren und hat eine engmaschige Vernetzung zum Nervensystem. Es ist beeindruckend, wie die Grundlagen der Medizin gerade „neu entdeckt“ werden.
Faszien: Woraus bestehen sie? Was können sie?
Faszien sind feine, milchigweiße, bindegewebsartige Häute, die sich wie ein Netzwerk durch den gesamten Körper ziehen. Man kann sich die Faszien als ein Geflecht von sich überlagernden, geschmeidig aneinander gleitenden Folien vorstellen. Dabei ist lebendes Bindegewebe an jeder Bewegung beteiligt und durchzieht als ein alles verbindendes Netzwerk den gesamten Körper von Kopf bis Fuß, von außen (fascia superficialis) nach innen (fascia profunda). Eine hilfreiche Analogie ist die Architektur einer Zitrone.
Strukturell bildet das Bindegewebe eine Vielfalt von unterschiedlichen Erscheinungsformen, z.B. als elastische und kollagene Fasern (Elastin bzw. Kollagene), als Bindegewebezellen (Myo- und Fibroblasten), als flüssig-gelartiges Medium (Matrix oder Extrazellularraum). Die fest-elastischen kollagenen Fasern bilden Meniski, Bandscheiben, Knorpel, Bänder, Sehnen, Sehnenplatten (Aponeurosen) sowie Gelenkkapseln; die weich-elastischen Gewebeformen umhüllen z.B. Knochen (Periost) und Organe (facsia visceralis) und durchziehen Muskeln.
Als lockeres Bindegewebe füllt es Geweberäume und sorgt für harmonische Körperformen. Als gelartige-wässrige Grundsubstanz (Matrix) enthält es Strukturproteine (Fibroblasten), unzählige Sinneszellen, Druck- und Schwingungs-, Schmerz- und Bewegungsrezeptoren (Nozi-, Mechano-, Propriozeptoren), Fettzellen, Enzyme und Botenstoffe (u.a. Hormone, Zytokine, Immunzellen) und Mengen an Hyaluronsäure als Wasser bindende Substanz.
Chronischer Rückenschmerz – Eine verfilzt fasziale Katastrophe
Gesundes Bindegewebe ist fest und elastisch zugleich, biegsam wie ein Bambus und reißfest wie Zahnseide. Durch Stress, Bewegungsmangel, Traumen, einseitige Körper- oder Schonhaltungen verkürzen, verkleben oder verhärten die Faszien. Im Fachjargon spricht man von „Verfilzungen“. Das in den Faszien enthaltene Elastin wird dabei zunehmend durch das kaum dehnbare Kollagen ersetzt, zusätzlich wächst das Volumen der Faszien um ein Mehrfaches – sie verdicken und versteifen. Dies führt dazu, dass die Faszien ihre Gleitfähigkeit verlieren und der Bewegungsspielraum von Muskeln und Gelenken sich deutlich verkleinert. Folgen: Zunehmende Unbeweglichkeit, myofasziale Verkürzungen und Dysbalancen, Verfilzungen, Schmerzen. Der in Deutschland so oft diagnostizierte „Chronische Rückenschmerz“, mit 80% „Ursache unbekannt“ und häufig klinisch o.B., liefert eine beispielhafte Vorlage für diesen Prozess.
Gute Faszienpflege sorgt für ein kraftvolles Bindegewebe
Faszien lieben Bewegung! Mit speziellen Asanas (Körperstellungen im Raum) können wir den Zustand der Faszien gezielt beeinflussen. Stimulanzien für eine optimale „Faszienpflege“ sind: Ungewohnte Bewegungsmuster, Vermeiden von einseitigen Haltungen, tägliches Stretching, gezieltes Setzen von Kältereizen, Bürstenmassagen, optimierte Ernährung (besonders nach Übungsintervallen), ausreichende Trinkmengen, Einhaltung der Regenerationszeiten und hin und wieder einige Entschlackungstage.
Welche Konsequenzen ergeben sich für die integrale Yogapraxis?
In der Regel werden die aktuellen Erkenntnisse aus der Faszienforschung im traditionellen Yoga nicht berücksichtigt. In nur wenigen Yogastilen, wie z.B. im Yin Yoga, praktiziert man tiefe, sog. schmelzende Dehnungen, die mit langer Verweildauer ausgeführt werden – wie sie auch im Faszientraining als „Melting Stretching“ bekannt sind.
In der Praxis des integralen Faszien-Yoga wird mit folgenden Elementen gearbeitet, um das fasziale Netzwerk wiederzubeleben:
- Differenzierte Methoden in der Arbeit mit Asanas (z.B. spezielle Bewegungsmuster bei dreidimensionaler Aufspannung der Faszien, modifizierte Dehntechniken unter Einbeziehung von Dehnung langer Faszienketten)
- Triggerpunkt- und Triggerbandstimulationen
- Re-Hydrationstechniken
- Spezielle Faszienpraktiken: Rebound Elasticity, Fascial Stretch, Melting und Dynamic Stretching, Active Loaded Stretching, Fascial Release, Sensory Refinement (ständige Erweiterungen nach aktuellem Forschungsstand)
- Energie- und Atemtechniken (mudra, bandha, pranayama)
- Imaginations- und Trancetechniken (dhyana, yantra, nidra)
- Vermittlung von innovativen Ernährungsformen (Green Smoothies)
- Stoffwechsel aktivierende Reinigungstechniken (kriya)
Korrekte Anwendung der Techniken gibt Sicherheit und optimale Ergebnisse.
In Kombination mit traditioneller Asana-Arbeit erweisen sich fasziale Elemente als optimale Ergänzung zu bekannten Yogapraktiken. Ein entsprechendes Knowhow ist auch deshalb sinnvoll, da Faszien völlig anders auf Trainingsreize reagieren als z.B. die Muskulatur! Unter anderem spielt das richtige Timing in Bezug auf Regenerationszeiten eine wichtige Rolle. Man sollte sich z.B. mit den speziellen Dehntechniken des „Faszial Dynamic Stretching“ (endgradig-federnde Dehnmuster) auskennen sowie den eigenen Körper in puncto Belastung einschätzen können. Sonst könnten Überdehnungen im Nachgang schmerzhafte und u.U. langwierige Gelenksaffektionen auslösen. Oder die tagelang anhaltenden Schmerzen erinnern daran, dass bei der letzten Übungssession mit der Faszienrolle die falschen Triggerpunkte bedient worden sind. Fazit: Nur die korrekte Anwendung und Kenntnis der Übungstechniken wird Sicherheit vermitteln und optimale Ergebnisse liefern!
Darüber hinaus sind die speziellen Hilfsmittel wirkungsvoll für die fasziale Stimulation einsetzbar: Große und kleine Schaumstoffrollen, Triggerbälle und Noppenroller dienen zur Anregung der tieferen Gewebeschichten, die anders nicht erreicht werden können.
Fasziengerechte Ernährung für ein vitales Bindegewebe
Einige Studien haben gezeigt, dass eine gesteigerte Durchblutungsrate durch Bewegung der faszialen Anteile mehr Nährstoffe zu den Geweben befördert, das Gewebe elastischer macht und alle Regenerationsvorgänge verbessert. Eine gezielte Ernährungsumstellung wirkt sich deshalb positiv auf die Trainingseffekte aus und optimiert die Stoffwechselvorgänge in den Geweben.
Beispiele:
- Ein balancierter Eisenspiegel sorgt für einen erhöhten Sauerstofftransport in jede Zelle; ein Umstand, dem besonders in der Yogapraxis viel zu wenig Beachtung geschenkt wird.
- Auch ist eine ausreichende Zufuhr von Vitamin C im Kontext zu faszialen Übungstechniken sinnvoll. Mit der Herabsetzung der Blutgerinnungsfähigkeit erhöhen sich die Fließeigenschaften des Blutes. Folge: Bessere Versorgung aller bindegewebigen Strukturen während und nach den Yogasessions in den Regenerationsphasen.
- Zuletzt erfährt z.B. nicht nur bei Sportmedizinern die Verteilung der Hyaluronsäure und deren molekulare Strukturen in der Grundsubstanz (Matrix) ein zunehmendes Interesse. Denn mit speziellen Trainingstechniken lassen sich die Wasserbindungsfähigkeiten und somit die Volumenbildung im Bindegewebe beeinflussen. Eine Straffung des Bindegewebes durch Faszientraining unter Zusatz von ausgesuchten Ernährungsbausteinen also …? Kein Wunder, dass auch die Kosmetikbranche schon ein Auge auf den aktuellen Stand der Studienergebnisse geworfen hat.
Ganz sicher ist: Das Bindegewebe ist trainierbar!
Der 3. internationale Faszienkongress hat vor wenigen Wochen die neuesten Studien diskutiert, mit Ergebnissen, die nicht wenig sensationell sind. Denn die daraus folgenden Konsequenzen stellen viele der bekannten Ansichten von Schmerz und Schmerzentstehung, von der Lokalisation der Sinnesorgane, ja sogar anerkannte biomechanische Bewegungsmodelle infrage.
Ganz sicher ist: Faszien sind trainierbar! Ihr Zustand hat einen wesentlichen Einfluss auf Muskulatur, Körperhaltung, Bewegungsverhalten und Schmerzwahrnehmung. Ihre Stoffwechselaktivität – und damit Vitalität – beeinflusst durch die in ihnen lokalisierten Sinnesrezeptoren sogar Denken und Fühlen.
Und eine verminderte Gleitfähigkeit der einzelnen Faszienschichten sowie der Verlust der Elastizität beschleunigen zweifellos die Prozesse der Degeneration und des Alterns. Kurz: „Wer versteift, der altert schneller!“
Faszien-Yoga arbeitet mit einer Vielzahl effektiver Techniken
Die Studienergebnisse der aktuellen Faszienforschung zeigen, wie das Bindegewebe beeinflussbar ist und welche Techniken die besten Ergebnisse bringen. Wie keine andere Heilund Bewegungskunst zählt Yoga mit seinem ganzheitlichen bzw. systemischen Konzept und seiner Methodenvielfalt an erster Stelle dazu. Denn es gibt nur wenige Trainingstechniken, die das Fasziensystem so direkt ansprechen, wie Yoga.
Im Faszien-Yoga werden alle faszialen Gewebe durch vielseitige, nicht alltägliche Bewegungsmuster, durch intensive Dehnungen – inklusive der neu entwickelten Techniken aus der Sportmedizin – wie auch durch den Einsatz von Hilfsmitteln (Widerstandsobjekte, Faszienrollen, Triggerbällen etc.) intensiv angeregt. Darüber hinaus lässt sich durch eine entsprechende Ernährungsstellung der Zustand des Bindegewebes wirkungsvoll beeinflussen. Und letztlich zeigen die Methoden aus dem Detox-Yogaprogramm, wie das Bindegewebe entschlackt, entsäuert und entlastet wird.
Sieht man die hohe Differenzierung und die Vielfalt an Techniken, die Yoga zur Regeneration und Vitalisierung der faszialen Gewebe zur Verfügung stellt, liegt es nahe, daraus ein praktizierbares, tägliches Übungsprogramm zur „Faszienpflege“ zusammenzustellen. Entweder für den eigenen Bedarf oder für die Vermittlung an Gruppen bzw. in intensiven Einzelsessions.
Uwe-Benno Schmidt
Heilpraktiker, Physiotherapeut, Yogalehrer (BDY/EYU), Heilpraxis in Essen mit Schwerpunkten Stoffwechselerkrankungen, Kinesio- Homöopathie, Yoga- und Physiotherapie
heilpraxis-uwe-schmidt@t-online.de
Literaturhinweis
1) PubMed: Connective tissue: a bodywide signaling network, Helene Langevin; Med Hypotheses. 2006; 66(6): 1074-7. Epub 2006 Feb 17, https://www.ncbi.nlm. nih.gov/pubmed/16483726?dopt= Abstract
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