aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 5/2023
Körperübung: Den Nacken befreien
Mit zunehmendem Alter zeigt sich in unserem Körper und für andere erkennbar, wie wir körperlich, geistig und seelisch leben und welche Haltung wir dem Leben gegenüber haben. Mitentscheidend ist, welchen Beruf wir über viele Jahrzehnte ausgeübt haben. So kann z.B. das tägliche Sitzen an einem Schreibtisch über 8 Stunden oder mehr zu einem Rundrücken mit vorverlagertem „Computernacken“ führen. Unsere Haltungen pressen und formen uns mit der Zeit in ein „Zivilisationskorsett“. Im Alltag nehmen wir Menschen zwar die natürlichen Grundpositionen Sitzen, Stehen, Laufen und Liegen ein, aber ergonomisch geschieht dies leider nicht mehr. Sinnbildlich kann man sich die Evolution des Menschen überspitzt so vorstellen, wie es in Abb. 1 dargestellt ist.
Arbeits- und lebensstilbedingte Belastungen des Nackens
Wir Menschen sind im Grunde für abwechslungsreiches Bewegen und nicht stundenlanges Sitzen „konstruiert“. Je nach Vorverlagerungsgrad des Kopfes müssen unsere Hals- und Nackenmuskeln von ursprünglich ca. 6 kg jetzt bis zu 20 kg halten. Was das für die Muskulatur bedeutet, liegt auf der Hand: Sie beginnt zu verspannen und zu verhärten, was zu Schmerzen führen kann. Unser Kopf ist nur dann frei beweglich, wenn er aufrecht auf der Wirbelsäule „sitzt“, und zwar auf Axis und Atlas. Dann wird sein Gewicht von den Knochen getragen, während die Muskeln für die Bewegung zuständig sind.
Die richtige Kopfhaltung kann man daran erkennen, dass sich – von der Seite gesehen – das Ohr senkrecht in der Mitte über der Schulter befindet. Ich als Bewegungstrainerin habe noch kaum einen erwachsenen Menschen gesehen, bei dem dies so ist. Einhergehend mit dem „Mobilfunk-Zeitalter“ stelle ich mit Schrecken zunehmend fest, wie es schon bei Jugendlichen vermehrt zum Phänomen des „Handy-Nackens“ kommt. Eine anatomisch gute Aufrichtung kann ich heute meist nur noch in Filmen oder in Büchern sehen, z.B. in „Körperhaltungen analysieren und verbessern“ von Dr. Christian Larsen.
Wunderwerk Nackenmuskulatur
Kopfbewegungen werden von vielen Hals- und Nackenmuskeln ausgeführt, wovon ich an dieser Stelle nur einige nenne: der Kopfwender (M. sternocleidomastoideus), die Treppenmuskeln (M. scaleni), die Trapezmuskeln (M. trapezius) und die innerste Nackenmuskulatur, die Suboccipital-Muskeln (der Nackenstern, Abb. 2), die für unsere Orientierung zuständig und häufig überfordert sind. So werden z.B. Augenbewegungen, Riechen und Hören von ihnen koordiniert. Durch ständige Kopffehlhaltungen verspannen sie. Außerdem nimmt die Viskosität der genannten Muskeln durch Stress und Fehlernährung leider oftmals mit zunehmendem Lebensalter ab.
Diese Muskeln brauchen ein „Gefühl von Sicherheit“ in Form feiner Mikrobewegungen und Augenübungen, um sich nach und nach wieder entspannen zu können.
Interventionsmaßnahmen
Es ist bekannt, dass aktive Entspannung, Wärme und Massagen Verspannungen teilweise lösen und Beschwerden vorübergehend lindern können. Diese Maßnahmen ändern nichts an der Grundproblematik. Nur ein intensives Umlernen des Vegetativen Nervensystems kann meiner Meinung nach die Muskelanspannung grundlegend lösen. Das ist leider nicht mit einem Mal Üben getan, sondern es bedarf einer Lebensroutine mit einem Werkzeugkoffer verschiedener Methoden, um sein Zivilisationskorsett zu verändern. Hierfür sind die bisher in dieser Rubrik vorgestellten Körperübungen gut geeignet.
Emotionen, die im Nacken sitzen
Geistige Haltungen wie z.B. ständiges Bewerten zeigen sich irgendwann im Gesicht und in der Haltung – schließlich auch darin, wie wir uns fühlen. Wir „lassen die Schultern hängen“, permanent „sitzt etwas im Nacken“, etwas „drückt nieder“, man hat sich „zu viel aufgeladen“ oder „legt sich krumm“, „steht nicht zu sich“, „verbiegt sich“. Wir kennen auch Formulierungen wie „hartnäckig“, „halsstarrig“ oder „einen dicken Hals bekommen“. Es gibt viele Redewendungen, die die Auswirkungen unserer Psyche auf den Körper beschreiben. Was wir über uns denken, zeigt sich in der Körperhaltung. Sind wir aufgrund von negativen Gedanken, Emotionen und anderen Einflüssen nur im Disstress, kann dies zu Nacken-, Schulter- und Rückenschmerzen führen.
Der Nacken- und Halsbereich zeigt intensive Gefühle. Wut und Trotz werden in den Nacken und die seitlichen Halsmuskeln koordiniert. Ein weiterer Aspekt ist die Angst, die sprichwörtlich „im Nacken sitzen“ kann. Die Blockierung des Nackens kann den Energiefluss und damit die Verbindung zwischen Kopf und Körper, zwischen Intellekt und Gefühlen unterbrechen. Man möchte oder muss alles unter Kontrolle halten. Eine starre Wirbelsäule kann ein Anzeichen für geistige Starrheit und mangelnde Flexibilität sein. „Einen Stock verschluckt“ zu haben, steht sinnbildlich für einen kontrollierten Menschen. Die Redewendung spiegelt eine innere Haltung wider, in der „Rückgrat und Haltung“ gezeigt werden muss.
Gerade der M. trapezius, der äußerste Nacken- und Rückenmuskel, ist ein sehr „emotionaler“ Muskel, das zeigt schon seine deutsche Bezeichnung: Kapuzenmuskel. Diese Kapuze ziehen wir uns bei Stress über den Kopf.
Barbara von den Driesch
Wellness- und Bewegungstrainerin, Präsidentin des Fachverbandes Wellness, Beauty und Gesundheit e.V.
vondendriesch@wellness-fachverband.de
Wer sich nicht bewegt, der „verknöchert“
Bewegungen des Nackens wie beim „Ja“ oder „Nein“ sind einfache und gute Mobilisationstechniken. Dies sollte aber bitte in Zeitlupe, also in Form von Mikrobewegungen, ausgeführt werden. Es kann im Liegen oder Sitzen geübt werden. Im Video zeige ich eine Sequenz im Sitzen. Folgen Sie dazu einfach der Anleitung.
Mein Kopf als ein mit Gas gefüllter Luftballon
Die dritte Übung im Video beschreibe ich hier etwas genauer. Oftmals sitzt unser Kopf zu fest auf dem Hals und ist durch Fehlhaltungen am Nacken und Hinterhaupt zu komprimiert. Um dies zu verändern, hilft uns die Vorstellung, dass unser Kopf wie ein mit Gas gefüllter Luftballon nach oben zur Decke strebt. Somit wird Platz am Hinterhaupt und an den obersten beiden Halswirbeln Axis und Atlas geschaffen. Wenn wir dies aktiv ausführen, längt sich auch die ganze restliche Wirbelsäule. Wir nehmen tiefes Ein- und Ausatmen zur Hilfe, um diese Bewegung nach oben zu vertiefen. Wichtig ist hierbei, die Echos jeder Bewegungssequenz zu erfühlen. Denn nur, was wir wahrnehmen, bringt im Laufe der Zeit Veränderung zum Besseren.
Viel Freude dabei, und Kopf hoch!
Ihre Barbara von den Driesch
Das Übungsvideo gibt‘s hier – einfach QR-Code scannen
Fotos: © panco I adobe.stock.com, © vesalii I adobe.stock.com
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