Übersicht dieser Ausgabe    Alle Paracelsus Magazine

aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 1/2017

Das Messie-Phänomen

Cover

© Vicky De GuineaExpertin Sabina Hirtz im Interview

Sabina Hirtz lebt und arbeitet als Heilpraktikerin für Psychotherapie im Hamburger Umland. Sie ist seit vielen Jahren auf das Messie-Syndrom spezialisiert und hat zwei TV-Formate zum Thema moderiert (Das Messie-Team, Teenager in Not).

 

Liebe Frau Hirtz, wie kam es, dass Sie sich auf das Messie-Phänomen spezialisiert haben?

Neben meiner Praxis habe ich in der ambulanten fachpsychiatrischen Hilfe gearbeitet, dort begegnete mir das Phänomen sehr oft. Die Menschen, die ich betreute, erfuhren keinen Beistand und wurden von ihrem eigenen Umfeld häufig abgewertet. In den meisten Fällen stellte sich heraus, dass ihren Problemen mit einfachen Hinweisen und Unterstützung beim Aufräumen nicht beizukommen war. Immer wieder erlebte ich Situationen, die dringend nach einer Lösung verlangten.

Welche Situationen waren das, und konnten Sie bereits helfen?

Es waren ganz unterschiedliche Situationen, ganz verschiedene Geschichten. Ich wusste auf vieles keine Antwort und beschloss, mich intensiver mit dem Thema zu beschäftigen. Ich habe dann verstanden, dass es beim Messie- Phänomen nur oberflächlich um Schwierigkeiten mit Aufräumen und Ordnung halten geht. Die Unordnung, das Chaos bis zu völlig vermüllten Wohnungen ist nur die äußere Erscheinungsform einer tief in der Seele des Menschen liegenden Unordnung.

Wo hört Unordnung auf und wo fängt Messie sein an?

Die Übergänge sind oft fließend. Nicht jeder unordentliche Haushalt ist ein Messie-Haushalt. Manchmal ist Chaos auf eine vorübergehende Überforderung zurückzuführen. Aber fast immer steckt hinter der Unordnung eine unbewusste Entscheidung, etwas nicht aufzuräumen. Wenn ein gewisser „Leidensdruck“ verspürt und der Wunsch hochkommt, es möge wieder Ordnung sein, sollte man sich befragen, welchen inneren Grund es für die Unordnung geben könnte.

Woran erkenne ich, dass ich ein Messie bin?

© portishead5 - fotolia.comStellen Sie sich folgende Fragen:

  • Verursacht meine Unordnung mir größere Probleme bei der Alltagsbewältigung? Finde ich Dinge nicht wieder, die ich habe und brauche, und muss sie dann neu kaufen?
  • Wie fühle ich mich in meiner Wohnung? Habe ich zu viele Dinge in einem Raum, erfordern meine Lebensumstände mehr Platz? Habe ich z.B. so viele Bücher, dass sie sich in allen Zimmern stapeln? Kann ich noch staubsaugen, ohne überall anzuecken?
  • Lade ich Freunde in meine Wohnung ein oder lieber nicht, weil zu Hause so viel herumliegt? Und schaffe ich dann, was ich mir vornehme, oder zappele ich lieber vorm Fernseher herum?
  • Habe ich Probleme, Entscheidungen zu treffen und zu diesen zu stehen? Tue ich mich mit Routinefragen schwer, z.B. morgens duschen oder nicht?
  • Habe ich Angst, die Post (inkl. Mahnschreiben) zu öffnen?
  • Fliegt mich Panik an, wenn jemand unerwartet vor der Tür steht, der Heizungsableser oder die Nachbarin?
  • Will ich Dinge erledigen und fühle mich dann wie gelähmt und verschiebe es erst einmal?
  • Räume ich ständig auf und merke, dass es doch keine sichtbare Veränderung gibt?
  • Kann ich mich gut von Sachen trennen? Selbst wenn es sich um die alte Jacke mit Loch im Ärmel handelt, die ich schon lange nicht mehr getragen habe?

Je mehr dieser Situationen Ihnen bekannt vorkommen und je mehr Fragen Sie mit „Ja“ beantworten, desto eher wird ein Problem vorliegen, ein Hinweis darauf, vielleicht mal mit einem Therapeuten zu sprechen.

Wo liegt die Ursache für dieses Messie-Phänomen?

Ich konnte feststellen, dass hinter jeder „Messie- Geschichte“, sofern sie nicht hirnorganisch oder altersbedingt war, ein traumatisches Erlebnis steht. Wir müssen wissen: Alle Gefühle, die wir haben, stammen aus unserer Kindheit. Viele Menschen besitzen einen natürlichen „Sammeltrieb“. Bei meinen Klienten ist die Kontrolle über diesen verloren gegangen. Sie koppeln sich an Dinge der äußeren Welt, um nicht auf sich selbst angewiesen zu sein.

Hat das auch was mit mangelnder Selbstliebe zu tun?

Richtig. Viele Betroffene leiden an einer Leere in ihrer Innenwelt. Das Gefühl zu sich selbst ist verloren gegangen. Die Selbstliebe wird nicht mehr gefühlt. Das kann z.B. mit einer sehr rigiden Erziehung zu tun haben. Häufig sehe ich in der Vergangenheit Mobbing- Fälle, andauernde Abwertungen oder sogar Missbrauch in psychischer, körperlicher und/oder sexueller Form. Die Ich-Liebe, die wir brauchen, um ein erfülltes Leben zu führen, ist bei ihnen verschüttet.

Was kann man als Außenstehender unternehmen?

Vermeiden Sie pathologisierende Begriffe. Sie würden Betroffene nur belasten. Es geht hier nicht um Krankheit im Sinne eines klar lokalisierbaren Symptoms, dem medikamentös beizukommen wäre. Es geht um die Würde des Menschen. Oft ist ihr Selbstwertgefühl bereits so gesunken, dass Selbsthass bis Suizidgefahr entsteht. Außenstehende sollten sich bewusst machen, dass Betroffene nicht im Chaos versinken, weil sie keine Lust haben, Ordnung zu halten. Sie können es einfach nicht mehr. Daher ist es wichtig, ihnen zu signalisieren, dass ihre Würde geachtet wird. Dass sie nicht als Kranke behandelt werden, sondern eine Hauptrolle dabei spielen, wenn es um die Klärung der Frage geht, warum ihr Leben aus dem Lot geraten ist. Drängen Sie sie nicht, einen Therapeuten aufzusuchen, die Einsicht, Hilfe anzunehmen, kann nur vom Betroffenen kommen.

Stimmt die Aussage: Innere Ordnung = äußere Ordnung?

Im Prinzip ja. Jemand, in dessen Innerem ein Durcheinander herrscht, wird auch in seiner Lebensgestaltung Mühe haben, eine Struktur zu finden, die ihn gut durch den Alltag kommen lässt. Das innere Chaos gebiert das äußere Chaos. Menschen, deren Psyche aus dem Gleichgewicht geraten ist, haben Probleme, Entscheidungen zu treffen, von kleinen Entschlüssen bis zu den großen Weichenstellungen im Leben.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?

Ich arbeite mit einer Reihe therapeutischer Mittel, es hängt vom Klienten ab. Eine gründliche Anamnese ist wichtig. Zielfördernd sind Vorgehensweisen, die das emotionale Erleben des Klienten anregen. Eine Möglichkeit ist die Analyse unter Hypnose. Sie gibt Hinweise auf entscheidende emotionale Erlebnisse in der Vergangenheit und hilft, wieder Zugang zu verschütteten Ressourcen der Seele zu finden. Es gibt kein bestimmtes Konzept, dass ich bei jedem Klienten durchgehe. Jeder ist einzigartig.

Wie sehen die Erfolgschancen aus?

Entscheidend ist der Wille zum Erfolg des Klienten. Das „Ja, ich will!“ ist seine wichtigste Voraussetzung, denn die Therapie stützt ja den Willen zur Selbsthilfe. Es geht immer darum, „Stärken zu stärken“ und Erfüllung zu erlauben, um das Wollen zu erreichen.

Dieser Ansatz nimmt den Druck vom Klienten. Wir legen die Stärken frei, die im Menschen schlummern, aber unter all dem Seelenchaos zugeschüttet sind.

Wie lange dauert das in der Regel?

Der Weg kann länger oder kürzer sein, leichter oder schwerer, es kommt immer auf das Trauma an, das erlebt wurde.

Gerade am Jahresanfang möchten sich viele von Ballast befreien. Welche Umsetztipps haben Sie für unsere Leser/innen?

Ein Vorgehen in kleinen Schritten ist sinnvoll, also z.B. mit einer Ecke im Zimmer anfangen, sie schön gestalten und sich an ihr erfreuen. Überlegen Sie, was Sie am dringendsten verändern wollen, damit beginnen Sie. Wichtig ist die Zuversicht, den Anfang schaffen zu können, um dann in weiteren kreativen Schritten voranzukommen. Es kann Spaß machen, wenn man aktiv wird, und das ruft eigene innere Heilkräfte wach.

Vielen Dank für das spannende Gespräch!

2017 01 Messie3Hirtz, Sabina:
Der Messie in uns –
Wie wir Wohnung und
Seele entrümpeln,
Rowohlt Verlag, 2016

zurück zur Übersicht dieser Ausgabe
Paracelsus SchulenWir beraten Sie gerne
Hier geht's zur Paracelsus Schule Ihrer Wahl.
Menü